Gemeinwesenarbeit – Chancen, Möglichkeiten und Voraussetzungen
Der vorliegende Text entspricht dem Vortrag am 08. September 2011 in Köln vor Stadtverordneten aller Fraktionen im Rahmen einer Sondersitzung von Sozialausschuss und Jugendhilfeausschuss.
Meine Damen und Herren,
in Köln über Gemeinwesenarbeit zu sprechen, heißt Eulen nach Athen zu tragen, ist doch Köln eine der Städte in Deutschland, in denen GWA schon seit den 60er Jahren betrieben wurde und immer wieder wichtige Impulse von hier ausgingen.
Ich danken Ihnen, dass Sie mir Gelegenheit geben, zu dem Thema zu sprechen, das mich seit 40 Jahren beschäftigt.
Ich werde Ihnen zu folgenden Fragen etwas sagen:
- Was ist Gemeinwesenarbeit?
- Was machen Gemeinwesenarbeiterinnen konkret?
- Weshalb lohnt es sich für eine Kommune, Gemeinwesenarbeit zu fördern?
- Welche Voraussetzungen sollten gegeben sein, damit GWA erfolgreich wird?
Was ist Gemeinwesenarbeit?
Gemeinwesenarbeit ist eine sozialräumliche Strategie sozialer Arbeit im weitesten Sinne, die sich ganzheitlich auf den Stadtteil und nicht pädagogisch auf einzelne Individuen richtet. Sie arbeitet mit den Ressourcen des Stadtteils und seiner BewohnerInnen, um seine Defizite aufzuheben. Damit verändert sie allerdings auch die Lebensverhältnisse und Handlungsspielräume der Bewohnerinnen.
Es geht ihr um die Lebensverhältnisse, Lebensformen und Lebenszusammenhänge der Menschen, auch so, wie diese sie selbst sehen. Das Arbeitsprinzip Gemeinwesenarbeit sieht seinen zentralen Aspekt in der Aktivierung der Menschen in ihrer Lebenswelt. Sie sollen zu Subjekten politisch aktiven Handelns und Lernens werden und zunehmend Kontrolle über ihre Lebensverhältnisse gewinnen.
Dabei darf Gemeinwesenarbeit sich nicht auf die Unterstützung subjektiver Bewältigungsstrategien beschränken, sondern muss die Widersprüchlichkeit prekärer Lebensverhältnisse thematisieren und auf kollektive Strategien der Bewältigung hinarbeiten.
GWA ist eine professionelle Strategie, die systematisch und methodisch vorgeht und ihr Handeln jederzeit fachlich begründen kann. Dabei bedient sich Gemeinwesenarbeit unterschiedlicher Methoden aus der sozialen Arbeit (Beratung, Gruppenarbeit..), der Sozialforschung (aktivierende Befragung, Sozialraumanalyse..) und der Politik (Öffentlichkeitsarbeit, Bürgerversammlungen, Aktionen..) Gemeinwesenarbeit kann aufgrund dieser methodischen Vielfalt auch viele Möglichkeiten für Teilhabe und partizipatives Handeln zur Verfügung stellen, von der aktivierenden Befragung bis hin zur widerständigen Aktion.
GWA integriert aber nicht nur Methoden sondern auch Zielgruppen im Gemeinwesen. Das hat Wolfgang Hinte treffend beschrieben: „"Man sucht nach Kristallisationspunkten für Aktivitäten, an denen sich möglichst viele BürgerInnen beteiligen können. In einem Programm zur Wohnumfeldverbesserung finden sich etwa in der Regel vielfältige Vorhaben, die verschiedene Gruppierungen im Stadtteil anregen, sich zu beteiligen" (Hinte in: Thole 2002,541). GWA sucht zuerst die gemeinsamen Probleme der Menschen. Sie betrachtet sie als Eltern, die gemeinsame Probleme mit dem Schulweg ihrer Kinder haben, als Mieter, die gemeinsam gegen drohende und ungerechtfertigte Mieterhöhungen kämpfen. Sie sieht aber auch die Probleme, die die Menschen im Stadtteil miteinander haben: die Alten mit den Jungen, die Migranten mit den Einheimischen etc.
