Gemeinwesenarbeit und Sozialraumorientierung – eine Standortbestimmung
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DSA Christoph Stoik, FH Campus Wien, Email: christoph.stoik@fh-campuswien.ac.at
Dieser Text ist Teil der Online-Dokumentation der (letzten?) 14. GWA-Werkstatt im Burckhardthaus Gelnhausen, 17.-20.09.2007
Angesichts der Entwicklungen, die sich in Praxis und Theorie der Sozialen Arbeit vollziehen, stellt sich die Frage, mit welcher Berechtigung noch von Gemeinwesenarbeit gesprochen werden kann. Die Sozialraumorientierung scheint das Arbeitsprinzip Gemeinwesenarbeit in Praxis und Theorie zu ersetzen (vgl. u.a. Hinte/Treeß 2007). Genauer betrachtet aber wird unter Sozialraumorientierung sowohl in Theorie als auch Praxis sehr Unterschiedliches verstanden (vgl. Kessl/Reutlinger 2007). Ist es also so einfach ein traditionsreiches Arbeitskonzept einer so jungen Profession und Disziplin der Sozialen Arbeit über Bord zu werfen, ohne genauer zu betrachten, welchen Ertrag es bringen kann für eine sich entwickelnde sozialraumorientierte Soziale Arbeit? In der Folge wird hier überprüft, was unter Sozialraumorientierung verstanden wird bzw. werden kann und es wird untersucht, was aus der Perspektive des Arbeitsprinzips GWA zur Diskussion beigetragen werden kann.
Widersprüchliches Verständnis zu Sozialraumorientierung
Die (Wieder-)Entdeckung des Raums in zahlreichen Disziplinen und in der Sozialen Arbeit (vgl. u.a. Kessl/Reutlinger/Maurer/Frey 2005; Kessl/Reutlinger 2007) führt zu einer Zuwendung zum physischen Raum[1]. Sowohl in Programmatiken der Sozialen Arbeit, wie dem Quartiersmanagement („Soziale Stadt") oder der Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe, als auch in vielen theoretischen Auseinandersetzung ist allerdings eine reduktionistische Verwendung des Begriffs „Sozialer Raum" fest zu stellen. Auch wenn insbesondere auf Bourdieu und dessen komplexen Raumverständnis verwiesen wird, ist vielfach nur noch vom physischen Raum die Rede – zumindest was die Organisation und das Handeln der SozialarbeiterInnen angeht (vgl. beispielsweise Budde/Früchtel 2006). Probleme, die gar nicht im physischen Raum – also im Stadtteil oder der ländlichen Region – entstehen, sollen dort bearbeitet werden, was Kessl u.a. bereits 2002 kritisiert haben (vgl. Kessl/Otto/Ziegler, 2002 und Otto/Ziegler 2004). Aufgaben der Armutsbekämpfung und -prävention würden von nationalstaatlicher Verantwortung in den Stadtteil abgewälzt. Im Stadtteil sollen mit den Betroffenen Lösungen erarbeitet werden für Probleme, die sich aus einer Problematik sich ändernder Umverteilungspolitik ergeben.
So stehen zwei Positionen gegenüber – einerseits die (Wieder-)Entdeckung der Bedeutung des physischen Raums, andererseits die Kritik an einer einseitigen Zuwendung zum Raum, ohne die soziale Struktur ausreichend zu berücksichtigen.
Sozialer Raum ist mehr als der Stadtteil und mehr als „der Beziehungsraum"
Angesichts dieser Positionen im Diskurs stellt sich die Frage, welche Bedeutung der Soziale Raum und der physische Raum einnimmt, wenn Soziale Arbeit verstanden wird, als Strategie der Armutsbekämpfung, der Armutssprävention und des sozialen Wandels (IFSW 2005, Staub-Bernasconi 2007). Es lohnt sich daher, das Raumverständnis von Pierre Bourdieu heranzuziehen und näher zu betrachten[2] (vgl. u.a. Bourdieu 1997; Bourdieu 1985; Bourdieu 1983; Karstedt 2004):
Bourdieu folgend ist der Soziale Raum zuerst der abstrakte Raum der sozialen Hierarchisierung, und erst in 2. Linie der physische Raum, in dem sich der soziale Raum abbildet und der wieder auf den sozialen Raum wirkt.
