Volksheim (Hamburg) - 3. Phase von 1929 –1933
Das Volksheim wird politisch – Toleranz und Einigung im Kampf für den Sozialismus
Was war das Hamburger Volksheim?
In seiner bereits über einhundertjährigen Geschichte veränderte sich das Profil des Volksheimes, gewissermaßen im Gleichklang mit der geschichtlichen Entwicklung Deutschlands, mehrmals grundlegend. Um den historischen und inhaltlichen Prozess des Volksheimes und somit auch der deutschen Nachbarschaftshausbewegung dennoch adäquat nachzeichnen zu können, erscheint es sinnvoll, die Entwicklung in vier, sich überlappende Phasen einzuteilen. Als Anhaltspunkt dafür dienen die zahlreichen Satzungsänderungen des Vereins Volksheim e.V..
Der erste Abschnitt reicht von der Gründung im Jahr 1901 bis in die Anfänge der Weimarer Republik 1920. Hier beginnt die zweite Phase, die 1929 endet. Die darauffolgende dritte Etappe wird unterbrochen durch die Herrschaft der Nationalsozialisten und den Zweiten Weltkrieg. In der Zeit des Nationalsozialismus steht das Volksheim – ähnlich wie andere gleichgeschaltete Nachbarschaftsheime – voll unter dem Diktat der NSDAP und übernimmt propagandistische, kontrollierende und versorgende Aufgaben. Mit der Neugründung 1945 kommt es vor allem programmatisch zu einer Fortsetzung, der vor der Nazizeit begonnenen dritten Etappe. Schon wenige Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges verändert sich das inhaltliche Profil des Volkheimes und mündet erneut in einer geänderten Satzung sowie in einem neuen Namen. In der damit begonnenen vierten Phase heißt das Volksheim "Kulturelle Vereinigung Volksheim e.V.".
Die dritte und zugleich letzte Phase des ersten deutschen Nachbarschaftsheimes wurde bestimmt durch die Hoffnung der Verantwortlichen, Einigkeit durch die gemeinsame Vision des Sozialismus stiften zu können. Die Akzeptanz der Vielfalt und die Toleranz im Umgang miteinander waren charakteristisch für die praktische Arbeit (von Kietzell in Krahulec, 1993, S. 88).
Idee
Es war vor allem der programmatischen Öffnung des Volksheim zu verdanken, dass sich etwa ab 1924 noch eine weitere gestaltungsbereite und auch einflussreiche Strömung innerhalb des Vereins engagierte. Die Rede ist von den Jugendlichen, die sich sehr bewusst als junge Arbeiter begriffen und als Teil des Proletariats im Volksheim aktiv mitarbeiten und auch mitbestimmen wollten. Nach ihrer Auffassung sollte das Volksheim zu einem Ort des proletarischen Kampfes für eine » Kultur des Sozialismus werden. Darunter ist jedoch nicht in erster Linie die Vorbereitung einer gewaltsamen Revolution zu verstehen, vielmehr ging es um die Initiierung und Organisierung von klassenidentitätsfördernden Veranstaltungen wie Demonstrationen, Bildungsnachmittagen, Versammlungen und Festen. Auf diese Weise sollte der Entwicklung des Prinzips Sozialismus in den relevanten Teilbereichen der Gesellschaft wie Kultur, Bildung, Erziehung, Wirtschaft und nicht zuletzt Politik der Weg bereitet werden. Bemerkenswert erscheint gerade bei diesem Typus von Jungsozialisten die deutliche Abgrenzung zu den » bestehenden sozialistischen Parteien und Arbeiterorganisationen mit ihren Dogmen und Zwängen. Mit der Ablehnung einer von außen kommenden Bevormundung übernahmen sie das von der Jugendbewegung vertretene Prinzip der selbstverantwortlichen und selbstgeführten Jugendgruppen. Auch in anderen deutschen Städten kam es zu ähnlichen Entwicklungen, so dass 1928 die Gründung eines "Bundes freier sozialistischer Jugend" möglich wurde. Dass der Vorsitzende dieses reichsweiten Bündnisses zugleich zweiter Vorsitzender des Volksheimes war, unterstreicht nur noch einmal den Stellenwert, den das Hamburger Nachbarschaftsheim innerhalb der organisierten Arbeiterschaft einnahm.