Mit ihren Analysen, Theorien und Strategien bezieht sich GWA auf ein „Gemeinwesen", d.h. den Ort, wo die Menschen samt ihren Problemen aufzufinden sind. „Ein Gemeinwesen ist ein soziales System, ein Beziehungsgeflecht zwischen Menschen, Gruppen und Organisationen, die in einem umschriebenen Gebiet leben und/oder tätig sind" (Pro Senectude 2009, S. 2). Es geht um die Lebensverhältnisse und Lebenszusammenhänge der Menschen, wie diese selbst sie sehen (Lebensweltorientierung).
GWA hat eine hohe Problemlösungskompetenz aufgrund ihrer lebensweltlichen Nähe zum Quartier. Als sozialräumliche Strategie, die sich auf die Lebenswelt der Menschen einlässt, kann sie genau die Probleme aufgreifen, die für die Menschen wichtig sind, und sie dort lösen helfen, wo sie von den Menschen bewältigt werden müssen.
Die Wiener Gemeinwesenarbeiterin Renate Schnee weist auf einen wichtigen Aspekt hin: „Die Probleme der Menschen sind fast immer komplexer Natur und können nicht erfolgreich in segmentierten Ansätzen gesehen werden, sondern erfordern umfassende Bearbeitungen. Dazu werden von den Gemeinwesenarbeiterinnen ressortübergreifende Kooperationen gesucht und gefördert"( Schnee/Stoik 2010, S.3) Dabei kümmert sich GWA prinzipiell um alle Probleme des Stadtteils und konzentriert sich nicht, wie oft Bürgerinitiativen, auf einen Punkt. Damit schafft sie Kontinuität, auch wenn es in dem einen oder anderen Fall Misserfolge gibt.
Zentraler Aspekt von GWA ist die Aktivierung der Menschen in ihrer Lebenswelt. Sie sollen zu Subjekten aktiven Handelns werden, auch politisch aktiven Handelns, und zunehmend Kontrolle über ihre Lebensverhältnisse bekommen. „GWA schafft Raum und Bedingungen, dass aktive Beteiligung möglich wird. Es braucht Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und Zeit, damit zwischen den Menschen Vertrauen aufgebaut und eine konstruktive Beteiligungskultur entstehen kann"(Pro Senectude 2009, S. 5)
Was machen Gemeinwesenarbeiterinnen konkret?
Wie setzen sie diese Prinzipien praktisch um? Ich kann hier nur einige verallgemeinernde Andeutungen machen, gewonnen aus einer gewissen Empirie.
GWA untersucht das Quartier
Die Gemeinwesenarbeiter denken nicht darüber nach, was die Menschen im Quartier interessieren könnte sondern sie fragen sie direkt: „Was interessiert Euch"? Sie erkunden mit unterschiedlichen Methoden – die bekannteste ist die aktivierende Befragung – den Stadtteil. Dabei erhalten sie auch Informationen, die die klassische Sozialforschung meist nicht liefern kann, die aber für die Entwicklung von angemessenen Strategien wichtig sind: Meinungen, Einschätzungen, Stimmungen. Sie können die Stimmungslage im Quartier herausfinden und dabei auch zu einem Frühwarnsystem für soziale Konflikte werden.
