Formen und Reichweite lokaler Ökonomien
Kontakt:
Interdisziplinäre Forschungsgruppe Lokale Ökonomie an der Technischen Universität Berlin - Sekr. FR 4-8, Franklinstr. 28-29, 10587 Berlin, Tel. 314-26740 - im Technologie-Netzwerk Berlin e. V.; eMail: karl.birkhoelzer@tu-berlin.de; Homepage: http://www.tu-berlin.de/fb2/medho/lokoek1.html
Inhalt:
- 1. Beschreibung und Abgrenzung des Gegenstands
- 2. Entstehungsgeschichte und -formen lokaler Ökonomien
- Anhang
1. Beschreibung und Abgrenzung des Gegenstands
1.1 Ansätze lokalökonomischer Forschung
Der Begriff "Lokale Ökonomie" ist aus Großbritannien übernommen. Er wurde dort Anfang der 80er Jahre im Zusammenhang kommunal- und regionalpolitischer Initiativen gegen Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Niedergang geprägt, vor allem im Rahmen der "local economic strategies" des Greater London Council (GLC) und anderer Metropolitan Councils, die jenen ersten Versuch einer eigenständigen kommunalen Wirtschaftspolitik als Alternative zum "hands off approach" des Thatcherismus bekanntlich mit ihrer politischen Auflösung, der sog. "abolition" bezahlen mussten (BENINGTON 1986; BIRKHÖLZER U.A. 1991; LORENZ 1995).
Trotz dieses scheinbaren Misserfolgs haben sich die lokalökonomischen Strategien in Großbritannien kontinuierlich weiterentwickelt, sowohl auf kommunalpolitischer Ebene, z.B. mithilfe des Centre for Local Economic Strategies (CLES) in Manchester unter Leitung des früheren Chefökonomen des GLC, Michael WARD (CURS 1984-1986; LOCAL WORK), als auch im wissenschaftlichen Bereich, vor allem im Umkreis der Zeitschrift "LOCAL ECONOMY", die von Sam AARONOVITCH und dem von ihm begründeten Local Economy Policy Unit, South Bank University London, herausgegeben wird (AARONOVITCH U.A. 1996; CAMPBELL 1990; EISENSCHITZ/GOUGH 1993; GEDDES/BENINGTON 1992; etc.).
Mitte der 80er Jahre wurde der Begriff "Lokale Ökonomie" von der gleichnamigen Forschungsgruppe erstmals in Deutschland in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt. Obwohl es sich - zumindest in Deutschland - um wissenschaftliches Neuland handelte, hat es die Technische Universität Berlin ermöglicht, durch die Förderung eines Interdisziplinären Forschungsprojektes (IFP): "Lokale Ökonomie. Exploration und Evaluierung lokaler Strategien in Krisenregionen" (1988 - 1992) erste Erkenntnisse zu gewinnen über Entstehungsgeschichte, Verlauf und Wirkungsweise lokalökonomischer Ansätze, wie sie seit mehr als 20 Jahren in europäischen Krisenregionen als praktische Versuche ökonomischer Selbsthilfe entstanden sind (AARONOVITCH U.A. 1994; BIRKHÖLZER U.A. 1990 u. 1991; IFP LOKALE ÖKONOMIE 1993).
Insofern stand am Beginn lokalökonomischer Forschung kein theoretisches Konstrukt, sondern die empirische Untersuchung und vergleichende Evaluierung der Praxis sozialökonomisch orientierter Bewegungen in Krisenregionen, ausgehend von der Hypothese, dass die Krise auch als Chance für einen Neubeginn, für eine eigenständige lokale (oder regionale) wirtschaftliche Entwicklung begriffen werden kann (BIRKHÖLZER 1991). Dabei wurden zur Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes die folgenden Elemente als für eine lokalökonomische Struktur konstitutiv angenommen (BIRKHÖLZER U.A. 1988 u. 1990):
- die Schaffung neuer Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten am Ort (in der Region),
- die Mobilisierung der endogenen Potentiale, insbes. der brachliegenden Kenntnisse und Fertigkeiten der Bevölkerung,
- die Orientierung auf den Binnenmarkt, insbesondere die un- oder unterversorgten Bedürfnisse und damit an der (Wieder-)Herstellung lokaler (oder regionaler) Wirtschaftskreisläufe.
James Robertson hat dies aus Anlaß des Alternativen Wirtschaftsgipfels in London (ROBERTSON 1985b) auf die gültige Formel gebracht: "local work for local people using local resources"
In Anwendung der o.g. operationalen Definition ergab sich als erster Befund, dass lokalökonomische Strategien in größerer Breite und Vielfalt als bisher angenommen und unter den verschiedensten Bezeichnungen in Erscheinung treten. Deren Systematisierung und theoretische Durchdringung ist zwar noch keineswegs abgeschlossen, dennoch beginnen sich die Begriffe "local economic development" bzw. "Lokale Ökonomie" als Sammelbezeichnung für die Gesamtheit aller auf die Entwicklung eines Ortes (einer Region) bezogenen wirtschaftlichen Aktivitäten national bzw. international durchzusetzen.
Eine der Bedeutung des Gegenstands angemessene Forschungslandschaft ist zweifellos erst im Entstehen begriffen. Andererseits hat das Forschungsgebiet in den vergangenen 10 Jahren eine außerordentlich dynamische Entwicklung durchlaufen, die sich von Beginn an - scheinbar paradox - sowohl durch eine internationale Betrachtungsweise und Zusammenarbeit, als auch durch einen überregionalen Erfahrungsaustausch auszeichnet. Sichtbarster Ausdruck sind eine Vielzahl neu entstandener wissenschafts- und praxisbezogener Netzwerke, wie z.B. das 1992 gegründete "Europäische Netzwerk für ökonomische Selbsthilfe und lokale Entwicklung" (EUROPÄISCHES NETZWERK/STIFTUNG BAUHAUS DESSAU 1996).
Obwohl ökonomische Prozesse im Zentrum der Betrachtung stehen, ist "Lokale Ökonomie" eine interdisziplinäre Forschungsrichtung. Neben Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern sind v.a. Stadt-, Regional- und Landschaftsplaner, aber auch Ingenieur- und Naturwissenschaftler, sowie Erziehungs- und Politikwissenschaftler am Forschungsprozess beteiligt. Da "Lokale Ökonomie" - wie gesagt - die Gesamtheit aller auf den Ort (die Region) bezogenen wirtschaftlichen Aktivitäten - die formellen wie informellen, die produktiven wie reproduktiven - zu erfassen sucht, folgt der Forschungsansatz einer integrativen, auf den Raum bezogenen Sichtweise, welche insbesondere die Trennung in "rein" wirtschaftliche, soziale und ökologische Sichtweisen aufzuheben versucht. Sie entspricht damit der Forderung nach "sustain-ability", womit - zumindest im englischsprachigen Kontext - die Fähigkeit zu dauerhaft tragfähigem Wirtschaften gemeint ist (ALEXANDER 1993; DALY/COBB 1990; DOUTHWAITE 1992; EKINS 1986; HOOGENDIJK 1991; ROBERTSON 1985;).
Demgegenüber pflegt die traditionelle Wirtschaftswissenschaft eine verkürzte und häufig "ökonomistische" Sichtweise, welche die einzelwirtschaftliche Rentabilität zum Maßstab allen ökonomischen Handelns macht.
"Lokale Ökonomie " ist insofern eher zwischen betriebswirtschaftlicher und traditionell volkswirtschaftlicher (besser: nationalökonomischer) Betrachtungsweise anzusiedeln. Sie bezieht sich stets auf einen geographisch oder kulturell abgrenzbaren Raum mit historisch gewachsener Struktur und Identität, d.h. im weitesten Sinn auf ein "Gemeinwesen", sei es eine Stadt, ein Stadtteil, ein Dorf oder eine Region (BIRKHÖLZER 1994a; PEARCE 1993).
Dagegen bevorzugen andere Konzepte eine eher sektorale Betrachtungsweise, wie z.B. "Soziale Ökonomie" (DEFOURNY/MONZON 1992; DUSSART/THIRY 1993), "Gemeinwesenökonomie" (EV. AKADEMIE LOCCUM 1994; PEARCE 1993) und "Dritter Sektor" (ANHEIER/SEIBEL 1990, ISTR INSIDE, PERRI 6/VIDAL 1994. etc.).
