Der Kreuzberger Tauschring im Nachbarschaftshaus Urbanstrasse e.V.

Kontakt:

Markus Runge, Nachbarschaftshaus Urbanstraße e.V. (Berlin - Kreuzberg), Urbanstr. 21, 10961 Berlin, Tel.: 030 / 690497-21, Email: gekko@nachbarschaftshaus.de


Vorbemerkung

Als Mitarbeiter des Nachbarschaftshauses Urbanstraße e.V. bin ich seit einigen Jahren Ansprechpartner von Seiten dieses sozial-kulturellen Zentrums in der Zusammenarbeit mit dem rechtlich eigenständigen Kreuzberger Tauschring. Das Nachbarschaftshaus beherbergt und begleitet den Tauschring seit seiner Gründung. Als intensiver Beobachter in meiner Funktion als Stadtteilarbeiter nicht aber als Mitglied setze ich mich mit den Entwicklungen des Tauschrings auseinander. Neben Recherchen in den Veröffentlichungen des Tauschrings dienten auch Gespräche mit Tauschring-Mitgliedern als Grundlage für die folgende Auseinandersetzung.

Aus den Anfängen der Geschichte des Tauschrings

Auf einer Tagung im September 1994 in Dessau zum Thema "Wirtschaft von unten" treffen mehrere Menschen aus Berlin aufeinander. Sie verbindet die Faszination an der Idee des Tauschrings. Das Nachbarschaftshaus wird nach Unterstützung dieser Idee angefragt, zeigt Interesse und bietet kostenlose Raumnutzung an. Im November 1994 besteht bereits ein Kreis von zehn Aktiven. Am 27. Februar 1995 gründet sich der Kreuzberger Tauschring als erster Tauschring in Berlin.

Struktur und Mitgliedschaft des Tauschrings

Von seiner Rechtsform ist der Kreuzberger Tauschring ein nicht eingetragener Verein mit eigener #9; Geschäftsordnung. Organe des Tauschrings sind die Mitgliederversammlung (das höchste Entscheidungsgremium), das Aktiventreffen (ein Gremium für alle wichtigen Entscheidungen, die über einzelne Aktivengruppenbelange hinausgehen) und schließlich die Aktivengruppen. Mitglied kann jede natürliche und juristische Person werden, die dem Tauschring beitritt.
Die interne Verrechnungseinheit ist der Kreuzer. Dieser bemisst sich anhand eines Stundenäquivalentes und orientiert sich nicht an der national gültigen Währung. Bis heute gilt die Empfehlung, dass 20 Kreuzer für eine Stunde Lebenszeit berechnet werden.
Im Sinne der Nachbarschaftshilfe geht es um Gleichbewertung aller Arbeiten im Tauschring entgegen der gesellschaftlich üblichen Diskriminierung von Frauen-, Familien-, Erziehungs-, Randgruppen- und Reproduktionsarbeit.
Getauscht werden muss nicht direkt Leistung mit Gegenleistung. Durch das Tauschen im Ring und die Verrechnung über Konten steht jedem Mitglied eine Vielzahl von Leistungen offen.
Die Mitgliederzahl stieg bis zum Jahr 1999 auf etwa 450 an, pendelt sich aber in den letzten Jahren auf ca. 300 ein. Mehr als 2/3 der Mitglieder sind Frauen! Ein erheblicher Teil der Mitglieder ist arbeitslos oder durch geringe Einkommen zumindest partiell von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen.