GWA stellt nützliche Dienstleistungen zur Verfügung
Es ist eine Erfahrung der Gemeinwesenarbeit seit vielen Jahren: die Menschen in den Stadtteilen beurteilen soziale Arbeit, soziale Einrichtungen und vor allem die Menschen, die dort arbeiten, nach dem Nutzen, den sie von ihnen zu haben glauben. Es soll nicht nur geredet werden, sondern es soll auch „etwas herauskommen". Sehen die Menschen für sich keinen Nutzen, bleiben sie weg. Also muss GWA nützliche Dienstleistungen anbieten:
- Materielle Ressourcen wie Räume, Trödel, billiges Mittagessen, Fahrten zu Ämtern
- Personell Ressourcen wie Beratung, Betreuung, Qualifizierung, anwaltliche Tätigkeiten, Zuhören, Zeit haben
- Infrastruktur, innerhalb deren man informelle Sozialbezüge aufnehmen und sich auch organisieren kann; Orte, wo die Menschen nicht gleich sanktioniert werden, wenn sie sich mal „daneben benehmen"
- Aufbau, Stützung und Erweiterung von sozialen Netzen und Stützsystemen im Quartier sowie
- Hilfe bei der Problemveröffentlichung, sowohl individuell als auch kollektiv. Viele Menschen müssen es erst wieder lernen, dass man Probleme, mit denen man allein nicht fertig wird, haben und aussprechen darf.
GWA berät und aktiviert Menschen, ihr Schicksal selbstbewusst in die Hand zu nehmen
Aktivierung war „schon immer" das Schlagwort der Gemeinwesenarbeit. In den 70er Jahren baute das Aktivierungskonzept auf der Hypothese auf, dass Menschen, die ihre Lage bewusst wahrgenommen haben und ihre objektiven Interessen erkannt haben, auch für deren Durchsetzung eintreten. Damit war Aktivierung Aufklärung und Bewusstseinsbildung. Zur Enttäuschung vieler Gemeinwesenarbeiter widerlegte aber die Praxis diese Annahme vehement. Es muss wohl mehr dazu kommen, als nur Problemwahrnehmung, um Menschen zum Handeln zu motivieren. Gemeinwesenarbeiterinnen unterstützen Selbsthilfekräfte und Eigeninitiative, tun möglichst nichts ohne oder für die Leute. Tue nichts, was die Menschen nicht selbst tun können, heißt ein Leitsatz guter GWA. Also denken Gemeinwesenarbeiterinnen mit den Menschen darüber nach, was diese selbst zur Verbesserung ihrer Situation tun können und wenden sich erst in späteren Stadien mit betreuenden oder programmorientierten Angeboten an die Bevölkerung. Das ist oft nicht einfach.
Gemeinwesenarbeit ist immer auch Kulturarbeit und fördert Eigentätigkeit und Genuss
Ich gehe davon aus, dass Menschen aller Schichten kulturelle Aneignungs- und Ausdrucksbedürfnisse haben, die auch in der Gemeinwesenarbeit befriedigt werden sollen. Kultur ist kein vom Alltag getrenntes Phänomen, sie gehört in den Zusammenhang der Gestaltung von Lebensverhältnissen. Deshalb sind die kulturellen Aktivitäten – vom Stadtteilfest bis zur Dichterlesung, von der Ausstellung bis zum Stadtteilgeschichtsprojekt – immer auch unverzichtbare Bestandteile der GWA-Projekte. Elemente solcher Kulturarbeit im Stadtteil sind
- Die Ermöglichung kultureller Aneignungs- und Ausdrucksformen benachteiligter Bevölkerungsgruppen und
- Die Verstärkung der Selbsthilfefähigkeit nicht durch Erziehung und Therapie. Sondern über kulturelle Praxis, also nicht von Defiziten ausgehend, sondern an Potentialen ansetzend.
GWA vernetzt Personen und Institutionen
Vernetzung spielt als ein Handlungselement von GWA eine wesentliche Rolle. GWA kann nicht von einer Person allein gemacht werden, und das bedeutet Kooperation und Koordination möglichst vieler Akteure im Stadttteil.