Schließlich werden die sozialräumlichen ebenso wie die sektoralen Ansätze ergänzt durch wertorientierte - bzw. um einen unmodernen Begriff zu benutzen - "moralische" Konzepte von Ökonomie, wie "Socially Useful Economy" (BODINGTON/GEORGE/MICHAELSON 1986; COOLEY 1982; LORENZ 1995), "èconomie solidaire" (REAS NEWS; ROUSTANG ET AL 1996), "economia popular" (IRED NORD 1994a; KORTEN 1990; RAZETO 1994;) oder "Reproduktionsökonomie" aus feministischer Sicht (BENNHOLDT-THOMSEN 1997; MIES/SHIVA 1993).
Dabei handelt es sich zweifellos nicht um sich gegenseitig ausschließende Konzepte, sondern um - entsprechend dem historisch, kulturell und politisch verschiedenen Hintergrund der Akteure - differenzierte Ansätze, die sich vielfältig überschneiden oder ergänzen, worauf weiter unten näher eingegangen wird.
1.2 Lokalökonomische Praxis in Europa
Es kann hier sicher nicht darum gehen, die Breite und Vielfalt lokalökonomischer Praxis in Europa auch nur annähernd zu beschreiben. Hinzu kommt ein methodisches Problem: Die Beispiele sogenannter "good practice" sind - gerade wenn sie wirklich gut sind - selten unmittelbar auf andere Orte und Regionen übertragbar, weil ihre Qualität i.d.R. darauf beruht, optimal an die jeweiligen besonderen Bedingungen des Ortes (der Region) angepaßt und eben nicht austauschbar zu sein (IFP LOKALE ÖKONOMIE 1993).
Andererseits liegt das Hauptinteresse der empirischen Analyse und vergleichenden Evaluierung gerade in der Frage der Übertragbarkeit. Sie läßt sich unserer Meinung nicht auf der konkreten Handlungsebene beantworten: dort sind - von Ausnahmen abgesehen - für jeden Ort (jede Region) eigene, an die konkreten Bedingungen angepaßte Lösungen zu erarbeiten. Was übertragen oder aus den Erfahrungen anderer gelernt werden kann, sind statt dessen die handlungsanleitenden Prinzipien, Instrumente und Verfahren, die einem Erfolg oder auch Misserfolg zugrunde liegen. Insofern weisen die Forschungsergebnisse notwendigerweise einen höheren Abstraktionsgrad auf, als den potentiellen Akteuren im allgemeinen lieb ist. Es kann aber nicht oft genug davor gewarnt werden, erfolgreiche Beispiele einfach nur nachahmen oder quasi verpflanzen zu wollen.
Mit dieser Einschränkung versehen, wollen wir auch die nachfolgenden Beispiele nur als idealtypisch verstanden wissen, womit bestimmte charakteristische Elemente und Vorgehensweisen lokalökonomischer Praxis illustriert, aber nicht in ihrer weitaus komplexeren Alltagsrealität abgebildet werden sollen. Letzteres ist nur möglich durch gründliche Fallstudien "vor Ort", auf welchen allerdings auch die nachfolgenden Ausführungen beruhen:
Unsere Nachforschungen begannen 1985 mit dem bis heute flächenmäßig größten und möglicherweise politisch bedeutsamsten lokalökonomischen Experiment, dem Programm "Jobs for a Change" des Greater London Council (1981 - 1986):
"Are Londoners so well housed; are their homes so warm and so well furnished, are Londoners so well clothed and so healthy that there is nothing for 400,000 unemployed people to do?"
Diese Kernsätze aus dem Wahlprogramm 1981 könnten so oder anders am Beginn jeder lokalökonomischen Initiative gestanden haben. Bis heute beispielhaft ist die Art und Weise, wie auf diese Frage geantwortet werden sollte: In einem mehrjährigen Untersuchungsprozess, an dem von Jahr zu Jahr mehr Bürger beteiligt wurden, sind systematisch alle Bereiche des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens der Stadt nach Defiziten und unbeschäftigten Ressourcen durchforstet worden. Das Ergebnis, die "London Industrial Strategy", ist ein einzigartiges Dokument, wonach die Stadt innerhalb eines Zeitraums von 5 Jahren aus eigenen Mitteln ca. ½ Million neuer Arbeitsplätze zu schaffen gedachte. Letztlich gescheitert ist dieses Projekt aber nicht am politischen Eingriff von oben, so brutal und gleichzeitig raffiniert er auch ausgeführt worden sein mag, sondern an der mangelnden Verankerung dieser letztlich doch von oben her unternommenen Politik in der "civil society". Aufgeteilt in 33 Stadtbezirke ist der ursprünglich stadtweite Konsens in wenigen Jahren an den Interessengegensätzen der Bezirkspolitiker zerbrochen (ASTA TU 1992; BIRKHÖLZER U.A. 1991; LORENZ 1995; MACINTOSH/WAINWRIGHT 1987):
Andererseits war die an der Basis, in den "communities" einmal inganggesetzte Bewegung nicht mehr zu bremsen wie z.B. die "Campaign for Communities and Homes in Central London (ChiCL)". Sie hat eine Reihe bedeutender "Community Development Trusts" hervorgebracht, deren bekanntester, die "Coin Street Community Builders (CSCB)", eine der begehrtesten Innenstadtflächen in selbstverwaltete Sozialwohnungen, erschwingliche Gewerbeflächen fürs lokale Gewerbe, Parks sowie andere Gemeinschaftseinrichtungen verwandelt hat - Ergebnis eines über zehnjährigen Kampfes, geführt von einem Bündnis von über 50 lokalen Bürgerorganisationen (BIRKHÖLZER U.A. 1991; TUCKETT 1988 etc.). Allerdings ist das Bewirtschaften von Filetstücken die Ausnahme; i.d.R. werden eher wertlose, brachliegende oder heruntergekommene Flächen oder Gebäude mit wenig Kapital und viel Eigenarbeit instandgesetzt, z.B. ehemalige Hafen-, Industrie- und Verkehrsanlagen (Kings Cross Railway Lands Campaign; North Kensington Amenity Trust; Community Economy Ltd). (COOPER/EVANS/SNAITH 1991; KNIGHT/HAYES 1981 u. 1982; MACFARLANE 1989; MCMICHAEL/LYNCH/WIGHT 1990)
Kern dieser Initiativen ist stets eine die Nachbarschaft oder den Stadtteil repräsentierende Gruppe aktiver Bürger, welche in die "community" hinein wirkt, um die dort verborgenen Ressourcen an Fähigkeiten, Arbeit und Kapital für die Entwicklung des Gemeinwesens (den sog. "community benefit") zu mobilisieren.
Ihren Ursprung hat diese Strategie allerdings in den peripheren Armutsregionen im irischen Nordwesten, wo ein katholischer Priester das erste Gemeinwesenunternehmen, die "community co-operative" von Glencolumcille, Co. Donegal, begründete (MCDYER 1982). Nachahmer fanden sich zunächst in den schottischen Highlands and Islands, z.B. in Papa Westray, der nördlichsten der Orkney-Inseln: Als eines Tages der einzige Laden der Insel sowie das Fährboot aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt wurden, standen die Bewohner vor der misslichen Lage, von der übrigen Welt abgeschnitten zu sein und - wie in anderen vergleichbaren Fällen - die Insel und damit die bisherige Existenz aufgeben zu müssen. Stattdessen gründeten die ca. 150 Einwohner nach irischem Vorbild eine Inselgenossenschaft mit dem Ziel, Laden und Fährboot gemeinschaftlich weiter zu betreiben. Dies war nur möglich, wenn die Mitglieder der Genossenschaft bereit waren, auch unbezahlte Arbeitszeit in das Unternehmen zu investieren. Mit der Zeit begann sich Arbeit wieder in Kapital zu verwandeln und aus den Überschüssen konnten Angestellte für Laden und Fährboot (wieder) bezahlt werden. Es war zwar immer noch ein bestimmter Anteil an unbezahlter Eigenarbeit zuzuschießen, aber das Unternehmen machte Fortschritte. In diesem Stadium kamen die Bewohner auf die Idee, nach demselben Muster neue Aufgaben in Angriff zu nehmen: die Umwandlung leerstehender Farmarbeiterhäuser in eine Jugendherberge, danach in ein Familienhotel, die Pflege archäologischer und anderer Denkmäler, die Einrichtung eines Vogelschutzzentrums und parallel dazu den Aufbau eines bescheidenen Tourismusgewerbes. Inzwischen hat sich die Insel einen kleinen Wohlstand geschaffen und sogar die Schule wiedereröffnet und einen Lehrer angestellt (ACE-HI, COMMUNITY ENTERPRISE; CBS NEWS).
