Toynbee Hall (London)
Die Geburtsstunde der Gemeinwesenarbeit und der Beginn der Settlement-Bewegung
Was war Toynbee Hall?
1884 gründeten der Gemeindepfarrer » Samuel Barnett und seine Frau Henrietta Barnett die erste Universitätsniederlassung in einem Elendsviertel im Osten von London. Zu Ehren des sozial engagierten Historikers und Nationalökonomen Arnold Toynbee (1852-1883), der als einer der ersten den praktischen Versuch unternahm die Lebensbedingungen der armen Bewohner von Ost-London zu verbessern, nennen sie die neuentstandene Einrichtung » „Toynbee Hall“. Der Gedanke, der hinter dem Vorhaben der Barnetts stand, war so einfach wie genial. Angehende Akademiker sollten für eine begrenzte Zeit ihrer Ausbildung in der eigens dafür eingerichteten Zweigstelle der Universität wohnen, leben, lehren und arbeiten. Auf diese Weise entstand die erste „Niederlassung Gebildeter inmitten der armen und arbeitenden Bevölkerung“, so die zeitgenössische Umschreibung für den englischen Begriffe Settlement. Angeregt durch das Beispiel und das Vorgehen des Ehepaar Barnett, kam es sowohl in Großbritannien und den USA, aber auch in Deutschland zu einer regelrechten Welle von Settlement-Gründungen. Toynbee Hall markiert deshalb den Beginn der » Settlement-Bewegung.
Idee
Das Ehepaar Barnett gelangte während ihrer zehnjährigen Pfarrtätigkeit im Londoner » Armenviertel Whitechapel zu einigen richtungsweisenden Einsichten, die den Umgang mit der notleidenden Bevölkerung und das » System der englischen Armenhilfe reformieren sollten. Eine – und vielleicht auch die grundlegendste – dieser Überzeugungen war, dass sich die sozialen Probleme der Zeit nur lösen lassen, wenn die gebildeteren und wohlhabenderen Bevölkerungsschichten um die Lebensbedingungen in den Elendsquartieren wissen und sie zu einem gewissen Teil auch selbst erleben. Nicht Geld, Mitleid und Reformprogramme lindern das Elend – so Barnetts These – sondern der Einsatz der vollen Person und des ganzen Lebens. Die persönliche Begegnung zwischen Gebildeten und Ungebildeten, z.B. durch gemeinsames Zusammenleben im Stadtteil, stellte aus seiner Sicht einen entscheidenden Schritt zur Lösung der Sozialen Frage dar. Das wünschenswerte Ergebnis einer so initiierten gegenseitigen Teilhabe sollte in der wechselseitigen Durchdringung der Anschauungen und Lebensweisen sowie in einem Wandel des Bewusstseins von Ober- und Mittelschicht bestehen.
Gesellschaftliche Situation
England als Mutterland der Indutrialisierung war schon ab Beginn des 19. Jahrhunderts mit den Folgen des kapitalistischen Produktions- und Vermarktungsprinzips sowie seinen Auswirkungen auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der armen Bevölkerung konfrontiert. Der damals real existierende » Manchester Kapitalismus dient auch heute noch als Synonym für die Beschreibung menschenunwürdiger und ungerechter Verhältnisse. Um nun die Fortschrittlichkeit der Barnettschen Prinzipien beurteilen zu können, ist es hilfreich, die Lage der Armen im England des ausgehenden 19. Jahrhunderts etwas genauer zu beleuchten.
Als eines der wenigen Länder in Europa verfügte England seit dem 16. Jahrhundert über eine „Armengesetzgebung“, in der im wesentlichen drei Grundsätze festgehalten waren:
- Jeder Hilfebedürftige muss vor lebensbedrohlicher Not bewahrt werden. Die Ursachen, die zum eintreten der Notsituation führten, sind für die Gewährung der Unterstützung nicht von Bedeutung.
- Die Hilfe bleibt auf das absolute Minimum des zum Leben erforderlichen begrenzt. Die Höhe der Unterstützung muss in jedem Fall unter dem liegen, was der ärmste selbständige Arbeiter zum Leben hat.