Vernetzung zielt dabei in zwei Richtungen:
- Zum einen gilt es, für die Menschen im Gemeinwesen dessen psychosoziale und soziokulturelle Ressourcen zu entdecken, zu erschließen und gegebenenfalls solche zur Verfügung zu stellen: Räume, wo sie an ihren eigenen Netzen stricken können (Marktcafe in Lohberg), Nachbarn, Gleichgesinnte, Professionelle. Das Gemeinwesen gewinnt eine neue Bedeutung, es wird zum Netzwerk formeller und informeller Beziehungen. Seine Bedeutung besteht für den Einzelnen u.a. darin, dass und inwieweit in ihm Unterstützung und Solidarität zu mobilisieren ist. Hier spielt vor allem die lokale Öffentlichkeit eine Rolle. Die Gemeindepsychiatrie spricht von einer „haltenden Kultur" (Heißler 1996, 189).
- Zum anderen geht es um die Netzwerke der Professionellen. Hier möchte ich unterscheiden zwischen formellen und informellen Vernetzungen. Formelle Vernetzungen sind solche, in denen sich vornehmlich Institutionen zusammenschließen, sich möglicherweise eine Ordnung geben (Trägerkreis, Stadtteilkonferenzen). Diese sind u.a. gut für die Absicherung der Arbeit, bergen aber ebenso die Gefahr der Bürokratisierung, des Kompetenzgerangels und der erbarmungslosen Konkurrenz(besonders wenn's um's liebe Geld geht). Die Mitglieder sind dort auch eher als Vertreter ihres Trägers (Funktionäre) dabei. Effektiver (und ergänzend dazu unverzichtbar) für die unmittelbare Praxis scheinen mir allerdings die informellen Netze zu sein, die über Personen laufen. Sie sind flexibler und variabler. Vernetzende Arbeit wird eher über Personen effektiv, nicht über noch so perfekte Organisationsmuster.
GWA ist ein Teil lokaler Politik
Gemeinwesenarbeiterinnen machen Politik, ob sie es selbst so sehen oder nicht, denn wenn sie die Menschen unterstützen bei ihrem Bemühen, den Stadtteil lebenswerter zu machen, in dem sie wohnen, müssen sie sich mit verschiedenen Interessen auseinandersetzen. Der spezielle Beitrag der Gemeinwesenarbeit zur Stadt(teil)politik besteht – sehr verkürzt gesagt – darin:
- Prozesse anzuregen (Probleme aufgreifen und thematisieren, spezielle Informationen besorgen, an die die Betroffenen nicht so leicht heran kommen, Zeit und Raum für Auseinandersetzungen bieten, wenn nötig auch Mißstände skandalisieren)
- Prozesse zu moderieren ( d.h. Menschen an einen Tisch bringen, Übersetzungsarbeit leisten zwischen unterschiedlichen Sprachebenen, Nachbarschaften stärken, lokale Potenziale mobilisieren usw.
- Prozesse zu unterstützen (Logistik, Beratung, Poltisches Know how, Gremienarbeit, Öffentlichkeitarbeit...)
Man kann das Ganze auch viel kürzer fassen und es mit meinem Kollegen Wolfgang Hinte so formulieren:
„Arbeitsfelder von Gemeinwesenarbeitern/innen sind Wohnquartiere unterschiedlicher Größe, in denen sie respektvoll nach Betroffenheit, Interessen und Ärgernissen der Menschen fragen und immer wieder Aktionen und Dialoge organisieren. In denen geht es darum, die zum Teil widerstreitenden Interessen in einem Quartier zu benennen, sie diskussionsfähig zu machen, die Menschen an einen Tisch zu bringen, ohne dass sie aufeinander einschlagen und zu Aktionen und Projekten zu ermutigen, die im Sinne möglichst vieler Menschen das Quartier verbessern. GWAler/innen lassen sich auf das Leben der Menschen ein, auf ihre Empfindungen, ihre Lebensdefinitionen, ihre Ängste und Handlungsmotive in ihrer ganzen Vielfalt, Brüchigkeit und Widersprüchlichkeit" (Hinte 2011).