Das Beispiel steht für viele, nicht nur für ländliche, sondern auch für städtische Krisengebiete: Im Glasgower Stadtteil Govan hatte der Niedergang des britischen Schiffsbaus die Bevölkerung um mehr als die Hälfte dezimiert und die lokale Infrastruktur weitgehend zerstört. Ein aus dem 1. Armutsprogramm der Europäischen Gemeinschaft gefördertes "Local Enterprise Advisory Project (LEAP)" begründete das erste großstädtische "community business", mit dem Ziel, eine leerstehende Schule in ein lokales Gewerbe- und Entwicklungszentrum zu verwandeln. Der Name "Govan Workspace Ltd." war gleichzeitig Programm: Den Arbeits- und Hoffnungslosen sollte zuallererst ein Raum zum Arbeiten (workspace) geschaffen werden, zur Entfaltung von Fähigkeiten, zur Entwicklung von Ideen und zur Gründung eigener Betriebe - sei es als private Existenzgründer, als Genossenschaft oder als neues "community business". Die so Geförderten übernahmen die Verpflichtung, im Erfolgsfall neuen "community businesses" beim Aufbau - auch materiell - behilflich zu sein. Allein in Schottland sind auf diesem Wege Hunderte solcher "community enterprises" entstanden, die sich als neuer, gemeinnütziger Wirtschaftssektor empfinden (BUCHANAN O.J.; PEARCE 1984 u. 1993; CBS NEWS; LEAP 1984; NEW SECTOR).
Gemeinwesenunternehmen der beschriebenen Art haben sich inzwischen über den gesamten englischsprachigen Raum verbreitet, insbesondere auch in Kanada und den USA, wo bereits 1965 im New Yorker Stadtteil Bedford Stuyvesant (Brooklyn) die erste "community development corporation" entstand (MOHRLOCK/NEUBAUER/NEUBAUER/SCHÖNFELDER 1993; SHIFFMAN u. RICHMAN in: EV. AKADEMIE LOCCUM 1994).
In den romanischen bzw. südeuropäischen Ländern hat die Genossenschaftsbewegung trotz aller vergleichbaren Kommerzialisierungstendenzen ihren sozialreformerischen Impetus nie ganz verloren. Die Erfolgsgeschichte von Mondragon im spanischen Baskenland (MORRISON 1991) begann bereits in den 40er Jahren, als ein "Arbeiterpriester" eine lokale Technische Hochschule eröffnete, die zum Ausgangspunkt einer funktionierenden regionalen Ökonomie wurde, aufgebaut aus Netzwerken kooperierender Genossenschaften mit eigener Infrastruktur und eigener Finanzwirtschaft ("Caja Laboral Popular"). In Italien entstanden in der Folge der Auflösung geschlossener psychiatrischer Anstalten sog "soziale Kooperativen", die sich zunächst dem Aufbau einer "Gemeindepsychiatrie", später allgemein der Integration von Ausgegrenzten oder Benachteiligten zuwandten. Ihr Credo ist die Ablehnung von Almosen; sie setzen auf die Wiedergewinnung der Würde und der gesellschaftlichen Integration durch sinnvolle und menschenwürdige Arbeit. Dabei handeln sie als gemeinnützige wirtschaftliche Unternehmungen und - als europäische Besonderheit - auf gesicherter gesetzlicher Grundlage (Gesetz 381/91). So sind "soziale Kooperativen" zum wichtigsten Anbieter sozialer Dienstleistungen auf lokaler Ebene geworden. Sie folgen - ähnlich den schottischen "community enterprises" einer sog. "Erdbeerstrategie", d.h. erfolgreiche Projekte bilden oder sponsern Ableger. Schließlich steigern sie wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und politischen Einfluss durch die Bildung regionaler "Konsortien", nationaler Verbünde und nicht zuletzt durch den Aufbau einer eigenen Finanzwirtschaft. (LEONARDIS/MAURI/ROTELLI 1994; INFOCOOP)
Auch in Griechenland, Portugal und Spanien, sowie in den skandinavischen Ländern sind Kooperativen mit sozialer Zielsetzung die wichtigsten lokalökonomischen Projekte (IRED NORD 1994b; RONNBY 1994).
Eines der bedeutendsten kooperativen Systeme befindet sich erstaunlicherweise in Japan, in den kombinierten Konsum- und Produktivgenossenschaften der "Seikatsu-Clubs". Ursprünglich gegründet von Frauen auf der Suche nach unbelasteten Nahrungsmitteln (anstelle von aluminiumverseuchtem Thunfisch) haben die Clubs, organisiert in sog. "hans" (zu je 7 Familien) nach und nach mit der Produktion eigener Lebensmittel begonnen, in der Region Kanagawa allein mehr als 1000 Artikel in über 200 Produktivgenossenschaften (UEXKÜLL/DOST 1990; YOKOTA 1991).
Aus Frankreich kommt eine speziell auf die innerstädtischen Krisengebiete - die "quartiers en crise" zugeschnittene Initiative. Angelpunkt der Krisenintervention mithilfe sog. "régies de quartiers" ist auch hier das Angebot sinnvoller und menschenwürdiger Arbeit zur Verbesserung der Lebensbedingungen im Stadtteil (Instandsetzung, Stadtreparatur, wohnortnahe Dienste etc.) (ILS 1994; LANG/FROESSLER/THOMAS 1995). Über die niederländische Variante des Stadtteilbetriebs ("buurtbedrijfswinkel") greift das Konzept neuerdings auch nach Deutschland aus (FORUM DER ARBEIT 1997).
In der Bundesrepublik Deutschland schien die gesamtwirtschaftliche Lage bis 1990 eine Beschäftigung mit lokalen Strategien für Krisenregionen nicht wirklich zu erfordern, obwohl sich die krisenhafte Entwicklung in bestimmten Industriebranchen, im Bergbau, in der Eisen- und Stahlindustrie, im Schiffbau, bereits zur Krise ganzer Regionen ausgewachsen hatte. Das änderte sich allerdings schlagartig mit der dramatischen ökonomischen Entwicklung in den neuen Bundesländern:
Diese betraf auch die kleine Gemeinde Wulkow b. Frankfurt/Oder mit ihren 150 Einwohnern. Bereits zu DDR-Zeiten vernachlässigtes Gebiet, verloren die Einwohner mit dem Zusammenbruch der örtlichen LPG (einem früheren Gutshof) und dem Abbau der Elektronikproduktion in Frankfurt/Oder unmittelbar nach der Wende ihre Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten. Wie in Papa Westray hieß die Alternative nur: Flüchten oder Standhalten? Um aber bleiben zu können, mussten die Bewohner die "Flucht nach vorn" antreten: Sie erklärten sich zur "ökologischen Modellgemeinde" und rüsteten den ehemaligen Getreidespeicher des Gutshofes zu einem symbolischen "Ökospeicher" und Hoffnungsträger für die Entwicklung der Gemeinde um. Ökologischer Umbau als Motor lokaler Entwicklung? Wulkow präsentiert die Ergebnisse: ein funktionierender Ökomarkt mit regionaler Ausstrahlung, ein Energiesparhaus als Gemeindezentrum, ein Hackschnitzelheizkraftwerk zur Versorgung und eine Pflanzenkläranlage zur Entsorgung, eine Teichwirtschaft mit Fischbruthaus, ein internationales Seminarzentrum für ländliche Entwicklung usw., kurz: die Entwicklung von Lebensqualität in einem ursprünglich abgeschriebenen Dorf, was auch daran ersichtlich ist, dass neue Bewohner zuziehen (BIRKHÖLZER/LORENZ 1996).
Das Erfolgsgeheimnis liegt in der Stärkung lokaler Kreisläufe, die dafür sorgen, dass Arbeit am Ort entsteht und die Einkommen am Ort zirkulieren - vom Markt zu den Haushalten, von den Haushalten zum Kraftwerk bzw. zur Kläranlage, die Einnahmen finanzieren Arbeitsplätze und Zulieferer, die Einkommen fließen zu den Erzeugern, zum Wirt und zu anderen Dienstleistern, von den Erzeugern zum Markt und zurück in die Haushalte. Nach einer Faustregel sollte jede Mark möglichst dreimal am Ort umgesetzt werden, bevor sie nach draußen verschwindet. Direktvermarktung, Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften, regionale Wertschöpfungsketten und die Wiederbelebung von Tauschsystemen sind Strategien der sogenannten "eigenständigen Regionalentwicklung", die ausgehend von Österreich (ÖAR 1988 u. 1989) sich vor allem im ländlichen Raum in Deutschland, Österreich und der Schweiz und neuerdings auch in osteuropäischen Ländern ausbreitet (HAID 1989; PRO REGIO; PRO VITA ALPINA; VER 1986 u. 1988; VERS 1987; SCHROEDTER/SOLTWEDEL/WOLF 1996; WALDERT 1992).