Sozialer Raum wird im Sinne von Bourdieu als der Raum verstanden, in dem Menschen sich anordnen je nach Ausstattung der unterschiedlichen Kapitalsorten (zur Verfügung stehende Ressourcen). Es ist also der Raum, in dem sich Ungleichheiten abbilden.
Der soziale Raum ist somit nicht nur verkürzt der Raum, in dem soziale Beziehungen stattfinden und er ist zu unterscheiden vom physischen Raum. Allerdings beeinflusst der soziale Raum den physischen Raum und umgekehrt: So wird die soziale Position einer Klasse bzw. eines Milieus z.B. architektonisch sichtbar (in Form von sogen. symbolischen Kapital). Dies wiederum wirkt auf den sozialen Raum und die Individuen. Um es salopp auszudrücken: es macht einen Unterschied, ob Menschen in einem „benachteiligten Stadtteil" sozialisiert werden, oder in einer Villengegend. Es bilden sich spezifische Eigenheiten in den Milieus, die mit dem physischen Raum verknüpft sind, wie spezifische Verhaltensregeln und Haltungen, die Menschen einnehmen, Aneignung und Nutzung von Raum, „erwünschte" und „geächtete" Organisation von Menschen, wie bspw. die Gruppierung von „Jugendlichen" oder „MigrantInnen" im öffentlichen Raum, etc. Andererseits verfügen die Menschen in den unterschiedlichen Räumen über unterschiedliche Ausstattung von verschiedenen Kapitalsorten. In manchen Milieus, in denen wenig ökonomisches Kapital zur Verfügung steht, kann beispielsweise viel oder auch wenig bonding social capital (Zusammenhalt innerhalb einer community) vor zu finden sein: Während manche MigrantInnen-Milieus über ein dichtes inneres soziales Netz verfügen, haben andere autochthonen Gruppen (z.B. sogen. Modernisierungsverlierer österreichischer Herkunft) wenig Kontakte untereinander. In ein und demselben physischen Raum sind also meist unterschiedliche Milieus mit unterschiedlicher Kapitalausstatttung und Interessen anzutreffen.
Raum ist demnach von Menschen gestalteter Raum. Andererseits beeinflusst der Raum das Handeln von Menschen. Der Soziale Raum ist Ausdruck der Möglichkeiten und Einschränkungen des Handelns von Menschen. Je nach Verfügung über Kapital ist Handeln und die Gestaltung von Raum möglich, oder schwierig. Dabei spielt nicht nur das ökonomische Kapital, das Einkommen, das zur Verfügung stehende Geld, der Grund und Boden, das Eigentum eine Rolle – auch wenn es eine zentrale Rolle einnimmt. Relevant ist auch Bildung, Wissen und Erfahrungen, wie mit Situationen, mit Problemen umgegangen werden kann (kulturelles Kapital). Handlungsmöglichkeiten und -einschränkungen ergeben sich aufgrund zur Verfügung stehender oder eben fehlender Zugänge zu Entscheidungsstrukturen und gesellschaftlichen Institutionen (linking social capital). Beziehungen zu Menschen aus anderen Milieus (bridging social capital) und Menschen innerhalb von Milieus (bondig social capital) ermöglichen oder behindern das Handeln. Und schließlich verfügen Menschen über Symbole, die ihnen mehr oder weniger Durchsetzungsmöglichkeiten verschaffen, wie das Image, das ein Milieu hat, welches sich auch im Image des Wohngebietes abbildet.
Konsequenzen eines komplexeren Raumverständnisses für eine sozialraumorientierte Soziale Arbeit
Ein derart komplexeres Raumverständnis hat einige Konsequenzen für eine sozialraumorientierte Soziale Arbeit, bzw. Sozialraumarbeit, wie es Kessl und Reutlinger nennen (Kessl/Reutlinger 2007):
- Bei der Bearbeitung sozialer Ungleichheit ist zu betrachten, wie der Zugang zu und die Verteilung von den unterschiedlichen Kapitalsorten geregelt ist. Das schließt das ökonomische Kapital (Arbeit, Einkommen, Ausstattung des physischen Raums) ebenso ein, wie der Zugang zu Bildung (kulturelles Kapital) und der Zugang zu gesellschaftlichen Institutionen (linking social capital). Eine reduzierte Betrachtung des Stadtteils und der Ressourcen im physischen Raum, ohne strukturelle Bedingungen zu betrachten, manifestiert soziale Ungleichheit. Sozialraumorientierte Soziale Arbeit und Gemeinwesenarbeit kann also nicht auf „Stadtteilarbeit" reduziert werden, in dem Sinn, dass nur der physische Raum Ausgangspunkt von Betrachtungen und Handlungen ist.
- Wenn die Umverteilung von Kapital wirksam sein soll, ist der Zugang zu den Kapitalsorten milieuspezifisch zu gestalten. Eigenheiten in Milieus sind zu berücksichtigen, um den Zugang zu erleichtern (z.B. spezielle niederschwellige Bildungsangebote). Dabei ist auch der physische Raum, dort ausgeprägte Strukturen, verortete Organisationen und Regeln in den Blick zu nehmen. Sozialräumliche Soziale Arbeit hätte und hat die Aufgabe, Angebote so mit zu gestalten, dass sie tatsächlich die jeweiligen Milieus und Zielgruppen erreichen.
- Da der physische Raum den Raum der Manifestierung von Ungleichheit und den Raum der Handlungsmöglichkeiten und -einschränkungen darstellt, ist er auch EIN wesentlicher Ausgangspunkt für die Bearbeitung von sozialer Ungleichheit (wenn gleichzeitig die Umverteilung von und der Zugang zu Kapital entsprechend geregelt ist). Eigenheiten des physischen Raums und der jeweils verorteten Milieus sind bei der Kapitalbildung zu berücksichtigen. Die Aufgabe Sozialer Arbeit ist dann, Ressourcen in den Milieus und im physischen Raum aufzuspüren, zu vernetzen und neu zu bilden:
Bonding, bridging und linking social Capital kann gebildet und verstärkt werden, wenn Austausch und Aushandlung zwischen Menschen auf horizontaler und vertikaler Ebene gefördert werden, wenn Interessen öffentlich sichtbar werden und mit EntscheidungsträgerInnen verhandelt werden. Kulturelles Kapital, Wissen und Erfahrungen, die in Milieus und in den physischen Räumen vorhanden sind, gelten als wesentlicher Ausgangspunkt für gemeinwesen- bzw. sozialraumorientiertes Handeln, wenn von niederschwelligen, emanzipatorischen Lernprozessen vor Ort die Rede ist.
Symbolisches Kapital wird beispielsweise gebildet, wenn Menschen Symbole schaffen, die ihnen neue Ausdrucksformen ermöglichen, wie z.B. Stadtteilmedien, oder Stadtteilkulturprojekte (vgl. u.a. Gillich 2007; Gruber 2007; Mayer/Sommerfeld 2005; Runge 2007; vgl. Schnee/Stoik 2000).
Die Bildung von ökonomischen Kapital wird u.a. durch den Diskurs um die Gemeinwesenökonomie thematisiert, in dessen Rahmen, Menschen lernen, sich selbstbestimmt neue Produktionsprozesse (wieder)anzueignen (vgl. u.a. Elsen 2007, Klöck 1998).
Wie es Kessl und Reutlinger formulieren, könnte unter Bezugnahme auf ein komplexes Raumverständnis von „Sozialraumarbeit" gesprochen werden, in der die Soziale Arbeit eine theoretische Weiterentwicklung vollziehen könnte: „Die Soziale Arbeit scheint daher – zumindest auf den ersten Blick – in der Sozialraumorientierung zu sich selbst kommen zu können." (Kessl/Reutlinger 2007, 16)
Soziale Arbeit setzt einerseits bei der Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen an (im Rahmen einer konstruktivistischen Raumtheorie), andererseits fragt sie nach den sozialen Verhältnissen (im Rahmen einer materialistischen Raumtheorie), um diese mit zu gestalten (vgl. Kessl/Reutlinger 2007).