Weshalb lohnt es sich für eine Kommune Gemeinwesenarbeit zu fördern?
Wenn nach dem Nutzen einer Maßnahme in einer Kommune gefragt wird, erwartet man schnell eine finanzielle Antwort. Was bringt es ein für den Haushalt? Es gibt nur eine einzige Studie, die dies für GWA zu berechnen versucht. Mein Kollege Achim Trube hat im Auftrag des damaligen Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend „sozioökonomische Analysen zum geldwerten Nutzen von Gemeinwesenarbeit" anhand eines thüringischen Projektes angestellt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Wirkung von GWA nur zum Teil monetär zu erfassen ist (Einnahmezuwächse oder Einsparungen), während andere Effekte sich nicht fiskalisch niederschlagen, z.B. ein gestärktes Selbsthilfebewusstsein in den Köpfen der Akteure. Für die monetäre Seite hat er eine beeindruckende Gemeinwesenrendite errechnet.
Dass sich der Wert der Arbeit im Gemeinwesen finanziell legitimieren muss, ist sinnvoll und bedauerlich zugleich. Sinnvoll ist eine Kosten-Nutzen-Analyse immer dann, wenn es um einen rationalen Einsatz knapper öffentlicher Mittel geht. Bedauerlich – und das meint durchaus kritikwürdig – wird eine solche wirtschaftliche Sichtweise, wenn sie den Blick auf nicht-monetäre Werte der Arbeit im Gemeinwesen verstellt. Ich werde einige Punkte anführen, wo GWA einen nur schwer in Geld auszudrückenden Nutzen für die Kommune hat.
Gemeinwesenarbeit kann als Frühwarnsystem soziale Konflikte frühzeitig erkennen
GWA hat mit ihrer Untersuchungsarbeit allerdings nicht zuerst das Ziel, Informationen für die Verwaltung zu erheben – das können Sozialforscher wahrscheinlich besser. Aber Gemeinwesenarbeiterinnen können mit Methoden, wie der aktivierenden Befragung, die Potentiale des Stadtteils erfassen, die dem traditionellen Sozialforscher wahrscheinlich verschlossen bleiben. Sie können „die Themen, die die Menschen beschäftigen, direkt von ihnen erfahren, um zu verhindern, dass die Arbeit lediglich auf Vermutungen und/oder Interpretationen der Professionellen ausgeführt wird" (Lüttringhaus/Streich 2004, 103). Das kann nützlich sein für die Erneuerung und Verbesserung von bestehenden Dienstleistungen im Stadtteil. Besondere Chancen liegen in sogenannten „Problemgebieten". Wenn man sich konsequent auf die Blickwinkel der Bewohnerinnen einlässt, erfährt man ganz neue Perspektiven über Charakter und Hintergründe der Probleme und kann Möglichkeiten zu ihrer Lösung finden, die oft außerhalb der üblichen politischen oder verwaltungsmäßigen Wege liegen. Gemeinwesenarbeiterinnen erfahren so oft auch viel früher als die Verwaltung, wo etwas nicht stimmt, wo sich Konflikte anbahnen.
GWA verbessert die Kommunikation zwischen Bürgern, Verwaltung und Politik und dient zum Mittler zwischen ihnen
Sie macht die Bürger nicht sprachlos, in dem sie anwaltschaftlich für sie spricht und agiert – auch das kann mal nötig sein -, sondern befähigt sie, ihre Interessen zu erkennen und ihre Anliegen zu vertreten. Gemeinwesenarbeiter übersetzen die Sprache der Menschen in benachteiligten Vierteln auch mal ins Bürokratendeutsch und verdeutlichen die Anliegen der Verwaltung, wenn diese sich auf die Sprache der Leute nicht einlassen will. So entsteht in benachteiligten Quartieren eine gleiche Augenhöhe von Bürgerschaft, Politik und Verwaltung bei der Aushandlung der Probleme. Das haben wir in unseren Projekten oft genug erlebt in Bürgerversammlungen oder gemeinsamen Planungssitzungen. Natürlich können Rechtsstreitigkeiten und Bürgerproteste unvermeidbar sein, sie sind aber umso erfolgversprechender, je überzeugender im Vorhinein die Kooperationsbereitschaft deutlich gemacht wird. Das setzt allerdings Offenheit auf allen Seiten voraus.