Dagegen sind in den städtischen und altindustriellen Zentren Deutschlands lokale Beschäftigungsinitiativen unter dem Sammelbegriff "Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften" (BQGn) (oder vor allem in Ostdeutschland als "Arbeitsförderungs-, Beschäftigungs- und Strukturentwicklungsgesellschaften"/ABSn) die Hauptträger lokalökonomischer Strategien. Deren Entwicklung, Leistungen und Perspektiven wurden von unserer Forschungsgruppe erst vor kurzem in zwei Studien näher untersucht (BIRKHÖLZER/LORENZ 1997c u. d). Das Ergebnis ist widersprüchlich: Einerseits beschäftigen BQGn/ABSn derzeit nahezu eine halbe Million Menschen und sind in vielen Regionen zu einem unverzichtbaren Bestandteil der regionalen Wirtschaftsstruktur geworden, andererseits sind alle zur Verfügung stehenden Förderrichtlinien nur auf vorübergehende Vermittlungsaufgaben bzw. Übergangsarbeitsmärkte ausgelegt, die den Beschäftigten, aber auch den Trägergesellschaften, keine dauerhafte Entwicklungsperspektive bieten. Insofern sind die möglichen Potentiale dieser Initiativen noch in keiner Weise ausgeschöpft, zumal einige der in diesem Sektor seit 10 - 15 Jahren bestehende Selbsthilfeunternehmen trotz aller widrigen Umstände eine erstaunliche Erfolgsbilanz aufzuweisen haben:
Der Projekteverbund PAULA in Berlin-Wedding, als Arbeitslosenselbsthilfe 1983 gegründet, ist heute ein soziales Unternehmen mit zeitweise über 80 Beschäftigten, welches eine breite
alette unterschiedlicher Projekte beherbergt: die Forschungsgruppe "Lokale Ökonomie", das Technologie-Netzwerk Berlin, eine Bildungsstätte für ökonomische Selbsthilfe, das Kommunale Forum Wedding und die Geschäftsstelle des Europäischen Netzwerks für ökonomische Selbsthilfe und lokale Entwicklung; dazu eine Projektentwicklungsagentur, ein soziales Angebotszentrum (im Aufbau), einen Nachbarschaftsladen, eine bezirkliche Selbsthilfe-, Kontakt- und Informationsstelle sowie gewerbliche Dienste (der PAULA-Werke GmbH) wie Kantine, Graphikatelier, Hauspflege und die Zeitschrift "Was Nun" für Arbeitsförderungs- und Beschäftigungsprojekte. Zeitweise gehörten auch ein Windelwaschservice, eine Müllwerkstatt und ein Seniorenhilfsdienst zur Angebotspalette, d.h. nicht alle Vorhaben lassen sich auf Dauer realisieren, andere sind in Vorbereitung - insbesondere der Aufbau von Stadtteilbetrieben im Rahmen der vor kurzem auch offiziell institutionalisierten "Lokalen Partnerschaft Wedding" (BIRKHÖLZER 1994a; KOMMUNALES FORUM WEDDING 1996).
Dieses "Gemischtwarenunternehmen" ist Ergebnis einer bewussten Strategie, welche - in ähnlicher Weise wie das schottische "Workspace"-Konzept -
- Arbeitslosen zuvörderst einen Arbeitsplatz und Arbeitszusammenhang bietet;
- zur Arbeitsaufnahme an einer selbst gestellten Aufgabe ermuntert und bei der Ausarbeitung einer Projektidee behilflich ist;
- die Ausarbeitung eines wirtschaftlich tragfähigen Konzepts unterstützt,
- sowie im Erfolgsfall den betriebswirtschaftlichen Rahmen anbietet und ggfs. das Projekt ins Gesamtunternehmen eingliedert.
Dazu steht allen Mitarbeitern ein Projektezentrum (im ehemals brachliegenden "Rotaprint"-Gelände), ein Ressourcenpool und die fachliche oder auch materielle Unterstützung der anderen Projekte zur Verfügung. Das Unternehmen befindet sich im Gemeineigentum und in Selbstverwaltung seiner Mitglieder bzw. Mitarbeiter. Dabei ergibt die Kooperation unterschiedlichster Projekte vielfältige Synergieeffekte, während die Wirtschaftlichkeit auf einer Mischfinanzierung beruht aus Einnahmen aus wirtschaftlicher Tätigkeit, Übernahme öffentlicher Aufträge, öffentlichen und privaten Zuwendungen - und nicht zuletzt auf teilweise unbezahlter Eigenarbeit.
2. Entstehungsgeschichte und Formen lokaler Ökonomie
2.1 Sozioökonomischer Hintergrund
2.1.1 Arbeitslosigkeit, Armut, Ausgrenzung: Eine dreifache Herausforderung
Seit Beginn der 90er Jahre haben in fast allen Ländern der Europäischen Union sowohl die Arbeitslosigkeit, als auch Armut und soziale Ausgrenzung zugenommen. In der Bundesrepublik Deutschland hat die Arbeitslosigkeit eine Nachkriegsrekordhöhe von über 4,5 Mio. Menschen erreicht; in der Europäischen Union sind - je nach Berechnung - zwischen 20 und 30 Mio. Menschen arbeitslos, weltweit sind es nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) derzeit zwischen 700 und 800 Millionen. Dabei sind Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Ausgrenzung nicht mehr zu verstehen als Begleiterscheinungen wirtschaftlicher Unterentwicklung oder politischer Rückständigkeit in entlegenen Weltregionen der ehemaligen 2. oder der 3. Welt. Die unheilige Allianz der drei großen "A"s breitet sich im Gegenteil gerade auch in den Zentren wirtschaftlichen Wachstums aus (vgl. die Diskussion um "jobless growth" z.B. in AARONOWITZ/DIFAZIO 1995) und bedroht damit die politische und soziale Stabilität sowohl der ländlichen Räume als auch der Metropolen in den sog. "entwickelten" Industrieländern z.B. in Berlin, London, Paris, New York.
Überall dort geraten zunehmend auch die etablierten sozialstaatlichen Systeme, soweit sie überhaupt noch bestehen, an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit. Immer häufiger wird zumindest in der internationalen Diskussion die Frage nach "social cohesion", d.h. nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und damit nach dem Fortbestand einer sozialen Ordnung überhaupt auf die Tagesordnung gesetzt. So ist z.B. noch vollkommen unklar, ob die bevorstehende Wirtschafts- und Währungsunion auf europäischer Ebene von einer "Sozialunion" begleitet sein bzw. welche Gestalt ein künftiges "Soziales Europa" annehmen wird. Obwohl die Debatte darüber noch kaum begonnen hat - das erste Sozialpolitische Forum auf europäischer Ebene fand erst im März 1996 statt, ein zweites soll im Sommer 1998 folgen - kann jetzt schon festgestellt werden, dass unsere traditionellen sozialpolitischen Orientierungen, wie sie in der Nachkriegsbundesrepublik entstanden sind und in unseren Ausbildungsgängen weiter gelehrt werden, nicht mehr weiterhelfen. Insbesondere ist die bis heute gültige strikte Trennung von wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Aufgaben, auf der unsere professionellen Ausbildungs- und Verwaltungsstrukturen nach wie vor beruhen, zum entscheidenden Hemmnis für die Entwicklung neuartiger und adäquater Strategien geworden.
Andererseits haben unsere empirischen Untersuchungen belegt, dass eine Vielfalt von Initiativen auf lokaler und regionaler Ebene aus eigener Betroffenheit bzw. in Selbsthilfe und unter Rückgriff auf zumeist verschüttete Traditionen längst innovative Wege beschreitet und professionellen Vertretern in Wissenschaft und Politik oft weit voraus ist. Es ist dabei kein Zufall, dass von diesen Initiativen wiederum eine große Anzahl an Traditionen der Gemeinwesenbewegung aus dem angelsächsischen Raum ("community movement") bzw. anderer sozialökonomischer Reformbewegungen wie der Genossenschaftsbewegungen, der Vereine auf Gegenseitigkeit (sog. mutualités), der solidarischen bzw. sozialen Ökonomie oder des Dritten Sektors anknüpft.