Der von den sozialistischen Jugendgruppen reklamierte Führungsanspruch, aber auch die politische Präzisierung der inhaltlichen Arbeit machten eine neuerliche Anpassung der Satzung an die tatsächlichen Verhältnisse erforderlich. Die Mitgliedsversammlungen wurden ab 1925 zum Austragungsort des "geistigen Ringens zweier Kulturen" (Oelschlägel in Sozial Extra 11/91, S. 14f.), in dessen Ergebnis sich sowohl die ehemaligen Gründungsmitglieder, als auch ein Großteil der jugendbewegten Gruppen aus der Volksheim-Arbeit zurückzogen. Ab 1929 war es offiziell: Der Zweck der Aktivitäten im und um das Hamburger Volksheim sollte in der Vorbereitung der "geistigen und sittlichen Grundlagen des Sozialismus" (von Kietzell in Krahulec, 1993, S. 86) bestehen. Das Volksheim wollte somit eine Unterstützung im Befreiungskampfe des Proletariats sein.
Gesellschaftliche Situation
Die ausführliche Beschreibung der markantesten gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in der Weimarer Republik ist im Text » "Das Hamburger Volksheim von 1920 – 1929" unter der Überschrift "Gesellschaftliche Situation" zu finden. Zur Vermeidung von Wiederholungen kann auf die Darstellung umfassend bezug genommen werden.
Ziele
Mit dem im Volksheim einsetzenden Diskurs über die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen rückten zum ersten Mal die tatsächlichen Lebensverhältnisse im Arbeiterstadtteil in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die proletarischen Jugendlichen versuchten auf diese Weise, die » politisch stark polarisierenden Teile der Bevölkerung in einer gemeinsamen Utopie von einer gerechteren und humanistischeren Gesellschaftsordnung zu vereinen. Das Ziel, die Entwicklung des Sozialismus in Wirtschaft, Erziehung sowie Kultur ließ sich nach Ansicht der Jungsozialisten nur durch einen Kampf der Arbeiterklasse erreichen. Der Begriff des Klassenkampfes war in diesem Sinne jedoch nicht gleichbedeutend mit der "Durchsetzung eines Machtstandpunktes mit allen ... zur Verfügung stehenden Mitteln", sondern er bezeichnete vielmehr jene Art von geistiger Auseinandersetzung, bei welcher der Kultur des Sozialismus zum Durchbruch verholfen werden sollte (Oelschlägel zitiert Claasen/Albrecht in Sozial Extra II/91, S. 14). Die sozialistischen Jugendgruppen wollten diesen Kampf als Teil der Arbeiterbewegung mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen. Indem sie sich das renommierte Volksheim als Basis auserkor, beabsichtigten sie die Atmosphäre im Arbeiterstadtteil in ihrem Sinne zu beeinflussen. Dazu gehörte auch, die Lebensverhältnisse der Nachbarschaft genau zu beschreiben, und da wo es ging Verbesserung herbeizuführen. Aufgrund der finanziell und personell äußerst angespannten Lage beschränkten sich jedoch diese Maßnahmen häufig auf Heiterkeit und Frohsinn stiftende Tanz- und Theaterdarbietungen.
Leitbilder
Die jungen Proletarier oder auch » Freisozialisten, die das Volksheim ab ca. 1924 zu einem Ort politischer Aktionen werden ließen, verstanden sich bewusst als autonomes Element im breiten Spektrum der sozialistischen Arbeiterbewegung. Ihrem Anspruch nach legten sie besonderen Wert auf eine parteipolitische Unabhängigkeit, was freilich gleichzeitig einer deutlichen Kritik am aufgeblasenen Funktionärsapparat der großen Organisationen gleichkam (von Kietzell in Krahulec, 1993, S. 87). Ohne die Bevormundung durch die großen Parteien und ohne deren Dogmen, respektive Zwänge, wollten die Jugendlichen in partnerschaftlicher Koexistenz für eine Kulturerneuerung eintreten. Zu diesem Zweck übernahmen sie von der Jugendbewegung das Prinzip der Gruppenführung durch nahezu Gleichaltrige.
Eine weitere Leitidee der Freisozialisten war die Annahme, dass Privateigentum – gleich in welcher Form – als Hemmnis jeder Gemeinschaft wirkt und darum verkollektiviert werden müsse. Um nun die beabsichtigte Einigung im Volke herbeizuführen, muss der Sozialismus erkämpft werden, so die – an die Lehren von Karl Marx anknüpfende – Argumentation der Jungsozialisten. Letztlich bedeutete diese Aussage abermals einen Paradigmenwechsel, nämlich die völlige Abkehr von dem Leitbild der Einigung durch Klassenaussöhnung, da selbst die Begriffe der Klasse (wie auch der des Privateigentums im Sozialismus) schließlich gegenstandslos werden sollten. Sozialismus wurde in diesem Ansatz "nicht als Wirtschaftssystem oder -prinzip, nicht als Außenform, sondern als Innenzustand, als eine Gesinnung, eine neue Art der Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen" verstanden (Oestreich, 1965, S. 49).
Wie Dieter von Kietzell vollkommen zu Recht anmerkt, musste "für die alten Volksheimer aus den Gründungsjahren ... diese Zweckbestimmung des Vereins als Gegenteil von dem erscheinen, wofür sie gearbeitet hatten" (von Kietztell in Krahulec, 1993, S. 86). Aber auch die Jugendbewegung konnte sich in den Formulierungen der neuen Satzung nur schwerlich wiederfinden, ging es doch nun nicht mehr nur um die Einigkeit durch die Bildung von Gemeinschaften, sondern um die Durchsetzung eines politischen Ziels.
Umsetzung
Für das über lange Zeit politisch neutrale Volksheim bedeutete es keine leichte Aufgabe, die neu ankommenden proletarischen Jugendlichen in das bestehende Volksheim-Programm zu integrieren. Der erste Schritt von Seiten der Geschäftsführung, um mögliche Berührungsängste abzubauen, war die Aufhebung der vormals gewollten Abschottung der einzelnen Jugendgruppen voneinander. Nunmehr konnten Gruppen aus allen vier Hamburger Niederlassungen nach eigener Maßgabe miteinander kooperieren und zusammenarbeiten. Auch in der Thematisierung politischer Fragestellungen gab man sich nun bewusst tolerant. Allmählich begann sich der Einfluss der sozialistischen Jugend auch in den Inhalten der Angebote bemerkbar zu machen.
An der prekären finanziellen Situation des Vereins änderte sich indes kaum etwas. Obwohl das Hamburger Jugendamt kleinere Beträge für die Durchführung der Gruppenarbeit sowie für die Instandhaltung der Gebäude bereitstellte, musste der Großteil der Arbeit, einschließlich die Unterhaltung der Rechtsauskunftsstelle, auf ehrenamtlicher Basis verrichtet werden.
Bildung
Ungeachtet der Tatsache, dass nahezu alle Helfer auf ehrenamtlicher Basis beschäftigt werden mussten, umfasste die Angebotspalette ein buntes Spektrum verschiedener Themengebiete. So gab es beispielsweise diverse politische Gruppen, die in bemerkenswerter Toleranz nebeneinander agierten. Während sich die proletarischen Gruppen beispielsweise mit dem Leben und Wirken von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht oder dem Staatsaufbau der UdSSR befassten, standen für die religiösen Sozialisten eher Glaubensfragen im Mittelpunkt der Betrachtungen. Im Jahresbericht 1929 heißt es dazu: Das Ziel dieser Gruppenveranstaltungen liegt in der "Erziehung zu denkenden Sozialisten, ohne parteidogmatische Vorurteile" (ebd., S. 87). Neben den unmittelbar politischen Gruppen gründeten sich aber auch Arbeitsgemeinschaften zu wissenschaftlichen Sachverhalten wie Psychologie oder Esperanto. Großer Beliebtheit erfreuten sich (nach wie vor) die Sonntagsunterhaltungen im Hamburger Volksheim. Im Gegensatz zu der belehrenden Art und Weise der Anfangsjahre betonten die Veranstalter jetzt eher den künstlerischen Charakter dieser sonntäglichen Zusammenkünfte.
Kulturelle Angebote
In kultureller Hinsicht waren es die mittlerweile traditionellen Angebote wie Literatur- und Singeabende, die das Erscheinungsbild des Volksheimes weiterhin bestimmten. Die Nachfolger der zurückgedrängten Jugendbewegung existierten als Wander- und Sportvereine oder als literarischen Gruppen, die "Schau- und Lustspiele", aber auch Märchenaufführungen veranstalteten, weiter. Mit der Einführung von Rundfunk und Fernsehen stieg besonders der Anteil der anspruchvolleren Tanz- und Schauspieldarbietungen im Stadtteil (ebd.).