Sozialraumarbeit liefert also die theoretische Begründung dazu, sich sowohl mit der Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten auseinander zu setzen, als auch mit den dahinterliegenden Strukturen und mit dem physischen Raum, in dem sich diese Strukturen abbilden. Ungleichheiten können diesen Überlegungen folgend nur dann ausgeglichen werden, wenn Strukturen verändert UND Handlungsmöglichkeiten erweitert werden, weil Raum einerseits von Menschen gestaltet ist andererseits das Handeln einschränkt oder ermöglicht. Die Soziale Arbeit ist damit die Profession bzw. Disziplin, die sich auch mit der Wechselwirkung von sozialen und physischen Raum, und mit den Wechselwirkungen von Struktur und Handeln auseinandersetzt. Über den Diskurs über „Sozialraumarbeit" wird auch thematisiert, wie Hierarchisierungen im Sozialen Raum, auch unter Einflussnahme von Sozialer Arbeit, verändert werden können, wie dadurch neue Strukturen entstehen, die wiederum das Handeln von Menschen behindern bzw. ermöglichen können.
Während Sozialraumarbeit eine transdisziplinäre theoretische Begründung der Sozialen Arbeit darstellt (vgl. die Beiträge zum Sozialraum aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven im Handbuch Sozialraum, Kessl/Reutlinger/Maurer/Frey 2005), stellt sich die Frage, welche weiteren Konsequenzen das für die Struktur und das Handeln der Sozialen Arbeit hat.
Und aufgrund dieser grundlegende theoretischen Überlegungen stellt sich die Frage, mit welcher Berechtigung weiterhin noch von Gemeinwesenarbeit gesprochen werden kann. Warum ist es wichtig, an einem Arbeitsprinzip aus den 80er Jahren fest zu halten?
Verständnis zu Gemeinwesenarbeit
Bevor der Ertrag der GWA für eine sozialraumorientierte Arbeit überprüft wird, muss kurz geklärt werden, was hier GWA verstanden wird:
Dem Arbeitsprinzip Gemeinwesenarbeit nach Oelschlägel et al (vgl. Boulet/Krauss/Oelschlägel 1980) folgend versteht sich Gemeinwesenarbeit als sozialräumliche Strategie, die Handlungsfähigkeit von Menschen zu erhöhen, wobei v.a. der Soziale Raum, die strukturellen Bedingungen in den Blick genommen werden (vgl. u.a. Oelschlägel 2004; Stövesand 2002).
Neben der Erweiterung individueller und kollektiver Handlungsfähigkeit von Menschen leistet GWA einen Beitrag „zur aktiven Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben und zur Verbesserung der Lebensbedingungen." GWA schafft Bedingungen zur Alltagssolidarität (vgl. Oelschlägel 2007, 35).
GWA betrachtete also seit jeher strukturelle Bedingungen und die Handlungsfähigkeit der Menschen. Ausgangspunkt des professionellen Handelns sind individuelle Bedürfnisse, der physische und der soziale Raum. Das professionelle Handeln richtet sich einerseits an die Menschen im physischen und sozialen Raum und der Erweiterung der Handlungsfähigkeit. Andererseits werden ungerechte Strukturen thematisiert und veröffentlicht – GWA richtet sich daher auch an die Veränderung ungerechter Strukturen. Während eine sich entwickelnde sozialraumorientierte Arbeit (bei einem komplexen Raumverständis) also theoretisch fundiert abgesichert erscheint, weist die Gemeinwesenarbeit eine langjährige praktische Tradition auf.
Zivilgesellschaftliche Verknüpfung der GWA
GWA ist intermediäres Handeln, bei dem einerseits Interessen aus den Lebenswelten in politische Entscheidungstrukturen eingespeist werden (vgl. u.a. Fehren 2006). Andererseits kann das sozialräumliche Wissen, zu dem GemeinwesenarbeiterInnen Zugang haben, genutzt werden, Angebote so zu setzen, dass diese die entsprechenden Milieus erreichen. GemeinwesenarbeiterInnen kommunizieren auf der einen Seite „in den" Lebenswelten, andererseits unterliegt GWA einer sozialstaatlichen Handlungslogik. Auf der einen Seite gehen GemeinwesenarbeiterInnen in die Lebenswelten, nehmen eine lebensweltlich kommunikative Haltung ein, um Interessen in den Lebenswelten zu schützen und verhandelbar zu machen[3]. Auf der anderen Seite regeln GemeinwesenarbeiterInnen Konflikte, die im physischen Raum entstehen und sichern somit die soziale Ordnung.
Das hat zur Konsequenz, dass Gemeinwesenarbeit einmal strategisches, ein andermal lebensweltlich kommunikatives Handeln darstellt. Dieses Verständnis ist eng verknüpft mit der Tradition der GWA. So ist GWA nicht ausschließlich als sozialstaatliche Strategie zu verstehen, sondern auch als zivilgesellschaftliches Handeln.