2.1.2 Die wachsende wirtschafts- und sozialpolitische Bedeutung des Gemeinwesens
Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass gerade der Prozess der Globalisierung der Ökonomie die Bedeutung der lokalen bzw. regionalen Handlungsebene - und damit des Gemeinwesens - in den Vordergrund hebt, und zwar als Ergebnis von zwei gegenläufigen Entwicklungen:
Unter dem Druck der Weltmarktkonkurrenz bewirken Deregulierungen und die Verlagerung von Kompetenzen auf supranationale Institutionen eine Erosion nationalstaatlicher Einflussmöglichkeiten bzw. staatlicher Interventionspolitik zugunsten der nationalen Ökonomien und ihrer Klientel, einschließlich der Sozialpartner. Sofern die sozialen Sicherungssysteme, wie z.B. in Deutschland und Skandinavien an nationalstaatliche bzw. nationalökonomische Strukturen gekoppelt sind, werden sie mehr oder weniger zwangsläufig in diesen Erosionsprozess einbezogen: Vergleiche z.B. das mit der Freizügigkeit der Arbeitsplätze in Europa verbundene Sozial-Dumping, welches u.a. in Berlin trotz Baubooms eine ungewöhnlich hohe Arbeitslosenquote unter den Bauarbeitern (28 %) zur Folge hat.
Während die Erträge internationalisiert werden, gehen die Kosten zu Lasten entweder der (nationalen) Versichertengemeinschaft oder der (kommunalen) sozialen Dienste, welchen i.d.R. ihrerseits nichts anderes einfällt, als die Leistungen zu kürzen - ein offenkundiger Circulus vitiosus, der bei steigenden Ausgaben und sinkenden Einnahmen zwangsläufig immer mehr Löcher in die Haushalte und v.a. ins soziale Netz reißt. Gleichwohl scheint derzeit von nationalstaatlicher Ebene keine Abhilfe zu erwarten zu sein.
Paradoxerweise belegen Beispiele aus anderen europäischen Ländern, deren soziale Sicherungssysteme entweder gar nicht entsprechend ausgebaut waren (wie in Südeuropa) oder bereits weitgehend abgebaut sind (wie in Großbritannien), dass einerseits gerade die kommunale Ebene besonders geeignet ist, sozialen Zusammenhalt (wieder-) aufzubauen. Es versteht sich von selbst, dass hier kein Plädoyer für die Segnungen von Privatisierung oder für den Abbau von Sozialleistungen gehalten wird. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass z.B. die italienischen sozialen Kooperativen (LEONARDIS/MAURI/ROTELLI 1994) oder die britische Community-Care-Bewegung (SPEAR/LEONETTI/THOMAS 1994) auf der mehr überschaubaren und persönliche Beziehungen ermöglichenden Ebene des Gemeinwesens weitaus leistungsfähiger sind als anonyme staatliche Institutionen. Interessanterweise führte dies in beiden Fällen - nach anfänglichen Schwierigkeiten - nicht zu Konkurrenz, sondern zu fruchtbaren Kooperationsbeziehungen zwischen Gemeinwesen und (lokalem) Staat. Während in Italien die Zusammenarbeit durch ein neues Gesetz zur Förderung sozialer Kooperativen geregelt wurde, sind es in Großbritannien und in Irland auf freiwilliger Basis entstandene lokale Partnerschaften, die sich um einen "New Deal" bemühen (GEDDES/BENINGTON 1996).
Die wirtschafts- und sozialpolitische Bedeutung des Gemeinwesens erwächst allerdings noch aus einer weit weniger erfreulichen Entwicklung, die auch auf den ersten Blick wohl kaum als positive Handlungsalternative zu erkennen ist: nämlich die Herausbildung von Krisenregionen in gespaltenen Ökonomien. Deren Genese ist im Rahmen unseres Forschungsprojektes mehrfach untersucht worden, so dass an dieser Stelle nur die wichtigsten Argumentationslinien resümiert werden sollen:
Ausgangspunkt war die empirische Beobachtung der kontinuierlich wachsenden Anzahl von Krisenregionen in den hochentwickelten Industriegesellschaften Europas. Dabei handelt es sich weder um vorübergehende Erscheinungen noch um zufällige Fehlentwicklungen, sondern offenbar um unmittelbare und systematische Ergebnisse der Konzentrationsprozesse in der globalisierten Ökonomie. Sie verschärfen die (zum Teil bereits bestehende) regionale Ungleichentwicklung, wobei der wirtschaftlichen räumlichen Differenzierung in neue Produktionsinseln und entindustrialisierte Zonen eine soziale Segregation in Wohlstands- und Armutsquartiere nachfolgt; d.h., Arbeitslosigkeit, Armut, soziale Probleme konzentrieren sich in bestimmten Räumen: in bestimmten Nachbarschaften, Dörfern, Gemeinden, Stadtteilen bis hin zu ganzen Städten und Regionen.
Dieser Prozess führt über die Ausgrenzung von Individuen aus dem Arbeitsprozess zum Verlust der Konkurrenzfähigkeit und damit zur Ausgrenzung der Regionen aus der überregionalen Arbeitsteilung und kann zum völligen Verlust der Reproduktionsfähigkeit führen, an dessen Ende der Ort bzw. die Region von den Bewohnern aufgegeben werden muss. COOLEY et al. haben bereits 1992 in einer Studie "European Competitiveness in the 21st Century" prognostiziert, dass bei Fortbestand der gegenwärtigen technologischen und wirtschaftlichen Tendenzen etwa 100 000 Orte bzw. Gemeinden in der europäischen Union als nicht mehr konkurrenzfähig aufgegeben werden müssten. (COOLEY ET AL. 1992)
In solchen Krisenregionen kommt der lokalen Handlungsebene und damit dem Gemeinwesen eine Schlüsselrolle zu, wobei die mit der Krise verbundene Desintegration aus - bisher möglicherweise als unumstößlich oder übermächtig angesehenen - Verflechtungszusammenhängen (Monokultur, ökologische Belastungen, soziale Abhängigkeiten) auch als Chance für einen Neuanfang, eine eigenständig definierte Entwicklung (oder eigenständige Regionalentwicklung) begriffen werden kann.
Die Vielzahl von Beispielen aus dem In- und Ausland belegt, dass ein solcher Weg praktisch möglich und machbar ist, allerdings unter der Bedingung, dass sich die Gemeinwesen bzw. Teile davon als ökonomisch handelndes Subjekt verstehen und organisieren. Die dazu erforderliche (Wieder-)Belebung von Gemeinwesenbewusstsein und -identität sowie die Mobilisierung der erforderlichen Ressourcen, insbesondere der ungenutzten (z.T. verschütteten) produktiven Fähigkeiten und Kenntnisse der Bevölkerung bedarf ganz spezifischer Interventionen organisatorischer, pädagogischer, planerischer, technischer, ökonomischer und nicht zuletzt finanzieller Art, die - außerhalb bestimmter Praxiszusammenhänge - derzeit noch nirgendwo erlernt werden können. So stellen beide Entwicklungslinien:
-
die Sicherung sozialer Dienstleistungen jenseits sozialstaatlicher Absicherung und
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die ökonomische Selbsthilfe in Krisenregionen
das Gemeinwesen ins Zentrum ihrer Bemühungen. Dabei führt die Not, aus der hier eine Tugend gemacht werden muß, sowohl zur Rückbesinnung auf z. T. in Vergessenheit geratene Traditionen als auch zur schöpferischen Weiterentwicklung von Gemeinwesenarbeit und sozialökonomischen Reformbemühungen.
2.2 Begriffsklärungen und Abgrenzungen:
2.2.1 Gemeinwesen und Ökonomie
Der Begriff Gemeinwesen ist in der Alltagssprache, ähnlich wie die verwandten Begriffe Gemeinde, Kommune, Gemeinschaft nicht immer klar umrissen. Das gilt bis zu einem gewissen Grad natürlich auch für den angelsächsischen Begriff der "community", der in so unterschiedlichen Zusammenhängen wie European Community, scientific community, religious community und local community angewandt wird.