GWA aktiviert die Bevölkerung, und das ist mehr als Beteiligung
In der Kommunalpolitik wird oft die Inaktivität der Menschen besonders in den benachteiligten Stadtteilen beklagt. Wir haben festgestellt – und Untersuchungen belegen das – dass die oft beklagte Inaktivität der Menschen durchaus auf mehr oder weniger bewussten Entscheidungen beruht. Oder soziologisch gesagt: „...dass Menschen sich nur dann in kollektiven Aktionen engagieren, wenn sie nach einem Vergleich mit den zu erwartenden Kosten und Nutzen denkbarer Handlungsalternativen zu dem Schluss kommen, dass die Art und Handlung ausreichenden Gewinn verspricht" (Franz 1989, 116).
Dabei steht auf der Kostenseite die nicht selten aus Erfahrungen gewonnene Einschätzung, dass dies Aktivität so unmittelbar mit ihnen nichts zu tun habe, oder die Angst vor dem Misserfolg („es kommt ja wieder nichts dabei raus"). Auf der Nutzenseite steht – ebenfalls durch Erfahrungen gestützt – der zu erwartende Erfolg, das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer aktiven Gruppe, die Anerkennung anderer, nicht selten bedeutungsvoller Menschen.
Wenn GWA vor der Aufgabe der Aktivierung steht, muss sie das berücksichtigen. Da helfen die üblichen Appelle an die Verantwortung für den Stadtteil oder Hinweise auf dessen Probleme wenig, es geht vielmehr darum, Einfluss auf die Kosten-Nutzen-Analyse der Menschen zu nehmen, z.B. indem man Gelegenheit zum lustvollen Miteinander bietet, indem die Gemeinwesenarbeiter/innen Informationen zur Verfügung stellen, Mut machen, Erfolge herausstellen und vor allem einen langen Atem haben, weil immer wieder neue Angebote zur Aktivierung gemacht werden müssen und das Scheitern erster Versuche nichts über den Erfolg langfristiger Ansätze aussagt.
GWA hilft bei der Integration von Generationen, Milieus und Ethnien
Wenn immer wieder von einer „Krise der Städte" geredet wird, ist vor allem eine Integrationskrise gemeint (vgl. Häußermann 2008, 182ff.) Ökonomische, kulturelle und ethnische Fragmentierungen der Bevölkerung drohen nicht mehr in einem übergreifenden städtische Zusammenhang aufgefangen werden. Gemeinwesenarbeit hat nach Häußermann dafür gesorgt, dass ausgegrenzte Gruppen nicht abgehängt werden. Sie findet verbindende Themen z.B. die Erziehung der Kinder, die Situation in den Wohnungen, Verkehrsprobleme, die die Menschen zusammenbringen, aber auch auf den Festen begegnen sich Menschen unterschiedlicher Milieus. Sie können in den gemeinsamen Aktivitäten die Erfahrung der sozialen Zugehörigkeit machen. Das sind kleine, aber notwendige Schritte, zu denen die Gemeinwesenarbeit ermutigt und bei denen sie hilft.
GWA dient der Infrastrukturerhaltung im Quartier
Vor allem im Nahbereich ihrer alltäglichen Lebenswelt haben die Bewohner/innen häufig sehr konkrete Vorstellungen, wie Gebäude, das Wohnumfeld, die öffentlichen Plätze gestaltet, verbessert und genutzt werden sollen. GWA fördert das Mitdenken und Mitplanen – ich könnte Ihnen aus Kassel und Dinslaken gute Beispiele erzählen, aber die Zeit lässt das nicht zu. Oft kommt es auch zur praktischen Mitarbeit z.B bei der Gestaltung von Gärten und Spielplätzen, es gibt Beispiele auch von Eigenarbeit bei der Wohnungsmodernisierung. So leisten Bewohner viele Beiträge zu Erhaltung der Infrastruktur, allerdings auch durch ihren Kampf um den Erhalt von Institutionen im Stadtteil.