- Mit der Erlangung der Armenunterstützung müssen für den Empfänger Nachteile verbunden sein. Sie sollen gewährleisten, dass der Bedürftige diese Hilfe nicht dauerhaft in Anspruch nimmt. (Aschrott in Müller, 1991, S. 30)
Um eine abschreckende Wirkung auf die Armen zu erzielen, erwartete jeden Empfänger von Armenunterstützung:
- der » Verlust seiner bürgerlichen Ehrenrechte
- eine äußerst aufwendige » bürokratische Prozedur
- die sofortige Einweisung zur » Zwangsarbeit im Arbeitshaus und die seiner Kinder in eine Armenschule
Der staatlichen Armenhilfe dieser Zeit stand die privat organisierte Armenpflege von zumeist christlichen Wohlfahrtsorganisationen gegenüber. Während erstere durch Repression und Abschreckung gekennzeichnet war, verteilten letztere » milde Gaben nach Beliebigkeit an Bedürftige ihrer eigenen Kirchgemeinde. Gerade diese Prinzipienlosigkeit im Hinblick auf die Ausgabe milder Gaben bestärkte Samuel Barnett in der Annahme, dass derartige Almosen die Selbsthilfekräfte der armen Bevölkerung lähmen und künstliche Abhängigkeiten verfestigen. Nicht nur dass die Praxis der privaten Armenhilfe nach Meinung der Barnetts „für den Empfänger beleidigend und den Geber verächtlich sei“ (Barnett zitiert in Müller, 1991, S. 37 ), sie war zudem – genau wie die staatliche Armenpflege – in einem hohen Maße uneffektiv und erfolglos. Um diesen Tatsachen angemessen zu begegnen und ihnen gleichzeitig ein wirkungsvolleres Konzept entgegenzusetzen, kam es zur Gründung der Toynbee Hall.
Ziele
Im Zentrum aller Bemühungen stand die Weckung bzw. Stärkung der Selbsthilfekräfte der Bewohner von Whitechapel. Damit eng verknüpft war der Wiederaufbau von Ressourcen, Mut und Würde sowie der Abbau von Abhängigkeiten (milde Gaben, staatliche Armenhilfe). Der favorisierte Weg zur Erreichung dieser Ziele war die notwendige Bildung und Erziehung der Armutsbevölkerung mit dem ebenfalls notwendigen Lernen der kultivierteren und gebildeteren Bevölkerungsschicht zu verknüpfen. Auf diese Weise sollte es allmählich zu einem Verständnis zwischen Besitzenden und Besitzlosen kommen, was wiederum der Garant dafür war, dass sich auf kurz oder lang auch die materiellen Lebensbedingungen der Armen und Arbeiter verbessern. Ein weiterer und nicht zu unterschätzender Nebeneffekt dieser Entwicklung sollte in einer – zumindest lokalen – Klassenversöhnung bestehen.
Zu den Zielen der » Universitätsniederlassung gehörte es weiterhin, den Bewohnern der Elendsquartiere durch ihr Beispiel und Engagement Mut und Zuversicht zu vermitteln. Parallel dazu sollten die nötigen Sozialreformen durch die angehenden Akademiker vorangetrieben werden, indem sie als Angehörige der Mittelschicht, auch und gerade innerhalb ihres eigenen Standes, für Aufklärung und Verständigung eintraten. Damit würden die Chancen für Veränderungen auf kommunalpolitischer Ebene, ebenso wie das generelle Renommee des Londoner Ostens steigen.
Neben diesen mitunter philosophisch anmutenden Metazielen – die im übrigen für die Settlement-Bewegung leitend wurden – kamen im Laufe der Jahre konkretere Zielsetzungen hinzu:
- Bessere Schulgesetze für Frauen und Kinder
- Maßnahmen zur Verbesserung der Lage von unehelichen Kindern
- Beseitigung der gesetzlichen Hindernisse bei der Geburtenregelung
Leitbilder
Ausgehend von sozialreformerischen und religiösen Überlegungen, stellten die Londoner » Settler erstmals einen direkten Zusammenhang zwischen sozial- und bildungspolitischer Unterprivilegierung und mangelnder geistiger und sozialer Emanzipation her (Oelschlägel in Jahrbuch Gemeinwesenarbeit 1, S. 172). Demnach musste erst Bildung und Kultur unter den Armen verbreitet werden, um sie zu verantwortungsvollen Bürgern zu machen. Mit der Macht der Freundschaft und einem gewissen Maß an sozialer Harmonie sollte es weiterhin möglich sein, die Armen moralisch und charakterlich zu stärken. Diese Leitgedanken legten den Grundstein das spätere Kultur - und Bildungskonzept der Toynbee Hall.
Andere handlungsleitende Motive der späteren Arbeit entstanden in der Auseinandersetzung mit der Armenhilfe jener Jahre. So sollte Armenhilfe, Barnetts Vorstellung nach, erzieherisch auf den Bedürftigen einwirken, damit er in Zukunft in die Lage versetzt wird, sein Leben aus eigener Kraft zu bestreiten. Dazu gehörte auch die Einsicht, dass die zum Leben notwendigen Mittel, wenn möglich, durch Arbeit aufgebracht werden mussten. Abschreckung und willkürliche Almosen hingegen zerstörten auf Dauer die Achtung der Armen vor sich selbst, und behindern so eher einen Neuanfang, als dass sie ihn befördern. Seine Vision von einer anderen Armenhilfe orientierte sich vor allem an zwei Prämissen:
- Kooperation soll an die Stelle von Mildtätigkeit treten
- Gerechtigkeit müsse die Rolle von Nächstenliebe übernehmen
Umsetzung
Nachdem Vorgespräche mit Universität und Kirche abgeschlossen waren, gingen alle Beteiligten schnell daran, das Vorhaben in die Tat umzusetzen. Der notwendige erste Schritt bestand in der Gründung eines eingetragenen Vereins. Das Startkapital von 6000 £ wurde eingeworben und die Universität übernahm die anfallenden Kosten für die Miete und die Unterhaltung des Hauses. Die Bezahlung des Leiters, der Zeit seines Lebens Samuel Barnett hieß, übernahm die Kirche.
Pädagogik/Sozialarbeit/kulturelle Veranstaltungen
An erster Stelle galt es, ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Menschen in der Umgebung von Toynbee Hall aufzubauen. Dem arrangieren von persönlichen Begegnungen zwischen den Mitglieder der verschiedenen sozialen Klassen kam daher eine zentrale Rolle zu. Die Methode der Barnetts bestand in der Ausrichtung einer Vielzahl von » kulturellen Veranstaltungen. Das Spektrum reichte dabei von Dinnerpartys, Musikkonzerten, Kunstausstellungen in der eigenen » Gemäldegalerie bis hin zu politischen Vorträgen. Bei diesen geselligen Treffen kam es den Veranstaltern vor allen Dingen darauf an, dass sich die Anwesenden als gleichwertige und gleichgestellte Akteure wahrnahmen. Die Wiedererlangung der Genussfähigkeit und die Teilhabe an Kultur waren erste wichtige Schritte auf dem Weg zur Stärkung der Selbsthilfekräfte der notleidenden Bevölkerung.
Die andere tragende Säule im Barnettschen Prinzip hieß Bildung. Um das Credo „Bildung statt milder Gaben“ in die Taten umzusetzen, gründeten die Bewohner der Toynbee Hall Abend- und Sonntagsschulen, sowohl für Kinder als auch für Erwachsene. Da der Hausherr ein ausgesprochener Gegner der herkömmliche Schuldidaktik war, beschritt man auch in der Organisation der Weiterbildungsangebote neue Wege. So wurde nicht etwa das recht unbewegliche und hierarchische Frontalunterrichtsprinzip gewählt, sondern es kam das – vor allem in der elitären Oberschicht bekannte – Prinzip der » Clubs zum Einsatz. Diese, dem heutigen Vereinsleben nicht ganz unähnliche Form der Interessenwahrnehmung, gelangte in der Toynbee Hall mit mehr als 25 verschiedenen Clubs zu ihrer wahren Blütezeit. Ganz im Sinne des Prinzips, Hilfe zur Selbsthilfe, wurden die Interessen- und Arbeitsgruppen lediglich durch die Bereitstellung von Räumen, Licht und Heizung sowie organisatorischer Hilfestellung unterstützt.
In der Initiierung verschiedener Freizeitangebote sahen die Gründer von Toynbee Hall schließlich eine inhaltliche Abrundung ihres Konzepts. Neben der Gründung einer Leihbücherei, die es im weiteren Verlauf noch zu einiger Berühmtheit bringen sollte, entstanden ebenfalls noch eine Vielzahl von Kinderspielplätzen und Treffmöglichkeiten für die jüngsten Bewohner von Whitechapel. Als bahnbrechend für diese Zeit kann die Idee der Kinderlandverschickung gelten, durch die über 400 Kinder die Möglichkeit hatten, erstmals Urlaub außerhalb der Stadt zu machen.