Trotzdem geben von den möglichen deutschen Übersetzungen vor allem die Begriffe Gemeinde, Kommune, Gemeinschaft den Sinngehalt des angelsächsischen Begriffs "community" nur unzureichend oder falsch wieder. Der Begriff "Gemeinde" wäre in mancher Hinsicht übertragbar, keinesfalls jedoch wie im deutschen auch als verwaltungstechnischer Begriff. Mit "community" ist in aller Regel eben nicht die Verwaltungseinheit oder gar die öffentliche Verwaltung einer Gemeinde ("local authority") gemeint, sondern stets eine konkrete Personengemeinschaft, d.h., eine durch gemeinsame Merkmale zusammengehörende Gruppe von Personen. Zu erheblichen Mißverständnissen führt allerdings die in der Literatur häufiger zu beobachtende Übersetzung des Begriffs "community" mit "Gemeinschaft". Die insbesondere deutsche Gemeinschaftsideologie ist dem angelsächsischen Verständnis weitgehend fremd. In diesem Zusammenhang sei auch zu besonderer Vorsicht geraten bei der Interpretation des Begriffes "community" im Rahmen der sogenannten Kommunitarismus-Debatte, auch wenn einige Autoren sich ausdrücklich auf die von Ferdinand TÖNNIES geprägte Terminologie von "Gemeinschaft und Gesellschaft" beziehen. Außerdem ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass der sog. Kommunitarismus nicht etwa als das theoretische Konzept des mehr pragmatisch orientierten "community movement" zu verstehen ist, sondern eher als eine diese Praxis zwar reflektierende, von ihr aber weitgehend unabhängige akademische Diskussion unter Sozialwissenschaftlern, Philosophen und Politologen, womit selbstverständlich nichts gegen die grundsätzliche Relevanz dieser Debatte in unserem Kontext gesagt werden soll. (ZAHLMANN 1994)
Soziologisch gesehen wäre der Sinngehalt des angelsächsischen Begriffes "community" eher zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft, zwischen Anonymität und hoher Verbindlichkeit anzusiedeln. Das gilt im besonderen für das Verständnis des Begriffes der "local community", deren Zusammengehörigsein sich ausschließlich aus der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einem bestimmten Wohngebiet bzw. der Verantwortung für ein bestimmtes Dorf, eine Stadt oder ein Land herleitet. Von den möglichen deutschen Übersetzungen erscheint uns daher der Begriff "Gemeinwesen" zwar ein wenig farblos, gleichwohl am ehesten geeignet, diesem Verständnis nahe zu kommen und die genannten Mißverständnisse zu vermeiden. Dennoch wollen wir uns hier nicht mit einer nur negativen Abgrenzung des Begriffs begnügen. In Übereinstimmung mit einer Vielzahl von Selbstdarstellungen und der einschlägigen Literatur aus der "community"-Bewegung, verstehen wir unter einem Gemeinwesen die historisch gewachsene soziale Struktur eines Gebietes mit kultureller Eigenart und Identität seiner Bewohner: "A living and organic structure" wie es der Begründer von "community planning", Sir Patrick Abercrombie in seinem Entwicklungsplan für die Großstadt London (1943) formuliert hat. (NICHOLSON 1988) Zusammenfassend verstehen wir also den Begriff Gemeinwesen nicht als eine statische Größe, sondern als einen außerordentlich dynamischen Prozeß, in welchem sich die Bewohner eines Gebietes ("local community") oder die Angehörigen einer bestimmten Gruppe ("community of interest") zu ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt in Beziehung setzen.
Darüber hinaus bedarf auch der hier verwandte Begriff der "Ökonomie" einer näheren Erläuterung. Im täglichen Sprachgebrauch sowie in der Wissenschaft wird einerseits streng unterschieden zwischen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fragen bzw. Disziplinen. Andererseits haben z.B. die Begriffe "Ökonomie" und "Ökologie" die gleiche sprachliche Wurzel, abgeleitet vom griechischen "oikos", d.h. "Haus", und handeln also im ursprünglichen Verständnis vom gleichen Gegenstand, dem vernünftigen Haushalten mit den zur Verfügung stehenden menschlichen bzw. natürlichen Ressourcen.
Angesichts der weltweit wachsenden Probleme von Arbeitslosigkeit, Armut und Umweltzerstörung kann davon in der bestehenden Weltökonomie leider keine Rede sein. Das hat seine Ursachen nicht zuletzt in einem reduktionistischen Verständnis von "Ökonomie", welches wirtschaftliche Entwicklung nur noch im quantitativen Sinne als Vermehrung bzw. als Wachstum der geldwerten Menge produzierter Güter und Dienstleistungen (des sog. Bruttosozialprodukts) auffasst. Die qualitative Seite, d.h. die soziale und ökologische Nützlichkeit oder Schädlichkeit bleibt dabei ausgeblendet.
Allerdings wird diese Seite in der jüngeren Diskussion, insbesondere von den Vertretern der "New Economics", wie z.B. DALY, HENDERSON, KORTEN (USA), EKINS, ROBERTSON (GB), HOOGENDIJK (NL), MAX-NEEF (Chile) u.a. wieder in den Mittelpunkt gestellt. Dabei wird "Ökonomie" in einem umfassenderen Sinn begriffen und gebraucht, wie es den großen Nationalökonomen des 19. Jahrhunderts von Adam SMITH bis Max WEBER noch selbstverständlich war.
Wir verstehen hier unter "Ökonomie" folglich alle Formen der Produktion und Reproduktion menschlicher Lebensbedingungen, einschließlich der Hausarbeit und der unbezahlten Arbeit in allen Bereichen der Gesellschaft, sowohl in der "sichtbaren" als auch in der "unsichtbaren Ökonomie" (HENDERSON in EKINS 1986).
Auf diesem Hintergrund macht es wenig Sinn, die Gesellschaft aufzuteilen in einen ökonomischen Bereich, der als produktiv gilt und einen sozialen Bereich, der angeblich nur unproduktiv ist und Geld kostet. Wir gehen statt dessen davon aus, dass die Begriffe "ökonomisch" und "sozial" nur verschiedene Aspekte desselben Prozesses beschreiben, innerhalb dessen die ökonomischen Aktivitäten die Mittel darstellen zur Realisierung individueller oder sozialer Zielsetzungen.
In diesem Sinne können wir unterscheiden zwischen einer privaten Ökonomie mit individuellen Zielsetzungen und einer sozialen Ökonomie, die sozialen Zielsetzungen dient (vgl. EUROPÄISCHES NETZWERK/STIFTUNG BAUHAUS 1996).
2.2.2 Lokale Ökonomie, Soziale Ökonomie und Gemeinwesenökonomie
Im Rahmen dieser wirtschaftswissenschaftlichen Neuorientierung sind in den vergangenen Jahren - insbesondere außerhalb Deutschlands - auch neue interdisziplinäre Fachgebiete wie Lokale Ökonomie, Soziale Ökonomie, Gemeinwesenökonomie und Dritter Sektor entstanden.
Lokale Ökonomie befasst sich mit dem Ort als Wirtschaftseinheit, wobei auch hier von einem umfassenderen Verständnis der Ökonomie ausgegangen wird, d.h. Orte sind mehr als Standorte:
Sie
- sind der Lebensmittelpunkt einer bestimmten Bevölkerung (soziale Dimension)
- befinden sich in einer bestimmten natürlichen Umgebung (ökologische Dimension)
- haben eine bestimmte Tradition und Geschichte (kulturelle Dimension)
Orte sind unverwechselbar: Ihr Reichtum besteht in der jeweiligen spezifischen Kombination der unterschiedlichen Gegebenheiten, d.h. den endogenen Potentialen, wobei die wichtigsten Potentiale nicht in den einzelnen Faktoren an sich zu suchen sind, sondern in ihrer je spezifischen Kombination (Synergie).
Wir verstehen also unter einem "Ort" eine historisch gewachsene Struktur in einem geografisch abgrenzbaren, überschaubaren Raum mit spezifischer Eigenart (Mensch, Natur, Kultur). Reale Orte sind so gesehen oft nicht identisch mit ihrer politischen bzw. verwaltungstechnischen Einordnung. Entsprechend kann die Größenordnung variieren: von einem Dorf, einer Nachbarschaft, einem Stadtteil bis zur Großstadt, Metropole, Region. "Lokal" heißt also nicht automatisch immer "klein". Allerdings nimmt mit der Größenordnung die Wahrscheinlichkeit zu, nur "virtuelle" anstatt "reale" Orte zu erfassen. Es mag insoweit hilfreich sein, sich größere Orte als aus kleineren zusammengesetzt vorzustellen und so kleinräumig wie möglich anzusetzen (Subsidiarität).
Orte haben ihre eigene Dynamik. Ihre Entwicklung vollzieht sich in Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Kräften, die von oben oder unten, innen oder außen, auf sie einwirken. Es ist deshalb Aufgabe der "lokalen Ökonomie" als Wissenschaft, solche Prozesse zu erfassen, zu analysieren und in ihren Auswirkungen zu beschrieben.
Orte können insofern als Wirtschaftssubjekte angesehen und in verschiedene Sektoren gegliedert werden. Dabei ist neben dem privaten (ersten) und dem öffentlichen (zweiten) ein dritter Sektor zu beachten, der zwar privatwirtschaftlich verfasst, aber sozial ausgerichtet ist, welcher z.B. in Großbritannien - sprachlich genauer - als "voluntary sector" bezeichnet wird, weil seine Leistungen nicht aufgrund gesetzlicher oder anderer formaler Verpflichtungen, sondern aus freien Stücken erbracht werden.
In den romanischen Ländern wird dieser Sektor traditionell als "économie sociale" bezeichnet, wozu allerdings auch Kooperativen, Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit ("mutualités") und Wohlfahrtsverbände gerechnet werden, eine Sichtweise, die sich u.a. die EU-Kommission zunehmend zu eigen macht (DEFOURNY/MONZON 1992).
Dabei ergibt sich, dass die Begriffe "Dritter Sektor" und "Soziale Ökonomie" z.Z. leider noch nicht eindeutig bestimmt sind und in verschiedenen Zusammenhängen durchaus Verschiedenes meinen. Im Kern besteht nur insoweit Übereinstimmung, dass es sich um sowohl nicht-gewinnorientierte als auch nicht-staatliche Aktivitäten handelt. Trotz dieser Unschärfe besteht kein Zweifel daran, dass dieser Sektor - vor allem auch in Krisenregionen - einen erheblichen gesamtwirtschaftlichen Beitrag leistet und international vergleichenden Studien zufolge (International Society for Third Sector Research, John Hopkins University, Baltimore /Maryland: SALAMON/ANHEIER 1997) einen erheblichen Beschäftigungszuwachs zu verzeichnen hat.
Aus lokalökonomischer Sicht fällt auf, dass in diesem dritten Sektor neben den bereits erwähnten Aktivitäten der sozialen Ökonomie noch ein weiteres Spektrum wirtschaftlicher Aktivitäten zu beobachten ist, welches sich sozusagen "im Schatten" befindet und oft ganz übersehen wird: informelle Inititativen, Selbst- und Nachbarschaftshilfe, Tauschsysteme, Familienökonomie etc. - und nicht zuletzt alle Spielarten von illegaler und krimineller Ökonomie. Diese "Schattenwirtschaft" hat ebenfalls ihre eigene Dynamik, die nicht zwangsläufig positiv oder sozial nützlich verläuft. Im Gegenteil wächst gerade in Krisenregionen die Gefahr der kriminellen Formalisierung, wie die Entwicklung der Mafia in Süditalien, in den Einwanderungsgebieten Amerikas und neuerdings in Osteuropa eindrücklich belegt.
Gemeinweseninitiativen, von traditioneller Gemeinwesenarbeit bis zur modernen Gemeinwesenökonomie, gehören in diesem Sektor zu den bedeutendsten Gegenbewegungen. Sie setzen dort an, wo einzelne oder ganze soziale Gruppen, Nachbarschaften oder Stadtteile von den ökonomischen Entwicklungen im sogenannten ersten Sektor ausgegrenzt werden und darüber hinaus auch die sozialpolitischen Integrationsbemühungen des öffentlichen Sektors zunehmend versagen. Leider entsteht der Gedanke organisierter ökonomischer Selbsthilfe immer erst nach einer Phase längeren Wartens und vergeblichen Hoffens auf Abhilfe von oben (Staat) oder außen (Investoren). Dabei stehen nicht in erster Linie individuelle Hilfeleistungen im Vordergrund, sondern die Stärkung des sozialen Zusammenhalts im Gemeinwesen, wodurch die betroffenen Individuen erst zur gemeinschaftlichen Selbsthilfe bzw. zur Übernahme von Verantwortung für ihre eigenen Lebensverhältnisse (wieder) befähigt werden.
Dafür sind die (Wieder-)Herstellung von Selbstvertrauen ("self-reliance") und Gemeinwesenbewußtsein ("community identity") entscheidende Voraussetzungen. Andererseits erscheinen die wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen, d.h. wenig Kapital, aber viel ungenutzte Arbeitskraft, zunächst wenig vorteilhaft. Die Gemeinweseninitiativen verfolgen deshalb eine andere Entwicklungsphilosophie, die von den endogenen Potentialen ausgeht und auf die Versorgung der lokalen bzw. regionalen Bedürfnisse abzielt (PEARCE 1993).
Zusammenfassend können wir feststellen, dass die Begriffe und Arbeitsfelder von Lokaler Ökonomie, Sozialer Ökonomie und Gemeinwesenökonomie eine Reihe von Überschneidungen bzw. Gemeinsamkeiten aufweisen, wobei wir - ein wenig vereinfachend - zu der Schlussfolgerung gelangen, dass Gemeinwesenökonomie überall dort entsteht, wo Elemente lokaler Ökonomie und sozialer Ökonomie zusammenkommen.
Die nebenstehenden Schaubilder sollen die Beziehungen veranschaulichen:
Fig. 1 | Fig. 2: Entwicklungsperspektiven im 3. Sektor |
Die Grenzen zwischen sozialer Ökonomie und Schattenökonomie sind fließend. Insbesondere die Gemeinwesenökonomie entwickelt sich in vielen Fällen aus der Schattenökonomie heraus. Dabei werden vormals informelle Aktivitäten in formelle Strukturen gebracht, womit insbesondere eine Inwertsetzung vorher unbewerteter, häufig gering geschätzter Tätigkeiten verbunden ist, z.B. durch Local Exchange and Trading Systems (LETS), Voluntary Enterprises u.ä. mehr.
Die Schattenökonomie rekrutiert sich im wesentlichen aus 3 Bereichen:
- der Nachbarschafts- und Selbsthilfe
- der Familien- und Hausarbeit
- der illegalen ("schwarzen") Ökonomie
Letztere kann in Ermangelung von Alternativen durchaus zum Ausgangspunkt einer kriminellen Formierung der Schattenökonomie werden, die nach und nach Familien und Nachbarschaft einbezieht und sich auf ganze Städte und Regionen ausbreiten kann. (Beispiele sind hier wohl überflüssig). Die Chancen einer solidarischen Formierung sind umgekehrt umso größer, je stärker die formellen Strukturen der Sozialen und Gemeinwesenökonomie entwickelt sind.
2.3 Subjektive Voraussetzungen
Der Prozeß der Herausbildung von Krisenregionen folgt - trotz aller historischen, geographischen, kulturellen und politischen Besonderheiten - einem gleichen oder doch zumindest ähnlichen Grundmuster, einer abwärts gerichteten Spiralbewegung aus
- andauernder Massenarbeitslosigkeit,
- zunehmender Verarmung der privaten und öffentlichen Haushalte,
- sowie der Zerstörung der Infrastruktur und der natürlichen Umwelt.
(BIRKHÖLZER U.A. 1988 u. 1994).
Gemeinsames Ziel aller Bemühungen zur Re-Strukturierung von Krisenregionen ist die Überwindung des krisenhaften Zustandes, d.h. die Wieder-Herstellung funktionierender Wirtschafts- und Sozialbeziehungen am Ort bzw. in der Region. Das bedeutet an positiven Zielsetzungen (analog zu den o.g. Krisenindikatoren)
- die Schaffung von Arbeitsplätzen am Ort (in der Region)
- die Erwirtschaftung und Zirkulation von Einkommen am Ort (in der Region), und
- den Erhalt bzw. die Wiederherstellung der Infrastruktur und der natürlichen Umwelt.
In diesen Re-Struktuierungsbemühungen kommt der lokalen Ebene - wie bereits erwähnt - eine Schlüsselrolle zu. Die Konzentration auf die lokalen Handlungsmöglichkeiten entspringt dabei weder einer freiwilligen Entscheidung noch einer Vorliebe fürs Lokalkolorit, sondern schierer Notwendigkeit. Krisenregionen fallen tendenziell aus der überregionalen Arbeitsteilung heraus und werden auf ihre am Ort vorhandenen Reproduktionsmöglichkeiten zurückgeworfen. Das Schicksal des einzelnen Arbeitslosen, der aus der betrieblichen Sphäre (und damit aus der Integration in die Arbeitswelt) entlassen und auf seine Privatsphäre, d.h., soweit vorhanden: Wohnung, Familie, Nachbarschaft, reduziert wird, teilt tendenziell auch die ganze (Krisen-)
Region. Aus der internationalen oder überregionalen Arbeitsteilung ganz oder teilweise entlassen, werden die Handlungsmöglichkeiten, dem Ausmaß der Desintegration entsprechend, auf die eigenen, noch vorhandenen Ressourcen beschränkt (CHANAN 1992).
Nun kann eine solche Konstellation zunächst wohl kaum als günstige Ausgangsposition für ökonomische Restrukturierungsmöglichkeiten angesehen werden. Im Gegenteil, eine Rückkehr in die überregionale Konkurrenzfähigkeit, die gemäß der herrschenden Regionalförderkonzeption immer noch den einzigen denkbaren Entwicklungspfad darstellt, ist nahezu unmöglich, weil sich die betroffene Region in einer echten Zwickmühle befindet. Da sie zur Krisenregion geworden ist, weil sie in der überregionalen Konkurrenz nicht mehr mithalten konnte, kann sie die überregionale Konkurrenzfähigkeit nicht mehr zurückerlangen, weil sie eben Krisenregion ist. Mit anderen Worten: Mit den klassischen Instrumenten der Strukturpolitik ist eine Restrukturierung von Krisenregionen nahezu ausgeschlossen. Empirisch wird das durch die Tatsache belegt, daß es auch im beschäftigungs- und sozialpolitischen Sinne gelungene Restrukturierungsbeispiele altindustrieller Krisenregionen europaweit nicht gibt.
Paradoxerweise eröffnen sich erst dann Handlungsmöglichkeiten, wenn die Beschränkung auf die lokale Ebene und die zur Verfügung stehenden lokalen Ressourcen akzeptiert wird. Erst durch diesen Perspektivwechsel entsteht der Bedarf und die Notwendigkeit für eine lokalökonomische Strategie (AARONOVITCH U.A. 1994; COOKE 1989; KNIGHT/HAYES 1982; MIDDLESEX UNIVERSITY 1992; ROBERTSON 1985).
Die Restrukturierungsversuche der lokalen Ökonomie in Krisenregionen könnten im Prinzip von oben oder unten, innen oder außen ausgehen und dementsprechend aus unterschiedlicher Perspektive betrachtet werden. In den betroffenen Regionen, die zum Teil seit 15 bis 20 Jahren auf Abhilfe warten, ist das Vertrauen in die Hilfe von außen oder oben weitgehend verloren gegangen. Gleichzeitig ist eine Bewegung für ökonomische Selbsthilfe entstanden, die von unten kommt und von innen (den endogenen Potentialen) ausgeht (BIRKHÖLZER 1994).
So unterschiedlich diese praktischen Ansätze im einzelnen auch sind, verfolgen sie doch alle Strategien, deren wesentliche gemeinsame Grundzüge lauten:
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Investitionen in die ungenutzten Fähigkeiten und Kenntnisse der Bevölkerung als der bedeutendsten brachliegenden lokalen Ressource,
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Finanzierung von sozial und ökologisch nützlicher Arbeit anstelle von Arbeitslosigkeit,
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Stärkung und Wiederbelebung lokaler Wirtschaftskreisläufe, vornehmlich auf den Gebieten:
- Versorgung der Grundbedürfnisse wie Ernährung und Wohnen
- gemeindenahe Dienstleistungen, dezentrale und kleinräumige technische Systeme für Ver- und Entsorgung,
- Instandsetzung und -haltung der Infrastruktur.
Die Konzentration auf die lokale ökonomische Handlungsebene der Selbsthilfe heißt hier nicht, daß die übrigen Handlungsebenen vernachlässigt werden. Auf dem Internationalen Symposium "Lokale Ökonomie" im November 1992 haben mehrere Redner eine intensivere Beschäftigung mit dem Verhältnis von lokalen Strategien und nationalen wie supranationalen Strukturen eingefordert. Die dort erhobene Forderung an die lokalökonomische Forschung, insbesondere von AARONOVITCH und ROBERTSON, (IFP LOKALE ÖKONOMIE/ZUKUNFT IM ZENTRUM, 1994) ein Modell für die Integration der lokalen Dimension mit den regionalen, nationalen und internationalen Dimensionen zu entwickeln, ist derzeitigen und künftigen Forschungsvorhaben vorbehalten.
Zusammenfassend können wir feststellen, daß die subjektiven Voraussetzungen vor allem darin zu suchen sind, inwiefern die potentiellen lokalen Akteure zur Einsicht in ihre reale Lage fähig und bereit sind. Wie in jedem therapeutischen Prozeß setzt der Heilungsprozeß die volle Anerkenntnis des bestehenden Zustands voraus. Erst dann kann die Krise als Chance für einen Neuanfang begriffen werden (ALEXANDER 1993; DAVEY 1994).
2.4 Idealtypische Instrumente und Verfahren
Jeder Neubeginn kann aber - in Ermangelung gesicherter Vorerfahrungen - zunächst nur nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum erfolgen, zumal selbst ein wissenschaftlich fundiertes Franchising-System aus methodischen Gründen nicht angemessen wäre. Dennoch können auf der Basis entsprechender Evaluierungsforschung systematische Hinweise auf handlungsanleitende Prinzipien, Instrumente und Verfahren gegeben werden. Unsere Forschungsgruppe hat dazu ein idealtypisches Modell entwickelt, welches in seinen Grundzügen bereits publiziert ist und hier als bekannt vorausgesetzt werden kann. Es soll im folgenden aus Gründen der Vollständigkeit nur kurz rekapituliert werden, ggfs. ergänzt um Hinweise auf neue Entwicklungen, die seit Veröffentlichung des Textes eingegangen sind.
1. Analyse der lokalen Wirtschafts- und Sozialstruktur im Hinblick auf Defizite, Potentiale, Ressourcen für eine eigenständige Entwicklung:
Jedes Vorhaben sollte mit einer systematischen Analyse der Produktions- und Reproduktionsstrukturen des Ortes, auf den es sich bezieht, beginnen, insbesondere durch Defizit- und Ressourcenanalysen, in welchen der Mangel an Gütern und Dienstleistungen, die Defizite in der Ver- und Entsorgung sowie die vorhandenen Schäden der natürlichen und sozialen Umwelt systematisch erfaßt und in einer Bilanz den ungenutzten oder unzureichend genutzten Potentialen bzw. Ressourcen gegenübergestellt werden, wozu auch die Analyse gehört, welche Potentiale und Ressourcen überbeansprucht oder sinnlos verbraucht wurden. Von besonderer Bedeutsamkeit ist dabei die Einbeziehung der Betroffenen in die Erhebungen von Anfang an, damit sie ihre örtlichen Kenntnisse in eine umfassendere Analyse einbringen können und später nicht mit Planungen konfrontiert werden, die an ihren Bedürfnissen vorbeigehen.
Regional- und Potentialanalysen werden gegenwärtig im Rahmen des Lokale-Agenda-21-Prozesses an vielen Orten erarbeitet; allerdings ist die Verbindung von ökologischen und sozialen Perspektiven häufig mangelhaft. Die Möglichkeiten zur Nutzung der LA 21 als Motor für Beschäftigungsentwicklung werden noch zu wenig erkannt. Andererseits wurde das unerschlossene Potential von Beschäftigungsmöglichkeiten auf der lokalen Ebene in den letzten Jahren insbesondere auch von der Europäischen Kommission gewürdigt. In einer Studie über lokale Beschäftigungsinitiativen (EUROPÄISCHE KOMMISSION/DG V 1994) wurden 17 Arbeitsfelder hervorgehoben, die vor Ort besonders zu beachten (s.u.) wären.
Auf der methodischen Ebene sind vor allem die Arbeiten der New Economics Foundation über alternative Indikatoren der wirtschaftlichen Entwicklung hervorzuheben (MACGILLIVRAY/ZADEK 1995).
2. Mobilisierende Planungsverfahren von und mit den Betroffenen, mit Bewohnern, Beschäftigten, Arbeitslosen und anderen "normalen Leuten", auch "popular planning" oder "community planning" genannt:
Es geht um die Mobilisierung der ungenutzten Fähigkeiten und Kenntnisse der "Leute", die in den Betrieben, Gemeinden und Organisationen in der Regel von den Planungs- und Entscheidungsprozessen ausgeschlossen sind. Sie sollen wieder zu Subjekten des Planungsprozesses werden und lernen, sowohl ihre Bedürfnisse zu artikulieren als auch Verantwortung für die Gestaltung ihrer Arbeits- und Lebenswelt zu übernehmen. Von den professionellen Planern verlangt dies eine Umstellung auf unterstützende und beratende Funktionen. Zuverlässige Planungsunterlagen über die tatsächlich vorhandenen Defizite und Ressourcen sind letztlich nur über die konstitutive Beteiligung der Betroffenen zu erlangen.
In der internationalen Diskussion um das Leitbild einer "civil society" wird zunehmend die Zielsetzung von "community empowerment" auf die Tagesordnung gesetzt (CRAIG/MAYO 1995; IRED NORD 1997; MONTGOMERY/THORNLEY 1990; RONNBY 1994). In Deutschland äußert sich dies in einer Rückbesinnung auf Traditionen der Gemeinwesenarbeit, wobei insbesondere die Strategie des "community organizing" aus den USA rezipiert wird (MOHRLOCK/NEUBAUER/NEUBAUER/SCHÖNFELDER 1993; RUNDBRIEF). Auf der pra