Aktivengruppen im Tauschring

Entstanden sind in den Jahren viele unterschiedliche sogenannte Aktivengruppen. Da gibt es zum Beispiel Aktive, die das Büro organisieren, in dem die gesamte Kontenbetreuung und vieles mehr zusammenläuft. Den monatlichen TauschRausch im Nachbarschaftshaus, die monatlich herauskommende Mitgliederzeitschrift "Straßenkreuzer", die Öffentlichkeitsarbeit nach außen und die Homepage www.kreuzberger-tauschring.de organisieren wieder andere Aktivengruppen.
Zwei Aktivengruppen sind aus konkreten Bedarfen heraus erst im Laufe der Zeit entstanden. Die Mitgliederbetreuung wurde notwendig, um Hilfestellungen in der Konfliktlösung, Stressbewältigung und der Moderation und Motivation zu einem guten Miteinander zu geben. Ebenso werden bei Bedarf Mitglieder unterstützt, die zu viele oder zu wenige Kreuzer auf ihrem Konto haben.
Eine meines Erachtens sehr besondere Aktivengruppe organisiert das Solidaritäts- und Zukunftskonto. Mit auf diesem Konto eingehenden Kreuzerspenden werden Mitglieder unterstützt, die, zum Beispiel durch Krankheit, zumindest vorübergehend nicht in der Lage sind, selbst aktiv Kreuzer einzunehmen. Darüber hinaus besteht über dieses Konto auch die Möglichkeit, stadtteilorientierte Aktivitäten, zum Beispiel Stadtteilfeste, zu unterstützen.

Besondere Entwicklungen im Tauschring

Der Kreuzberger Tauschring weist einige Besonderheiten auf, die das Wertvolle der Tauschring-Idee noch einmal deutlich unterstreichen:
Seine besonders intensive Kultur des Miteinanders lässt sich an zwei Beispielen deutlich machen: In den letzten Jahren gab es eine Reihe selbst organisierter Erzählcafes, in denen Tauschring-Mitglieder aus ihrem Leben erzählen, Hobbys vorstellen oder einfach nur zur Diskussion unterschiedlichster Themen einladen. Neu entstanden ist in 2006 der Kreuzerspiegel, eine Zeitschrift innerhalb des Tauschrings, die ein zusätzliches Kommunikationsforum sein will. Jedes Mitglied kann hier seine Meinung äußern. Mit solchen Aktivitäten und Kommunikationsplattformen wird das Zusammenleben ganz konkret gestaltet.
Entstanden ist in den 11 Jahren Tauschring viel "Schwarzarbeit" in dem Sinne, dass Nachbarschaftshilfe zum Teil auch ohne Kreuzer wieder funktioniert. Und mehr noch, es sind Freundschaften entstanden, Wahlverwandschaften, sich gegenseitig stützende Beziehungen und Netzwerke. Das alles ist durchaus willkommen und gewünscht, führt es doch zu einem intensiveren Miteinander und Zusammenleben im Stadtteil.
Die Vielfalt an Menschen, an Ideen und Ressourcen drückt sich in den erstaunlich zahlreichen und vielfältigen Suche/Biete-Anzeigen aus: Wer kann Schuhe reparieren bzw. Absätze besohlen? Biete Yogaunterricht! Bügle bei Dir zu Hause und putze Deine Fenster! Suche Rollstuhlbegleitung zum Arzt! Wer streicht mir meine Wohnung? Biete homöopathische Beratung, Krisensitzung, Suchtberatung! Biete Massagen bei allen Problemen durch Belastung und Stress! Wer hilft mir meinen Gartenzaun neu zu setzen? Menschen lernen hier herauszufinden, was ihre Ressourcen und Fähigkeiten sind, welche Tätigkeiten ihnen Spaß machen und für welche Tätigkeiten sie sich eher einen Tauschpartner zur Erledigung suchen. Auch Testphasen für mögliche Existenzgründungen sind im Tauschring nicht ausgeschlossen.
Nach 8 Jahren wurde der einmillionste Kreuzer vertauscht. Geht man von der oben ausgesprochenen Empfehlung von 20 Kreuzern für eine Stunde aus, sind das 50.000 Stunden, die in dieser Zeit eingesetzt wurden.
Auch das Solidaritäts- und Zukunftskonto, das 2001 entstanden ist, hebt den Tauschring in seiner kreativen Suche nach lebendiger Solidarität mit zeitweise besonders benachteiligten Personen sowie mit dem eigenen Stadtteil und seiner Entwicklung heraus.