Historische Bedeutung
Die dritte Phase der Hamburger Entwicklung steht unter der Überschrift: Das Volksheim wird politisch. Die historisch bedeutsame Dimension der dritten Phase liegt in dieser Tatsache begründet. Wir erinnern uns: Seit der Gründung 1901, die zu einem nicht unerheblichen Teil durch antisozialistische Reflexe seitens der begüterten und gebildeten Klasse ausgelöst wurde, bestand ein striktes Verbot parteipolitischer und konfessioneller Parteibestrebungen innerhalb des Volksheimes. Folglich kamen schon gar nicht alle Bewohner als potentielle Besucher in Frage. Nicht erwünscht waren die, die sich bewusst als Mitglieder ihrer sozialen Schicht begriffen, und die noch dazu unter Klassenversöhnung und Gemeinschaftsbildung nicht nur Fremdbestimmung und Anpassung verstanden. Für diese Teile der Bevölkerung wurde das Volksheim in der dritten Phase zu einem Stück Heimat.
Diese Etappe deutscher Nachbarschaftshausgeschichte zeigt überaus deutlich, dass sich gewichtige Stimmungen und Strömungen innerhalb eines Stadtteils nicht dauerhaft durch Statute und Verordnungen ausgrenzen lassen. In diesem Fall handelte es sich um Hamburger Arbeiterstadtteile, in denen die Mehrzahl der Bewohner ein starkes Interesse daran hatte, sich politisch zu artikulieren und zu engagieren. Folglich konnte sich auch die damalige Gemeinwesenarbeit, wenn sie wirksam sein wollte, einer politische Parteinahme nicht entziehen. Da die ehrenamtlichen Helfer und Verantwortlichen dieser Zeit zugleich selbst zu den Stadtteilbewohnern zählten, kam diese Option ohnehin nicht in Frage. Einigkeit und Versöhnung unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen herzustellen, erfordert zuallererst die tatsächlichen Belange der Bewohner ernst zu nehmen und sich anschließend um die Verbesserung ihrer Lebensumstände zu bemühen. Für die jungen Proletarier in der dritten Phase des Hamburger Volksheimes war die Steigerung von Wohn- und Lebensqualität gleichbedeutend mit dem Glauben an die sozialistische Vision einer besseren Welt. Es ist bemerkenswert, dass gerade die letzte Phase vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten gekennzeichnet ist durch eine Akzeptanz der Meinungsvielfalt und toleranten Umgang miteinander (von Kietzell in Krahulec, 1993, S. 88).
Die historischen Nachwirkungen der dritten Phase Hamburger Volksheim-Arbeit, zeigen sich nicht zuletzt darin, dass es nach dem Krieg zu einer » Fortsetzung der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit kommt. Erst als der sowjetisch besetzte Teil Deutschlands den Status einer sozialistischen Republik annimmt und dabei doch deutliche Zeichen einer totalitären Diktatur aufweist, fällt es den Verantwortlichen im Volksheim immer schwerer, ihre Vision von der des real existierenden Sozialismus abzugrenzen. 1976 zum 75 jährigen Bestehen des Volksheimes ist jegliche politische Attitüde aus der Satzung des Vereins und aus dem Programm verschwunden. Nichts erinnert mehr an das "geistige Ringen zweier Kulturen" und an die gemeinschaftliche Suche nach gesellschaftlicher Orientierung der vergangenen Jahrzehnte (Oelschlägel in Sozial Extra 11/91, S. 14).
Fragen zum Hamburger Volksheim der 3. Phase
- Was gab den Ausschlag für den erneuten Paradigmenwechsel innerhalb des Volksheimes?
- Welche Ziele verfolgten die sozialistisch geprägten Jugendgruppen? Gehen Sie bei der Beantwortung der Frage auf gesellschaftlichen Verhältnisse jener Jahre ein. Worin sehen sie die eklatantesten Unterschiede zur Gründungsphase?
- Wie ist es zu erklären, dass in dieser Phase Meinungsvielfalt und Toleranz im Umgang miteinander zu handlungsleitenden Prinzipien wurden?
- Warum ist wichtig bei der Betrachtung der Entwicklung der Gemeinwesenarbeit in Deutschland die dritte Phase des Volksheimes zu betrachten?