GWA fördert die Nutzung und Mitverantwortung der sozialen, pädagogischen, Kulturellen und kommunikativen Einrichtungen und Dienste im Stadtteil
Dazu müssen die erforderlichen Einrichtungen nah erreichbar sein, sie müssen den Bedürfnissen der Bewohner/innen entsprechen. GWA sorgt dafür, dass sie mit den Nutzerinnen zusammen entwickelt und verbessert werden. Durch die Vernetzung der Einrichtungen z.B. der Kindertagesstätten, Schulen und anderer Bildungseinrichtungen im Stadtteil gibt es die große Chance, dass Eltern aus verschiedenen Kulturen und Milieus dort zusammen kommen, sich treffen, sich kennen und austauschen lernen und diese Einrichtungen mitgestalten können
Sie unterstützt die Menschen, sich und ihren Stadtteil öffentlich zu präsentieren
Die Berichte der lokalen Presse verstärken nicht selten die „Abwärtsdynamik" eines Stadtteils. Wenn die „Aufwärtsdynamik" in Gang gesetzt werden soll, dann geschieht das aus dem Stadtteil heraus. Die Impulse und Anregungen aus dem Stadtteil müssen öffentlich gemacht werden. Viele hervorragende Stadtteilzeitungen tun das ebenso wie andere Methoden der Öffentlichkeitsarbeit. Gleichzeitig dient die Öffentlichkeitsarbeit im Stadtteil dazu, das Image des Stadtteils und sein Bild in der Gesamtstadt zu verbessern. Voraussetzung dabei ist die Mitwirkung vieler Akteure: Kirchen, Sportvereine, lokale Wirtschaft und besonders Bewohner/innen.
Welche Voraussetzungen sollten gegeben sein, damit Gemeinwesenarbeit erfolgreich wird?
Ich könnte Ihnen noch mehr über die Vorteile von GWA für eine Kommune erzählen, aber ich will meinen Vortrag damit schließen, dass ich auch die Bedingungen nenne, unter denen GWA erfolgreich sein kann. Es sind eigentlich Binsenweisheiten, aber es gibt immer wieder Menschen in Politik und Verwaltung, die das nicht sehen wollen.
GWA ist eine professionelle Strategie. Deshalb kann sie ohne hauptamtliches Personal nicht betrieben werden. Hauptamtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der GWA verstehen sich nicht als Leiter/innen, sondern als Berater, Initiatoren und Begleiter der Projekte. Sie unterstützen die Bewohnerinnen in ihrem Engagement und qualifizieren sie für ihre vielfältigen Aktivitäten. Sie sorgen für Qualität und Kontinuität der Arbeit. Sie halten vor allem Kontakt zu anderen Organisationen und Institutionen, akquirieren Mittel (eine Aufgabe, die immer mehr Gewicht bekommt), moderieren die Gruppen bei Konflikten. Nach den Erfahrungen aus vielen Projekten brauchen auch die selbstorganisierten (selbsttragenden) Gruppen „je nach den vorhandenen Ressourcen und je nach Komplexität der vorgefundenen Situation mehr oder weniger Unterstützung im Sinne von Organisationsberatung"(Berger/Richers 159), wie die Gemeinwesenarbeiter aus einem Projekt schreiben, das auf dem Weg der selbstbestimmten Gruppen schon sehr weit gegangen ist.
Die Arbeit der Hauptamtlichen bedarf der Kontinuität und Langfristigkeit mit möglichst den gleichen Bezugspersonen, die Vertrauen und stabile Beziehungen im Stadtteil aufbauen. Sie müssen auch eine gewisse Unabhängigkeit haben, die Sicherheit, dass ihnen der Träger in Konflikten den Rücken stärkt.
Wichtig sind auch die niederschwelligen Raumangebote. Niederschwellig – das heißt zum einen: sie müssen leicht erreichbar sein und an muss gern hinein gehen. Lage und Ausstattung müssen passen. Zum anderen: es wird nichts erwartet, keine Leistung, keine Frage, man soll nur herein kommen und wird gern gesehen. Ohne einen solchen Raum, der im wahrsten Sinne Ermöglichungsraum ist, ist es schwer, erfolgreiche GWA zu machen.
Und die GWA-Projekte brauchen Zeit. Die Zeit für Lernen und Erfolge im Stadtteil ist nicht identisch mit politischen Abläufen (z.B. Legislaturperioden) oder Förderzeiträumen. Das macht vielen Projekten Schwierigkeiten, weil sie dann unter Erfolgs- und Legitimierungszwänge gestellt werden, denen sie nicht nachkommen können. Man kann sie auch nicht so ohne weiteres vergleichen: was in Dinslaken klappt, muss in Köln nicht klappen, was in Köln gut läuft, kann für Kassel völlig falsch sein. Hier gilt das Prinzip der lokalen Richtigkeit.
Ich hoffe, dass ich Ihnen ein wenig die Gemeinwesenarbeit nahe gebracht haben konnte, so dass Sie die große Tradition Kölner Gemeinwesenarbeit weiterhin fördernd begleiten werden.
Literatur:
- Arbeitsgruppe Gemeinwesenarbeit Pro Senectude: Qualitätsleitfaden für Gemeinwesenarbeit von Pro Senectude. http://www.gwa-netz.ch/div/Qualitaet_GWA_PS_dt.pdf(2.11.2009)
- Tilman Berger/Hille Richers: Aufbau von selbsttragenden Bewohnerorganisationen in der Stadt – wie kann das gehen? In: Stefan Gillich (Hrsg.): Gemeinwesenarbeit – eine Chance der sozialen Stadtentwicklung, Gelnhausen 2002, 157 - 171
- Peter Franz: Stadtteilentwicklung von unten. Zur Dynamik und Beeinflussbarkeit ungeplanter Veränderungsprozesse auf Sadtteilebene. Basel, Boston 1989
- Matthias Heißler: Enthospitalisierung – eine unendliche Geschichte, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 143/1996/189
- Hartmut Häußermann; Dieter Läpple; Walter Siebel: Stadtpolitik. Frankfurt am Main: Suhrkamp: 2008
- Wolfgang Hinte: Von der Gemeinwesenarbeit über die Stadtteilarbeit zum Quartiermanagement, in: Werner Thole (Hrsg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch, Opladen 2002, S. 541
- Wolfgang Hinte: Gemeinwesenarbeit (GWA) – Stadtteilarbeit http://www.buergergesellschaft.de/politische-teilhabe/modelle-und-methoden-der-buergerbeteiligung/planungsprozesse-initiieren-und-gestaltend-begleiten/gemeinwesenarbeit-gwa-stadtteilarbeit/106195/ (13.8.2011)
- Maria Lüttringhaus/Angelika Streich: Das aktivierende Gespräch im Beratungskontext – eine unaufwendige Methode der Sozialraum- und Ressourcenerkundung, in: Stefan Gillich (Hrsg.): Gemeinwesenarbeit: Die Saat geht auf, Gelnhausen 2004, S. 102 - 108
- Renate Schnee/Christoph Stoik: Gemeinwesenarbeit – Definitionen und Begriffe. http://www.telesozial.net/cms/uploads/tx_kdcaseengine/Skriptum_Gemeinwesenarbeit_Definitionen_und_Begriffe_01.pdf (30.3.2010)