Ein ähnlich fortschrittlicher Plan war die Einrichtung des Reisedienstes für Erwachsene. Der Organisationsaufwand, der beispielsweise nötig war, um mit ca. 400 Mitbürgern von England nach Griechenland und Italien zu reisen, erscheint auch heute noch immens.
Sozialpolitik
Im Laufe der Entwicklung von Toynbee Hall schärfte sich auch das sozialpolitische Profil der Londoner Settler. In der vor allen geistigen Auseinandersetzung mit dem Sozialismus – den die Barnetts bis zu ihrem Tode als unpraktikabel klassifizierten – kristallisierten sich jedoch weitreichende Forderungen an den Staat, als organisatorischen und normativen Rahmen des Gemeinwesens heraus. So forderte beispielsweise Samuel Barnett eine Erweiterung der staatlichen Armenhilfe, weil diese zum einen zu restriktiv sei und den tatsächlichen Hilfebedarf nur ungenügend decke. Ergänzend dazu plädierte er für staatliche Arbeitbeschaffungsprogramme und für eine staatliche garantierte Mindestrente. Der Umstand das es – in seinem Sterbejahr 1913 – 39 Millionen Engländer gab „die trotzt harter Arbeit in Armut leben, während sich 6 Millionen an den Früchten dieser Arbeit delektieren“ (Barnett zitiert in Müller, 1991, S. 48) veranlasste ihn zu der Forderung einer Einkommensumverteilung. Das adäquate politische Mittel zur Umsetzung dieser Forderung war für ihn eine Reform der Steuergesetzgebung.
Aufgrund ihrer Beobachtungen und Erfahrungen im Londoner Osten erkannten die Settler zwar die Klassengegensätze in der englischen Gesellschaft, einen Klassenkampf lehnten sie jedoch vehement ab. Vielmehr erschien ihn der Ausgleich von Bildungsunterschieden das geeignetere Mittel zur Überwindung des Klassenhasses zu sein (Oelschlägel in Jahrbuch Gemeinwesenarbeit 1, 1984, S.178).
Historische Bedeutung
Zusammenfassend kann man festhalten, dass es dem Ehepaar Barnett als Begründer der Settlementbewegung als erstes gelang, einen direkten Gemeinwesenbezug herzustellen. Ihrem Beispiel ist es zu verdanken, dass auch nachfolgende Generationen versucht wurde die Erziehung und Bildung der Armen und Erwerbslosen mit der Einsicht der Begüterteren und Gebildeteren zu verbinden. Das Projekt, Toynbee Hall als einen Ort der Vermittlung, Geselligkeit und Bildung zu etablieren, kann (zumindest zu Barnetts Lebzeiten) als durchaus erfolgreich beschrieben werden.
Motiviert wurden alle Beteiligten von der Hoffnung und Überzeugung, dass sich auf diese Art und Weise Defizite des Stadtteils mit den Ressourcen der Bewohner und denen der Akademiker, zu einem großen Teil kompensieren lassen. Obwohl die Barnetts aus historischer Sicht wohl eher in die sozialreformerische Kategorie einzuordnen sind, betrieben sie ihr Gerechtigkeits- und Kooperationsstreben innerhalb des Stadtviertels, aber auch innerhalb ihrer eigenen sozialen Schicht, jedoch mit einiger Radikalität. Toynbee Hall gilt als direktes Beispiel sowohl für Jane Adams und ihr » Hull House, als auch für das » Hamburger Volksheim und die » Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin Ost.
Grafik zur Umsetzung der Programmatik
Grafik: Götze, 2003
Fragen zu Toynbee Hall:
- Umreißen Sie die Idee und die Zielstellung die hinter Toynbee Hall stand. Beziehen Sie sich dabei auch auf die Ausführungen zur Settlement-Bewegung.
- Welche Prämissen der Arbeit waren für das Ehepaar Barnett im Umgang mit den Armen handlungsleitend?
- Welche Unterschiede bestanden im Ansatz der Toynbee Hall und der der traditionellen Armenpflege im England des 19. Jahrhunderts?
- Welchen Standpunkt vertraten die Barnetts in Bezug auf die Arbeiterbewegung und den Klassenkampf? Beschreiben sie das von ihnen vertretene Alternativ-Konzept.
- Erläutern Sie an zwei Beispielen, mit welchen Mitteln/Methoden die Ziele umgesetzt wurden.
- Wie erklären Sie sich, dass Toynbee Hall für zahlreiche nachfolgende Ansätze und Einrichtungen als direktes Vorbild gelten kann?