Gemeinwesenarbeit war seit ihrem Entstehen mit soziale Bewegungen verknüpft mit der „Frauenbewegung Ökologiebewegung und Friedensbewegung" (Oelschlägel 2001, 38 und vgl. u.a. Boulet/Krauss/Oelschlägel 1980; Hinte/Karas 1989; Müller 1999). Genannt werden soll hier beispielhaft die Settlementbewegung (v.a. über Jane Adams verknüpft mit der Frauen- und der Friedensbewegung, vgl. Müller 1999, 60-89), sowie Community-Organizing (verknüpft u.a. mit der Bürgerrechts- und Gewerkschaftsbewegung in den USA, vgl. Mohrlock 1993). Unerwähnt soll auch die Verknüpfung zu Paul Freires Volksbildungs-Konzept nicht bleiben, das von zahlreichen PraktikerInnen und TheoretikerInnen der GWA aufgegriffen wurde (vgl. u.a. Hinte/Karas 1989; Rausch 1998, 202; Rohrmoser 2004, 10-11).
Wird nun die GWA als Handlungskonzept zu Gunsten einer „Sozialraumarbeit" aufgegeben, so besteht die Gefahr, dass diese Verknüpfungen zur Zivilgesellschaft an Bedeutung verlieren. Ohne Berücksichtigung dieser Traditionen und Theorien kann sich der Fokus der Sozialen Arbeit, Lebenswelten zu schützen, und Aushandlung zu organisieren, leicht verschieben hin zu einem rein programmatischen, etatistischen Verständnis sozialer Arbeit, die ausschließlich auf die Lebenswelten in kolonialisierender, den Gegebenheiten anpassender Weise einwirkt (vgl. die Kritik an der „neosozialen" Sozialen Arbeit im Rahmen eines aktivierenden Sozialstaats: Otto/Ziegler 2004).[4]
Aktuellere auch deutschsprachige Betrachtungen weisen außerdem auf internationale Diskussionen hin, in denen von „Gemeinwesenentwicklung" und „Gemeinwesenökonomie" die Rede ist, die die eigenständigere und solidarische Lebensführung benachteiligter Menschen unterstützt. (Elsen 2007; Heimgartner 2006). Gemeinwesenentwicklung bzw. Community-Development stellt sich zwar je nach räumlicher Kontextualisierung unterschiedlich dar, weist aber andererseits Gemeinsamkeiten in vielen Ländern auf. Hubert Campfens nennt beispielsweise die Verknüpfung mit sozialen Bewegungen, mit der Förderung partizipativer Demokratien oder eines solidarischer Gemeinwesens (vgl. Campfens 1999).
GWA als Handlungskonzept im Rahmen einer „Sozialraumarbeit"
Das Handlungskonzept GWA, auch im Sinne eines internationalen Diskurses um Gemeinwesenentwicklung, bringt also zumindest vier Erträge für eine sich entwickelnde sozialraumorientierte Soziale Arbeit, die einem komplexen Raumverständnis im Sinne Bourdieus folgt:
- GWA steht in der Tradition einer zivilgesellschaftlichen Verankerung und begründet damit neben einem staatlichen Handeln auch ein lebensweltlich kommunikatives Handeln, das eine Ausrichtung der Sozialen Arbeit dahingehend betont, dass Lebenswelten geschützt werden und Interessen aus den Lebenswelten in politischen uns ökonomischen Systemen verhandelt werden.
- GWA ist verknüpft mit einer Vielzahl von Theorien und Diskursen, deren genauere Betrachtung es ermöglicht, sozialarbeiterisches Handeln und deren zugrundeliegende Struktur aus unterschiedlichen Perspektiven zu reflektieren.
- Das Handlungskonzept GWA bietet Methoden und Erfahrungen der Ressourcenbildung und der Interessens-Aushandlung an.
- Gemeinwesenarbeit ist verknüpft mit einem internationalen Diskurs der Gemeinwesenentwicklung bzw. des Community-Developments, welcher Fragen stellt, wie demokratisches, solidarisches und selbstbestimmtes Leben in einer sich globalisierenden Welt gefördert werden kann.
Gemeinwesenarbeit bzw. -entwicklung kann somit als eigenständiges Handlungskonzept im Rahmen einer sozialraumorientierten Sozialen Arbeit verstanden werden.
Dies führt aber zu folgenden Konsequenzen:
- Theorie und Praxis der Gemeinwesenarbeit und -entwicklung ist systematisch theoretisch zu reflektieren, unter Betrachtung implizit verknüpfter Theorie, wie beispielsweise die Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Pragmatismus, Dewey und deren Verknüpfung zur Settlementbewegung durch Oehler (vgl. Oehler 2006). Widersprüchliche Verständnisse zu GWA können dabei aufgedeckt werden und sind so diskutierbar. Dabei ist auch die räumliche Dimension der GWA zu aktualisieren, beispielsweise wie es Macher erarbeitet hat (vgl. Macher 2007).
- Die Praxis der Gemeinwesenarbeit bzw. der Sozialraumorientierung ist unter Bezugnahme von Raumtheorien zu reflektieren. Es ist notwendig, Methoden, die in der Praxis angewendet werden, systematischer zu beschreiben, zu dokumentieren und zu reflektieren.
- Theoretische Bezüge und Traditionen der Gemeinwesenarbeit und -entwicklung werden bei der Theoriebildung einer sozialraumorientierten Sozialen Arbeit aufgegriffen und integriert, insbesondere deren zivilgesellschaftliche Bedeutung.
Aus dieser Perspektive also ist das Arbeitsprinzip GWA eine inhaltliche Bereicherung einer sich entwickelnden „Sozialraumarbeit". Eine intensive Auseinandersetzung zwischen GemeinwesenarbeiterInnen, die in der Praxis stehen und der Wissenschaft ist dabei aber vorausgesetzt – eine Herausforderung, angesichts der Eigendynamiken beider Systeme.
Quellen:
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- Budde, Wolfgang / Früchtel, Frank (2006): Die Felder der Sozialraumorientierung, in: Budde, Wolfgang / Früchtel, Frank / Hinte, Wolfgang: Sozialraumorientierung, Wege zu einer veränderten Praxis, Wiesbaden, S. 27-50
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Fußnoten:
[1] Unter physischer Raum wird hier der materielle, territoriale bzw. geographische Raum verstanden (vgl. Kessl/Reutlinger 2007; Löw 2001), also der Stadtteil bzw. die ländliche Region.
[2] Um das Verhältnis zwischen physischen und sozialen Raum zu klären, können weitere komplexe Raumtheorien herangezogen werden,wie beispielsweise die von Lefebvre (vgl. z.B. Löw 2007, Macher 2007). In diesem Beitrag wird auf Bourdieus Verständnis zurückgegriffen, weil dieses als Ausgangspunkt in Theorie und Praxis vielfach herangezogen wird (vgl. u.a. Löw 2001).
[3] Jürgen Habermas unterschied zwischen strategischen, zweckrationalen Handeln, das auch darauf ausgerichtet ist die gesellschaftliche Ordnung aufrecht zu erhalten und einem lebensweltliche kommunikativen Handeln, das der Verständigung unter Menschen abseits von Systemlogiken dient (Habermas 1981).
[4] Um Missverständnissen vorzubeugen soll hier angemerkt werden, dass es bei der Unterscheidung des staatliche Auftrags und eines zivilgesellschaftlichen Bezugs der GWA hier nicht um eine Wertung handelt, in dem Sinne, dass staatliches Handeln keine Berechtigung hätte. Im Gegenteil: In Zeiten des Rückzugs des Staates und der Infragestellung sozialer Sicherheitssysteme, soll die Bedeutung sozialarbeiterischen Handelns als Teil der Gewährleistung sozialer Sicherheit hier betont werden. GemeinwesenarbeiterInnen und Organisationen der GWA aber stehen andauernd im Spannungsverhältnis unterschiedlicher Ansprüche. Wenn die Handlungslogiken der GemeinwesenearbeiterInnen nicht Gegenstand von kontinuierlicher Reflexion sind, besteht die Gefahr, dass GWA lediglich zum Instrument wird. GemeinwesenarbeiterInnen sind also gefordert, zu erkennen, nach welchen Handlungslogiken sie agieren und entsprechend Entscheidungen zu treffen. Sie müssen also einmal ordnend eingreifen und ein andermal Lebenswelten vor dem staatlichen Zugriff schützen.