Schwierigkeiten gibt es dennoch

Neben diesen sehr positiven Entwicklungen, sind aber aus meiner Außensicht im Leben des Kreuzberger Tauschrings auch verschiedene Schwierigkeiten zu erkennen. Zwei seien an dieser Stelle näher ausgeführt.
Der Kreuzberger Tauschring hat eine Spanne von 1000 Kreuzern im Plus bis zu 500 Kreuzern im Minus festgelegt, in der sich die Mitglieder bewegen dürfen (im November 2006 gab es real eine Spanne von 5500 Kreuzern anstelle der vereinbarten 1500 Kreuzern). Trotz Patschenhelfer (eine namentliche Nennung im Straßenkreuzer, damit andere Mitglieder auf diese Personen zu gehen und gezielt in Tauschleistungen treten können) und Beratung gibt es Tauschring-Mitglieder (im November 2006 immer hin mehr als 50), die die Kreuzer-Grenzen, zu deren Einhaltung sie sich bei Eintritt in den Tauschring verpflichtet haben, zunehmend entweder nach oben oder nach unten deutlich überschreiten! Ob gerade aber die Minus-Saldos je wieder mit einer Gegenleistung in Ausgleich gebracht werden, ist aus meiner Sicht fraglich. Etwa 47.000 Kreuzer sind seit Gründung des Tauschrings ungedeckt, damit ist das Gleichgewicht von Geben und Nehmen rein rechnerisch jedenfalls nicht mehr gegeben. Zugegeben, auf die elf Jahre gerechnet - gegenüber vermutlich mehr als 1,3 Millionen Kreuzer-Umsatz - ist das im Moment noch keine besonders erhebliche Summe. Rechnet man hinzu, dass mancher Ausstieg aus dem Tauschring mit einem monetären Ausgleich erfolgte (anstatt das Kreuzerkonto auf 0 zu fahren), ist das Ungleichgewicht noch geringer zu bewerten.
Aktuell gibt es im Tauschring Mitglieder, die aufgrund von Ausbildungs- beziehungsweise Fachkompetenz oder besonderer Bedürftigkeit (Hartz IV-Bezug) mehr als die orientierten 20 Kreuzer pro Stunde oder sogar zusätzlich Euro (abgesehen von Kosten für Verbrauchsmaterialien) fordern. Hier wird versucht, Grundsätze des Tauschrings aufzuheben. Deutlich ist hier aber der Widerstand derer, die genau diese Unterschiede zwischen Tauschring und der übrigen Gesellschaft hochhalten wollen, die solidarisches und gerechteres Handeln bewusst abseits des geldgedeckten Systems bewahren wollen.

Rahmenbedingungen für Tauschringe

Aus der Betrachtung des Kreuzberger Tauschrings lassen sich stichwortartig einige Rahmenbedingungen für die Entstehung lebendiger Tauschringe ableiten:

  • Die Grundlage ist Eigeninitiative von Menschen. Ungeeignet scheint eine institutionelle Initiierung von Tauschringen.
  • Förderlich sind Symbiosen, wie die Kooperation zwischen Nachbarschaftshaus und Kreuzberger Tauschring es deutlich macht.
  • Tauschringe leben von einem nachbarschaftlicher Kontext, einem lokalen Bezug.
  • Hinsichtlich einer gesunden Mitgliederzahl braucht der Tauschring zum einen eine gewisse Vielfalt an Leistungen, die angeboten und gesucht werden, zum anderen scheint seine Größe auch nach oben hin begrenzt, um ein gegenseitiges Kennen und Begegnung immer wieder möglich zu machen.

Was macht den Tauschring heute noch so besonders?

"Den bestimmenden Werten auf dem Geld- und Kapitalmarkt wie Eigennutz, Konkurrenz und Gewinnmaximierung, werden im Tauschring Solidarität, Kreativität, Empowerment (Selbstlernprozess durch Erfahrung), Anerkennung des Individualrechts (Recht des Menschen als Persönlichkeit), sowie ökonomische Selbsthilfe (haushälterisch, wirtschaftlich, sparsam) der Menschen, gegenüber gestellt." (http://www.kreuzberger-tauschring.de). Nur durch praktische Erfahrung und Bereitschaft zu einer selbstkritischen Auseinandersetzung einerseits und anerkennende, konstruktive Umsetzung andererseits kann die Entwicklung von Alternativen gelingen. Der Tauschring lässt sich damit auch als Übungsfeld für solidarisches Miteinander begreifen. Er ist solidarische Nachbarschaftshilfe (mit dem Solidaritäts- und Zukunftskonto klar nur ausschließlich mitgliederbezogen), die soziales Kapital generiert.


Quellen: