Gemeinwesenarbeit als 3. Methode

Kategorie

Gemeinwesenarbeit zwischen dem Anspruch der Gesellschaftsveränderung und kommunalpolitischer Strategie


Was ist Gemeinwesenarbeit (GWA) als 3. Methode?

„In der Fachliteratur wird GWA gemeinhin als eine Methode der Sozialarbeit verstanden – und an den Fachhochschulen wird sie als Vertiefungsfach neben Einzelhilfe, sozialer Gruppenarbeit gelehrt –, die im Gegensatz zu den anderen Methoden ganze Nachbarschaften, Stadtteile und Gemeinden zum Gegenstand sozialpädagogischer Einflussnahme macht.“

(Kreft/ Mielenz, 1996, S. 232)

Gemeinwesenarbeit ist so vielseitig und unterschiedlich, dass man die Frage nach dem „Was ist Gemeinwesenarbeit?“ nicht so ohne weiteres beantworten kann. Es gibt nicht die GWA. Die Verwendung des Begriffs Gemeinwesenarbeit ist häufig mehrdeutig. Er steht für die Beschreibung kommunaler Strategien als ein Steuerungsinstrument von oben, aber auch für kirchlichen Gemeindeaufbau oder stadtteilbezogene Intervention.  Er dient des weiteren als Etikett für selbstorganisierte Bürgerinitiativen im Sinne einer Beteiligungsmöglichkeit von unten. Die begriffliche Bestimmung muss immer mit Blick auf das jeweilige Entwicklungsstadium sowie den Kontext vorgenommen werden. Zugänge und Handlungsansätze sind dabei differierend. Einerseits wird Gemeinwesenarbeit als eine Methode betrachtet und andererseits als ein übergreifendes Prinzip unterschieden.
Um die Entwicklungslinien in Deutschland von Gemeinwesenarbeit zur 3. Methode kenntlich zu machen, muss man zwischen der literarischen Rezeption und der methodischen Entwicklung unterscheiden. Gemeinwesenarbeit als 3. Methode fand sich in Deutschland ursprünglich nur in Lehrbüchern wieder. Dabei wurde GWA an den Fachhochschulen für Sozialpädagogik in die Rahmenlehrpläne aufgenommen. Dem ungeachtet gab es jedoch kaum Untersuchungen über die zu vermittelnden Inhalte. In den USA und Kanada hingegen wurde seit 1963 Gemeinwesenarbeit als 3. Methode der Sozialarbeit anerkannt. Hier, aber auch in Großbritannien, besitzt GWA eine reale Tradition, in Deutschland hingegen ist sie bis auf wenige Ausnahmen, wie zum Beispiel die » SAG-Ost oder das » Hamburger Volksheim, nicht aus der Praxis erwachsen. Insbesondere die Rezeption der Lehrbücher von » Murray G. Ross und Walter A. Friedländer brachte die Diskussionen in Gang. Mitte der 60er Jahre fand die Auseinandersetzung um Gemeinwesenarbeit nicht mehr nur in Lehrbüchern statt, sondern es entwickelte sich eine Praxis. Infolge der Wirtschaftskrise waren die Gemeindekassen leer und die Problemlagen in den Städten und am Stadtrand verschärften sich. In den Innenstädten kam es zu einer Totalsanierung unzähliger Wohnungen, weshalb viele Menschen an den Stadtrand zogen. Die dort entstanden Hochhaussiedlungen, beispielsweise das Märkische Viertel in Berlin, und die Innenstädte verloren ihre traditionsreichen Gesichter, da alte Bauten durch Gebäude für Konsum und Dienstleistungen ersetzt wurden. Die Probleme waren immer offensichtlicher, es fehlte an Versorgungseinrichtungen und Infrastruktur. Die Lebenssituation vieler Menschen verschlechterte sich immer mehr und die Zahl der wohnungslosen Menschen stieg stetig. Daraufhin reagierte die Gemeinwesenarbeit und wurde an mittlerweile drei klassischen Orten aktiv. Dies geschah in folgenden Etappen:

  • 1965/66 Obdachlosenghettos
  • 1967/68 Sozialer Wohnungsbau, sogenannte „Trabantenstädte“
  • 1969/70 innerstädtische Sanierungsgebiete.

In diesen drei Aufgabengebieten war das Grundprinzip von GWA, die Bürger zu mobilisieren, damit sie ihre Interessen und Bedürfnisse in den elementaren Bereichen wie Wohnen, Infrastruktur und Freizeitgestaltung selbst artikulieren und gegebenenfalls auch durchsetzen. In den verschiedenen Projekten gab es unterschiedliche strategische Vorgehensweisen. Sie differierten insbesondere im Ansatz bezüglich des Umgangs mit Konflikten. Beginnend mit der Protestbewegung Ende der 60er Jahre, entstehen neue Handlungsmodelle. Die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in der BRD wirken in dieser Zeit auch auf die Gemeinwesenarbeit. In den 70er Jahren kristallisierten sich verschiedene Methodenansätze heraus, die in den folgenden Absätzen detailliert ausgeführt werden:

  • Wohlfahrtsstaatlicher/ Sozial-Integrativer Ansatz
  • Aggressiver Ansatz
  • Konfliktorientierter Ansatz
  • Reformpädagogischer Ansatz
  • Katalytisch-Aktivierender Ansatz

Idee

Gemeinwesenarbeit hat ihre Ursprünge in der amerikanischen » Settlement-Bewegung. Da sich die Wohn- und Lebenssituation in den Städten ab Mitte der 60er und Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts veränderte, konnte der wachsenden Not nicht mehr nur durch öffentliche Träger sowie private Dienstleistungen begegnet werden. Die Rolle der Sozialen Arbeit, die bis dahin vordergründig fürsorgerisch tätig war, konnte den veränderten Anforderungen bezüglich Leistungsnachfrage und -fähigkeit von sozialen Diensten nicht mehr nachkommen. Der Staat erkannte GWA immer mehr als Frühwarnsystem, die als Methode hilfreich ist, um  Interessen von oben durchzusetzen und einen reibungslosen sowie konfliktarmen Ablauf demokratischer und gesellschaftlicher Prozesse zu unterstützen. Bei der Arbeit mit Randgruppen, wie Obdachlosen, Nichtsesshaften oder aber auch Frauen, verbindet Gemeinwesenarbeit einerseits die Durchsetzung kommunaler Interessen. Andererseits geht es bei der Arbeit mit den sozial benachteiligten Menschen um die Schaffung neuer Instrumentarien für die Problembewältigung. „Jede soziale Arbeit hat ihre ´Philosophie´: die sich entwickelnde Gemeinwesenarbeit aber ist ganz besonders angewiesen auf den ideologischen Topos eines organischen und harmonischen Zusammenlebens“ (Wendt in Ebbe/ Friese, 1989, S. 3). Gemeinwesenarbeit wurde auch immer mehr als politische Alternative angesehen. Dafür war die Entwicklung der » Studentenbewegung wesentlich, die das Politische wieder entdeckte. GWA sollte als Handlungsstrategie politisch-sozialer Konflikte fungieren, was in die Praxis nur bedingt Eingang fand. Es gab in dieser Zeit eine Debatte darum, dass sich Sozialarbeiter bewusst „Gemeinwesenarbeiter“ nannten, um sich von der ihrer Meinung nach System stabilisierenden sowie unpolitischen Sozialarbeit abzugrenzen. Gemeinwesenarbeit folgte keinem geschlossenen Methodenkonzept und die Vertreter haben unterschiedliche Herangehensweisen (Gerth, 1975, S. 95). Im Folgenden soll über die verschiedenen Ansätze ein Überblick gegeben werden:

  1. Einer der bekanntesten Protagonisten des wohlfahrtsstaatlichen/sozial-integrativen Ansatzes ist Murray G. Ross. Er propagierte die Einbindung der Bürger in ihr System. Für ihn hatte Gemeinwesenarbeit zwei voneinander abhängige Hauptaspekte, den der Planung und den der Integration. Mit Planung meinte er einen komplexen Vorgang, der alle Aspekte des Handelns mit einbezieht. In diesem Planungsprozess war es wesentlich, die Probleme herauszufiltern, Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten und in Richtung der ausgewählten Lösung aktiv zu werden. Der zweite Aspekt war der der „Gemeinwesenintegration“, wo durch kooperatives Verhalten das Verantwortungsgefühl für das Gemeinwesen gefördert werden sollte (Ross, 1968, S. 66). Er bezog sich dabei auf zwei Gruppierungen, einerseits auf die Menschen, die in einem bestimmten geografischen Bereich lebten und andererseits auf die mit gemeinsamen Aufgaben und Interessen. Aus dem entstandenen Gefühl, das mit der Meinungsäußerung einher ging, sollte dann die Motivation zum Handeln erwachsen. Bei diesem Konzept von Gemeinwesenarbeit ging es hauptsächlich um eine Verbesserung der Dienstleistungsangebote im Gemeinwesen. Dem Rückgang ehrenamtlicher Tätigkeiten galt es entgegenzuwirken. Mit seinem Standardwerk (1968) nahm er eine Mittelposition zwischen konservativen und aggressiven Ansätzen von Gemeinwesenarbeit ein. Konservative Konzepte zielten auf eine Verbesserung der Koordination und der Organisation der sogenannten Wohlfahrtsgemeinde ab. Dem gegenüber stand der aggressive Ansatz, welcher auf die Veränderung von Kräfteverhältnissen und Machtstrukturen innerhalb eines Gemeinwesens abzielte. An seinem Ansatz wurden die System bejahenden und harmonisierenden Züge angefochten und exemplarisch für die Kritik von Links ist die von C.W. Müller: „Mit seinem Konzept von harmonisierender Gemeinwesenarbeit bleibt Murray G. Ross selbst hinter jener Praxis von aggressiver Gemeinwesenarbeit zurück, die – ohne explizit gesellschaftssprengend, ja, unter Umständen nicht einmal gesellschaftsdehnend zu sein – in den letzten Jahren im Rahmen nordamerikanischer Minderheitenbewegungen und im Kampf gegen Armut entwickelt worden ist“ (Müller, 1971, S. 234).
  2. Der aggressive Ansatz entwickelte sich aus der Kritik an dem wohlfahrtsstaatlichen/sozial-integrativen Konzept. Gemeinwesenarbeit wollte durch das Herausstellen von Klassengegensätzen und gemeinsam erlebtem Unrecht eine soziale Bewegung formieren. Benachteiligte Minderheiten sollten sich für eine Revolution von unten zusammenschließen, um die Macht- und Kräfteverhältnisse zu verändern. Die Veröffentlichung von C. W. Müller (1971) bildete mit einer differenzierten Gesellschaftsanalyse den theoretischen Hintergrund. Bezug nehmend auf die » Konflikttaktiken von Saul D. Alinsky und die » Community Action Programms in den USA wandte sich die 68er Bewegung gegen den integrierenden Ansatz und bevorzugte ein aufdeckendes sowie kämpferisches Vorgehen. Favorisiert wurden disruptive Aktionsformen wie Demonstrationen, Mietstreiks, die Verletzung der Verkehrsregeln sowie öffentlicher Ungehorsam. Eine weitere wichtige Vertreterin des aggressiven Ansatzes ist Christine Raiser. Grundlegend für ihre Analyse war die Annahme eines Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit, der für gesellschaftliche Konflikte verantwortlich sei (Raiser in Graf/Raiser/Zalfen, 1976, S. 115). Reformen wurden als System erhaltend eingeschätzt. „Der Staat vertritt als ideeller Gesamtkapitalist die langfristigen Interessen des Kapitals... die Kooperation mit staatlichen Institutionen hat nur taktische Bedeutung“ (Graf/Raiser/Zalfen, 1976, S. 124 f.). Diese Analyse wirkte sich konkret in der » Umsetzung auf die Arbeit mit Obdachlosen aus.
  3. Der konfliktorientierte Ansatz stand in einem engen Zusammenhang mit der Studentenbewegung in den 70er Jahren und deren Bedeutung für die Sozialarbeit. Der linken » Randgruppenstrategie gemäß sollten unterdrückte Minderheiten mobilisiert werden, um gesellschaftliche Veränderungen zu forcieren und radikale Praktiken anzuwenden. » Harry Specht zählt zu den wichtigsten Vertretern dieses Ansatzes. Der theoretische und praktische Bezugsrahmen war die » schwarze Bürgerrechtsbewegung. Die Gewaltfrage innerhalb der nordamerikanischen Gesellschaft bildete den Ausgangspunkt für seine Überlegungen. Die Strategien von Gemeinwesenarbeit beschrieb er als disruptive Taktiken. In seinem Verständnis ist Disruption eine Strategie, um das Handlungssystem des Gegners für eine bestimmte Zeit außer Kraft zu setzen. Dabei ging es darum, das System zu stören, jedoch nicht zu zerstören. Kampf und Disruption sollten erst dann zum Tragen kommen, wenn die Strategie der Schlichtung und des Ausgleichs nicht wirkten. In der Regel lief es in drei Schritten ab. Zunächst ging es darum, argumentative Überzeugungsarbeit zu leisten, um Kooperationen zu schließen. Auf einer zweiten Stufe sollten die verschiedenen Positionen aufeinander treffen. Mit Hilfe von Kampagnen-Taktiken ging es nun darum, verschiedene Kompromisse auszuhandeln. In dieser Phase sollten Verkehrsformen bewusst, aber gewaltlos verletzt werden. Beispiele hierfür wären Hunger- oder Mietstreiks sowie kleinere Demonstrationen. Auf der letzten Stufe wurden disruptive Taktiken, wie „Sit-ins“ in Warenhäusern oder auf Eisenbahnschienen, angewendet. Diese Interventionsformen sind nicht als voneinander isolierte Aktionen zu begreifen. Um die existierenden Statusbeziehungen herauszufordern, sowie gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen, wurden diese Taktiken auch parallel und gleichzeitig angewendet. Die folgende Tabelle fasst diese Stufen noch einmal zusammen, wobei Sozialarbeit auf den ersten drei Stufen wirken sollte.
    Die Stufen des konfliktorientierten Ansatzes:
    Wenn die intendierten gesellschaftlichen Veränderungen wahrgenommen werden als: ...ist die Reaktion ...ist die Interventionsform
    a) Reform (wird von Specht im Sinne von Widerherstellung eines ursprünglichen Zustandes gebraucht) der Ressourcen Zustimmung Kooperation

    b) Umverteilung der Ressourcen

    Vorbehalt

    Konkurrenz-Kampagne

    c) Veränderung der Statusbeziehungen Ablehnung Disruption

    d) Rekonstruktion des gesamten gesellschaftlichen Systems

    Aufstand

    Gewalt

    Quelle: Specht in Müller/ Nimmermann, 1971, S. 211

    Durch das Zusammenstoßen verschiedener Positionen mit der Verletzung der Verkehrssitten sowie den gesetzlichen Normen setzte ein Lernprozess auf institutioneller Ebene und bei den Individuen ein. » Bahr/Gronemeyer (1974) beschrieben den Lernprozess innerhalb der institutionellen Strukturen als eine Transformation von Entscheidungsprozessen in Richtung Dehierarchisierung und Demokratisierung. Für die Individuen führte das Lernen zu einer Mobilisierung, Politisierung sowie Emanzipation. Die Autoren stellten heraus, dass es Harmonie nur nach dem Konflikt geben kann, der gesellschaftliche Widersprüche ausräumt.

  4. Zwei Vertreter des reformpädagogischen Ansatzes sind Gerd Iben und Pedro Graf. Bei dieser Form wurde davon ausgegangen, dass Reformen eine ambivalente Bedeutung haben. Einerseits dienen sie zur Systemstabilisierung, andererseits können sie auch systemverändernde Wirkung erzielen und somit die Verhältnisse verbessern. Graf (1976) sprach daher von einem Doppelcharakter staatlicher Reformen. Er hielt die Zusammenarbeit mit Institutionen aus strategischen Gründen für notwendig, „um auf diese Weise einen Beitrag zu einer allmählichen Transformation des Staates in ein Instrument der breiten Masse der Bevölkerung zu leisten“ (Graf/Raiser/Zalfen, 1976, S. 125). Bei der konkreten Arbeit mit Obdachlosen wurde die unterschiedliche Herangehensweise in der » Umsetzung  im Vergleich zum aggressiven Ansatz deutlich.
  5. Der katalytisch-aktivierende Ansatz ist zeitlich etwas später einzuordnen und beschreibt ein betont pragmatisches Konzept für die Praxis. Hauser beschrieb dieses schon Anfang der 70er Jahre und mit der Veröffentlichung von Hinte/Karas im Jahr 1979 wurde es weiterentwickelt. Grundlage des Ansatzes bildete die utopische Vorstellung von einer herrschafts- und hierarchiefreien Gesellschaft, in der die Menschen nicht unterdrückt werden. Solidarisches Verhalten wurde hoch geschätzt, um durch die Identifikation mit den Problemen anderer gemeinsame Lösungswege zu finden. Durch entstandene Gruppenstrukturen sollten die Menschen einer Straße, eines Viertels oder einer Stadt ihre Ohnmachterfahrungen überwinden und eigene Kräfte entwickeln. Innerhalb der Gruppe wurde entschieden, wie mit einem Konflikt umgegangen werden sollte. Ein entscheidendes Kriterium für Dimension des Konfliktes war die Relevanz diese und ob es von der Gruppe gemeinsam getragen werden konnte. Der aktivierende Ansatz folgte der Leitidee, dass nur die betroffenen Menschen selbst sich für die Umverteilung von Macht einsetzen können. Die Veränderung der Verhältnisse wurde in Abhängigkeit zu den Menschen gesehen, die in diesen Strukturen lebten. Der Ansatz folgte den Vorstellungen eines radikalen Demokratieanspruchs, im Sinne einer » Graswurzelbewegung.
    Der katalytisch-integrative Ansatz:
    Gemeinwesenarbeit ist eine Methode = durchdachter Weg
    die einen Komplex von Initiativen ausgelöst, durch die Bevölkerung einer räumlichen Einheit = Straße, Wohnsiedlung, Viertel, Stadt, Land
    gemeinsame Probleme erkennt, alte Ohnmachterfahrungen überwindet und eigene Kräfte entwickelt = Gemeinwesenarbeit als Instrument zur Aufdeckung von Interessensgegensätzen  und Konflikten

    Quelle: Hinte/Karas, 1989, S. 23


Gesellschaftliche Situation

 

Die Entwicklung von Gemeinwesenarbeit steht in einem engen Zusammenhang zu den gesellschaftlichen Veränderungen. Während sich die Bundesrepublik Deutschland in der Mitte der 50er Jahre und bis Anfang der 60er konsolidierte, waren die kommenden Jahre von innenpolitischen Krisen geprägt. Zweifel wurden laut, ob das Prinzip der liberalen Marktwirtschaft in der Lage ist, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen. Der Vietnamkrieg ließ den Dollar immer schwächer werden und führte zu einer allgemeinen Wirtschaftskrise. Mit dem Austritt der Liberalen aus der CDU/CSU-FDP-Koalition kam es zum Bruch und zu einem Regierungswechsel. Am 01. Dezember 1966 wird Kiesinger zum Kanzler der CDU/SPD-Regierung gewählt. Die zunehmend schwache Finanzlage des Bundes ließ immer mehr Probleme sichtbar werden. Es fehlte an Schulen, Krankenhäusern sowie Nahverkehrsmitteln. Die Konzentration und Monopolisierung von Industriekomplexen führte zu einem massenhaften Bau neuer Schlafstädte, wo die nötigen sozialen Einrichtungen fehlten. Mitte und Ende der 60er Jahre kam es am Stadtrand zu einem Bauboom, in denen » Stadtentwicklungsplanung zum Tragen kam. Mit der Häufung der sozialen Probleme an so genannten „Brennpunkten“, wie Obdachlosenquartieren, Sanierungsgebieten sowie Trabantensiedlungen, war die Einzelfallhilfe und Gruppenarbeit überfordert. Die sich ständig ändernden Verwertungsbedingungen, wie die Erweiterung des Marktes oder Strukturveränderungen, forderten eine erneute Anpassung staatlicher Maßnahmen (Victor Gollanzc Stiftung, 1975, S. 102 f.). Nachdem alle staatlichen Versuche der Integration in die Angebote des Wohnungs- und Arbeitsmarktes von Obdachlosen und Nicht-Sesshaften scheiterten, wurde Gemeinwesenarbeit zunehmend als neues Instrument kommunaler Fürsorge eingesetzt, da die Ursachen für die Probleme eher in den Lebensbedingungen zu suchen waren. Für die Verbreitung der GWA war der Wille der Bevölkerung zur aktiven Beteiligung wesentlich. Die Umrisse einer entstehenden linksgerichteten Außerparlamentarischen Opposition (APO) zeichneten sich immer deutlicher ab. Mit der positiven Bezugnahme auf die Befreiungsbewegungen in der „Dritten Welt“ und den immer größer werdenden Antikriegsdemonstrationen gegen den Vietnamkrieg kam es zu einem Erstarken der APO. Mit „Sit ins“ oder „Go ins“ als Adaption des gewaltlosen Widerstandes nach dem Vorbild Ghandi`s sollte die Große Koalition überwunden werden, welche als Inbegriff der bürgerlichen Verhältnisse gesehen wurde. Nachdem Benno Ohnesorg auf einer friedlichen Demonstration von der Polizei erschossen wurde, setzte eine Radikalisierung der APO ein. Im Jahr 1968 stimmte die SPD den Notstandsgesetzen zu, die es ermöglichten, bestimmte Grundgesetze zeitweise außer Kraft zu setzen. Diese Verabschiedung wurde von heftigen Protesten, auch von den Gewerkschaften begleitet. Bei den Bundestagswahlen 1969 verliert die CDU/CSU so viele Stimmen, dass die SPD mit Willy Brandt als Bundeskanzler zusammen mit der FDP eine Koalition bilden konnte. Das Klima in der BRD verschärfte sich zusehends. „Extremistenbeschlüsse, Radikalenerlasse, Überprüfungen von Tausenden Beamtenanwärtern, um am Ende zu sehen, dass vielleicht fünf oder zehn die ´freiheitlich-demokratische Grundordnung´ in ihrem Wesensgehalt nicht akzeptieren, das schuf in den siebziger Jahren ein Klima der Bespitzelung und der Verdächtigungen, das vielen Menschen die Würde nahm und ihr Vertrauen zu diesem Staat brach“ (Negt, 1998, S. 258).  In Folge des » Radikalenerlasses kommt es zu Berufsverboten.
Die Bau- und Konjunkturkrise in der Bundesrepublik forderte immer drastischere Einsparungen, was die Rücknahme vieler Reformen nach sich zog. Mitte der 70er Jahre begann sich die Methode der Gemeinwesenarbeit zu verändern. Es wurden verstärkt Realitätsdebatten geführt, welche Utopien ablösten. Infolgedessen orientierten sich sozialarbeiterische Konzepte immer mehr an der Praxis. Gemeinwesenarbeit verlor ihre starke Fundamentalkritik an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und wendete sich immer mehr alltags- und lebensweltorientierten Konzepten zu. Im Zuge der Entwicklung in den 70er Jahren, des allgemeinen Abbaus reformerischer Aktivitäten, kam es auch zu Schließungen von Projekten oder finanziellen Kürzungen, was für die Mutlosigkeit in der GWA nicht unwesentlich war. Einige sahen darin das generelle Ende der Gemeinwesenarbeit und formulierten die » Todesanzeige.


Ziele

Gemeinwesenarbeit als 3. Methode versuchte die Systembedingtheit der Probleme zu vermitteln, da diese in den Lebensbedingungen zu suchen sind. Dies sollte mit einer Veränderung des Politikverständnisses einhergehen. Insbesondere in den Anfängen von Gemeinwesenarbeit ging es darum, das Bewusstsein der Bevölkerung mit einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive zu verändern. GWA hatte das Leitziel, aus benachteiligten Wohngebieten lebendige Gemeinwesen zu entwickeln. Dabei waren zwei Komponenten wesentlich. Einerseits die Aktivierung und Unterstützung der Bewohner und andererseits die Förderung der materiellen sowie infrastrukturellen Ausstattung des jeweiligen Gebietes. Es ging darum, Menschen zu befähigen und zu unterstützen, ihre Lebensbedingungen maßgeblich mitzubestimmen. Auf der politischen Ebene wurde durch kollektive Einflussnahme der Demokratisierungsprozess innerhalb der Institutionen forciert. Die Bewohner sollten durch Beteiligung, zum Beispiel in Form von Interessenvertretungen, politische Lernerfahrungen machen. Auf der ökonomischen Ebene ging es um eine Verbesserung der Lebensbedingungen, um eine positiven Bewertung des Daseins in der jeweiligen Umgebung zu erreichen. Die verschiedenen Ansätze unterscheiden sich in der Herangehensweise, um dieses Ziel zu erreichen.

  • Beim wohlfahrtsstaatlichen/sozial-integrativen Ansatz stand das Zusammenwirken aller Bewohner auf der Basis gemeinsamer Werte sowie Vorstellungen im Mittelpunkt. Gemeinwesenarbeit machte sich zum Ziel, diese Personen zusammenzuführen, damit sie durch Gemeinschaftsempfinden gemeinsame Interessen und Aufgaben erkennen, für deren Durchsetzung sie sich engagieren. Integrative Probleme sollten auf dieser Grundlage besser lösbar sein. Ross strebte ein harmonisches Klima innerhalb des Gemeinwesens an und setzte auf ein selbstständiges Erkennen der Probleme durch die Bewohner.
  • Der aggressive Ansatz hatte eine grundlegende Gesellschaftsveränderung durch eine gerechtere Verteilung von Macht und Herrschaft zum Ziel. Nach der Marxschen Theorie ist der gesellschaftliche Grundwiderspruch durch das Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit gekennzeichnet. Ziel war eine Auflösung dieses Klassenverhältnisses, wobei der Adressat der Gemeinwesenarbeit die Arbeiterklasse sein sollte, da sie am meisten unter den Bedingungen litt. Die individuellen Interessen wurden als Klasseninteressen vermittelt und sichtbar gemacht. Gemeinwesenarbeit hatte hier den Anspruch, den Bewohnern professionelle Unterstützung anzubieten, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern.
  • Der konfliktorientierte Ansatz hatte das Ziel, über eine entwickelte Strategie der Schlichtung und des Ausgleichs den sozialen Wandel zu vollziehen. Gemeinwesenarbeit sollte diesen Prozess unterstützen, um die Kluft zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten nicht zu vertiefen (Specht in Müller/Nimmermann, 1971, S. 215). Es ging nicht um eine Destruktion der Institutionen, da der Prozess der Veränderung nur innerhalb der demokratischen Spielregeln zu organisieren sei. Ein weiteres Ziel war es, bei den institutionellen Strukturen und den Individuen einen Lerneffekt zu erreichen.
  • Bei dem reformorientierten Ansatz wurde sich positiv auf die Durchführung einer schrittweisen Umgestaltung bezogen. Es gab die Vorstellung, dass Reformen einen Doppelcharakter haben, der bei dem strategischen Vorgehen einbezogen werden sollte. Hierbei ging es um eine gezielte Zusammenarbeit mit den Institutionen, um die eigenen Ziel einer Veränderung des Systems, zu verwirklichen. Dafür sollten die Bürgerinitiativen mit kritischen und reformbereiten Kräften in den Institutionen zusammengeführt werden (Graf, 1976, S. 104). Es ging darum, alle Bestrebungen zu fördern, um die politischen Strukturen und Entscheidungsprozesse zu demokratisieren.
  • Der katalytisch-aktivierende Ansatz setzte auf eine zeitlich begrenzte Koalition zwischen den Bewohnern und den am Prozess beteiligten Institutionen. Bei dieser Zusammenarbeit ging es um die Diskussion gemeinsamer Grundwerte, wobei der kleinste gemeinsame Nenner die Grundlage bildete. Durch die individuellen Erfahrungen kam es auf den unterschiedlichen Ebenen zu Lernprozessen. Ziel war es, die politische Partizipationsmöglichkeiten zu stärken.
    Ziele des katalytisch-aktivierenden Ansatzes
    Menschen lernen dabei, persönliche Defizite aufzuarbeiten und individuelle Stabilität zu entwickeln = Änderung der Individuen = Lernen
    und arbeiten gleichzeitig an der Beseitigung akuter Notstände (kurzfristig) und an der Beseitigung von Ursachen von Benachteiligung und Unterdrückung. = Änderung der Verhältnisse

    Quelle: Karas/Hinte, 1989, S. 24


Leitbilder

Das Leitbild in der Gemeinwesenarbeit als 3. Methode war kein einheitliches, sondern differierte in den jeweiligen Konzepten und veränderte sich während der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Dieser Wandel ist insbesondere in Rückkopplung zu den gesellschaftlichen Veränderungen zu sehen. Durch den zunehmenden Abgleich der theoretischen Herangehensweisen mit den praktischen Möglichkeiten veränderte sich auch der Zugang sowie der Umgang mit den verschiedenen Institutionen und den Bewohnern.

  • Beim wohlfahrtstaatlich/sozial-integrativen Ansatz verhielt sich der Gemeinwesenarbeiter eher zurückhaltend. Er unterstützte die Bewohner bei dem Herausfiltern der Bedürfnisse und Probleme. Zu gegebener Zeit stellte er seine Einschätzungen und Auffassungen mit zur Diskussion. Die Rolle von Sozialarbeit war bei diesem Ansatz ausgleichend und integrierend, da Kooperation sowie Zusammenarbeit grundlegende Merkmale darstellten.
  • Das Leitbild des aggressiven Ansatzes wurde insbesondere durch Alinsky geprägt. Der Mensch mit seiner Fähigkeit, Veränderungen zu bewirken, stand im Mittelpunkt. Dabei war der Sozialarbeiter nur Helfer für mündige Bürger und folgte dem Leitspruch, nie etwas für andere zu tun, was sie nicht auch selbst machen könnten. Es wurde demzufolge kein Gewicht auf eine Advokatenrolle, im Sinne einer stellvertretenden Interessenwahrnehmung, gelegt. Die Bewohner sollten so unterstützt werden, dass sie ihre Interessen selber wahrnehmen können. Christine Raiser (1976) machte deutlich, dass bei aktivierender, radikaler Gemeinwesenarbeit die sozialarbeiterische Intervention ihre Priorität auf das ´Basisbein´ setzen sollte. Der Schwerpunkt wurde auf die Arbeit mit den Betroffenen gelegt, da diese aktiviert werden sollten. Die Bedeutung des ´Institutionsbeins´ war nur komplementär, da große Skepsis hinsichtlich der Reformbereitschaft und -fähigkeit gegenüber den verschiedenen Behörden bestand. Die Zusammenarbeit mit Institutionen erfolgte nur aus taktischen Erwägungen (Graf/Raiser/Zalfen, 1976, S. 122).
  • Die Rolle des Gemeinwesenarbeiters änderte sich während des ablaufenden Prozesses beim konfliktorientierten Ansatz. Als Professioneller war er Erzieher, der während des Prozesses zum Vermittler oder Anwalt werden konnte. Beim  Anwenden disruptiver Taktiken unterstützte er als Organisator. Auch hier wurde sich mit konkreten Forderungen an Institutionen gewandt, unterstützt durch Demonstrationen oder Streiks.
  • Der Ansatz der reformpädagogischen Vorgehensweise unterscheidet sich darin wesentlich, da es hier um eine direkte Zusammenarbeit mit den Institutionen ging. Durch einen klaren Arbeitsauftrag sollte der Rückhalt durch die Behörden erreicht werden. Der Sozialarbeiter handelte im Auftrag der Bewohner im Sinne einer anwaltlichen Vertretung, übernimmt somit eine Advokatenrolle. Als Gemeinwesenarbeiter mit Anwaltsfunktion war er insbesondere sozialen Randgruppen zur Seite gestellt, um sie bei der Artikulation ihrer Wünsche, Vorstellungen und Ziele zu unterstützen, und einen emanzipatorischen Effekt zu erreichen. Andererseits sollte diese Person als Sachverständiger die verschiedenen Vorstellungen im Planungsprozess vertreten.
  • Der katalytisch-aktivierenden Gemeinwesenarbeit liegt ein anti-paternalistischen sowie » antipädagogischen Ansatz zu Grunde. Der Sozialarbeiter sollte hier durch seine katalytische Funktion Veränderungen und Reaktionen beschleunigen. Er leistete bei Bedarf Unterstützung, um innerhalb des Gemeinwesens Prozesse anzuregen. Die Bewohner sollten sich ihrer Situation bewusst werden und die Bedingungen entsprechend ihrer Bedürfnisse ändern. Sie halfen sich selbst, indem Sprecher oder Gruppen die Bedürfnisse oder Probleme thematisierten. Professionelle unterstützten sie dabei, Gruppenselbsthilfe ins Leben zu rufen und Anlaufstellen zu initiieren. Die Bewohner sollten Erfahrungen mit selbst bestimmtem Handeln sammeln können. Im Umgang mit Behörden ging es nicht darum, Feindbilder zu erschaffen, sondern um sachlich konstruktive Zusammenarbeit.

Umsetzung

Was bedeutet dies für die Sozialarbeit?

In der Praxis sind nicht alle oben beschriebenen Konzepte der Gemeinwesenarbeit wieder zu finden. Die radikalen Ansätze, die theoretisch postuliert wurden, insbesondere bei dem aggressiven und dem konfliktorientierten Ansatz, tauchten kaum auf. In der Praxis fanden insbesondere reformpädagogische Konzepte ihre Umsetzung. Der katalytisch-aktivierende bildete die theoretische Grundlage für die Soziale Stadtteilarbeit, die erst Anfang der 80er Jahren als Konzept formuliert wurde.  Für die Obdachlosenarbeit sollen zwei konträre Ansätze gegeneinander diskutiert werden, da diese die Möglichkeiten einer praktischen Umsetzung verdeutlichen. Pedro Graf (1976) verfolgte, um gesellschaftliche Veränderung zu erzielen, den reformpädagogischen Ansatz. Bei der Suche nach möglichen Akteuren hielt er Obdachlose als ´revolutionäre Subjekte´ ungeeignet. Auf Grund der objektiven Lebensbedingungen und ihrer subjektiven Lage, wie Erkrankungen, psychische Destabilität und Resignation, waren sie seiner Ansicht nach für politische Prozesse untauglich. In einer antikapitalistischen Gesamtstrategie könnten sie als Objekte ergänzende sowie unterstützende Funktionen einnehmen. Es sollte daher ein Hauptziel von Gemeinwesenarbeit sein, die Obdachlosen in die Klasse der Lohnabhängigen zu re-integrieren. Das bedeutete konkret die Verbesserung der Wohn- und Lebenssituation. Um Vorurteile in der Bevölkerung abzubauen und die Zusammenarbeit mit den Institutionen zu verbessern, sollte Aufklärungsarbeit über die Ursachen von Obdachlosigkeit geleistet werden. Um diese Ziele zu verwirklichen, wurde eine Doppelstrategie entworfen, um einerseits als Agent des jeweiligen Trägers zu fungieren und andererseits die Interessen der Betroffenen zu vertreten (Graf in Graf/ Raiser/Zalfen, 1976, S. 109 ff.). Dem entgegen steht die Position von Christine Raiser (1976), einer Vertreterin des konfliktorientierten Ansatzes, der insbesondere diskursiv relevant ist. Sie sah den Schwerpunkt von Gemeinwesenarbeit bei der Arbeit mit Randgruppen, in der Aktivierung sowie Organisierung der Obdachlosen. Diese sollten in einem selbständigen Kampf in Verbindung mit der Klasse der Lohnabhängigen um ihre Interessen kämpfen. Es ging dabei nicht um eine stellvertretende Interessenwahrnehmung im Sinne einer Advokatenrolle, sondern die Bevölkerungsgruppen sollten ihre Bedürfnisse selbst wahrnehmen und vertreten (Raiser in Graf/Raiser/Zalfen, 1976, S. 120 ff.). Bei der Zusammenarbeit mit den Institutionen, die nur aus taktischen Gründen erfolgen sollte, war „auf den bereits entwickelten Aktivitäten der Obdachlosen aufzubauen“ (Raiser, 1976, S. 124).

Obdachlosensiedlung „Eulenkopf“

In dem Wohngebiet „Eulenkopf“, wo ehemalige Obdachlose durch die Stadt untergebracht wurden, fand GWA als Methode ihre Anwendung. Der verfolgte Ansatz der Gemeinwesenarbeit erinnert an die Settlement-Bewegung und weist Elemente von » Toynbee Hull auf. Im Rahmen einer Initiativgruppe, bestehend aus Studenten, Rechtsanwälten, Psychologen und Gemeinwesenarbeitern, gingen die Studierenden in das Quartier, um mit den Bewohnern gemeinsam, gegen die Diskriminierung vorzugehen. Durch die Stadt wurden die Menschen in Wohnungen untergebracht, für die sie Nutzungskosten zu zahlen hatten, was ihnen jedoch keinen Anspruch auf Wohnraum sicherte. Die Betroffenen reagierten vorerst mit Skepsis auf die der Mittelschicht angehörenden Studenten. Daher wählte die GWA zu Beginn einen unpolitischen pädagogischen Zugang über Kinder- und Jugendarbeit, indem sie Hausaufgabenhilfe oder Freizeitbetreuung anbot. Darüber gelang es den Studenten, Kontakt zu den Eltern zu knüpfen, die ihr Misstrauen nach und nach ablegten. Es wurden mehrere politische Initiativen gegründet, beispielsweise ein Stadtteilbeirat. Die interdisziplinäre Vorgehensweise der GWA und überregionale Organisierung in der „Landesarbeitsgemeinschaft Soziale Brennpunkte“ ermöglichte das rechtliche Vorgehen gegen das Land Hessen. Durch politische und rechtliche Intervention gelang es, den Hessischen Obdachlosenerlass zu stoppen, welcher Nichtsesshafte für ihre Situation selbst verantwortlich erklärte. Indem es zur Aufhebung des enthaltenen Strafgedankens kam, wurde der Erlass geändert.

Burckhardhaus

Der Hauptsitz des Burckhardhauses ist das Institut in Gelnhausen bei Frankfurt am Main und im Jahr 2003 feierte es sein 110-jähriges Bestehen. Es erlangte sehr große Bedeutung durch bundesweite Fort- und Weiterbildungsangebote. Als im April 1969 die Berliner Nachbarschaftsheime ihre große Tagung über die „Stadt als Raum des denkenden Aufstandes“ vorbereiteten, fand dort ein Weiterbildungsprogramm für Gemeindeaufbau sowie Gemeinwesenarbeitstatt statt, welches 160 Lehrgangstage mit integrierten Praxisphasen umfasste. Dieses wendete sich an Sozialarbeiter sowie kirchliche Mitarbeiter, die einen hohen Prozentsatz an Gemeinwesenarbeitern stellten (Müller, 1997, S. 119). Empirische Sozialforschung, Gruppenpädagogik und Gemeinwesenarbeit bildeten die Schwerpunktthemen, um unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen nach 1968 Gemeinwesenarbeit sowie Gemeindeaufbau voran zu treiben. Noch heute gilt für dort angesiedelten Schwerpunktbereiche Gemeinwesenarbeit als strukturierendes Arbeitsprinzip. Seit 1981 findet im Burckhardthaus alle zwei Jahre eine GWA-Werkstatt statt, wo theoretische Diskussionen und Auseinandersetzungen um Gemeinwesenarbeit geführt werden. Damit hat es sich bis heute, als ein Ort des bundeszentralen Austauschs um die Entwicklung von Gemeinwesenarbeit, seinen wichtigen Stellenwert erhalten.


Historische Bedeutung

Gemeinwesenarbeit als eine Methode hat eine vielseitige Geschichte, welche rückblickend in der Literatur eine unterschiedliche Bewertung erfährt. Häufig wird den „wilden Zeiten“ nachgetrauert und bedauert, dass es zu einer Entpolitisierung der Gemeinwesenarbeit kam. Der Ansatz, über soziale Probleme eine fundamentale Kapitalismuskritik zu formulieren, war insbesondere Mitte der 70er Jahre sehr ausgeprägt. Aggressive Methoden wendeten sich gegen systemangepasste Sozialarbeit, um Veränderung und Umsturz herbei zu führen. Die Radikalität und Gesellschaftsveränderung, die diesem Konzept zugeschrieben wurde, fand allerdings nur äußerst selten in praktischen Projekten ihren Niederschlag. Die Entwicklung der Methodenansätze ist insbesondere im Hinblick auf den Abgleich zwischen Theorie und Praxis zu verstehen. Die Bereitschaft der Menschen, disruptive Taktiken anzuwenden, war nicht so verbreitet wie erhofft. C.W. Müller (1971) stellte fest, dass disruptive Taktiken in Deutschland im Gegensatz zu den USA als umstürzlerisch gelten und nur in ritualisierter Form zugestanden werden. Eine Ausnahme bilden Aktionen, die in das herrschende System und Konzept passen. Als ein Beispiel führte Müller den 17. Juni 1953 an, der ein Feiertag in der BRD wurde, da sich gegen eine sozialistische Regierung gewendet wurde. Er stellte fest, dass es in Ländern mit Klassenkampftradition leichter ist, „jene historische Perspektive zu rekonstruieren und disruptive wie gewaltsame Taktiken in die politische Disziplin einer proletarischen Klassenkampf-Organisation einzuordnen. An genau diesem Punkt wäre es für Gemeinwesenarbeiter wichtig, jene politischen Quellen für Gemeinwesenarbeit zu rezipieren, deren Träger keine kommunalen oder privaten Wohlfahrtsorganisationen waren, sondern politische Parteien, genauer: die » Kommunistische Partei Deutschlands und deren Stadtteilarbeit in den zwanziger und dreißiger Jahren“ (Müller, 1971, S. 239).
Bei dem Versuch, die historische Bedeutung von Gemeinwesenarbeit als Methode herauszuarbeiten, muss man die Diskussionen um linke Theorie und Praxis beachten. Ende der 70er Jahre wurde immer offensiver gegen systemunangepasste Gemeinwesenprojekte vorgegangen. Die staatliche Strategie war, entweder zu disziplinieren, zu zähmen oder durch die Streichung der finanziellen Mittel die Projekte zum Aufhören zu zwingen. Zudem zeigte der Radikalenerlass, das Vorgehen gegen die Mitglieder kommunistischer Gruppen und die » Totalitarismusdiskussion seine ideologische Wirkung. Die Aufgabe und Zurücknahme radikalerer Konzeptionen ist mit dem institutionellen Aufstieg der 68er Generation zum Common sense der Diskussion sozialarbeiterischer Strategien geworden. Dabei bestätigen Ausnahmen die Regel. Beispielswiese wendet sich Przytulla gegen den Rufmord an allem, was links ist, und stellt fest: „Um den Blick frei zu haben, jeweilige historische Chancen zu nutzen, alte erfolgreiche Ansätze wieder aufzunehmen und begonnene, dann leider unterbrochene Prozesse fortzuführen, ist es notwendig, gut zu unterscheiden zwischen selbstkritischer Reflektion und einer Propaganda, die weis machen will, dass ´Links´ menschenverachtend ist, mit Geld nicht umgehen kann und mit allen Projekten immer scheitert“ (Przytulla in Jahrbuch, 1994, S. 39).
Gemeinwesenarbeit als 3. Methode ist insofern als ein fortschrittlicher Ansatz einzuordnen, da er den Schwerpunkt weg von den rein fürsorgerischen Tätigkeiten legt. Aus dem Ansatz wurden einige für die heutige Sozialarbeit wichtigen Elemente übernommen, wie Ressourcen- sowie » Lebensweltorientierung. Die Herangehensweise, dass Menschen aktiv an ihrer Lebensgestaltung arbeiten, somit also Eigenverantwortung übernehmen, wurde sehr gefördert und findet noch heute als » Empowerment-Ansatz Eingang in sozialarbeiterische Intervention. Die unterschiedlichen Konzepte sowie praktischen Erfahrungen von Gemeinwesenarbeit als 3. Methode sind von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung zu einem Arbeitsprinzip. In der Auseinandersetzung damit, wie auch immer sie geführt wurde, ist die methodische Veränderung nur mit Blick auf die gesammelten Erfahrungen einzuordnen. Des weiteren fand GWA als eine Methode in der Ausbildung von Sozialarbeitern, in Verbindung mit projektbezogenen Arbeiten, verstärkt Eingang. Rückblickend ist einzuschätzen, dass die Neuen Sozialen Bewegungen wegen ihrer größeren Mobilisierungskraft besser in der Lage waren, kritisches Potential zu bündeln. Gemeinwesenarbeit hingegen war hauptsächlich in den verschiedenen Stadtteilen aktiv und kam somit selten über Projektarbeit hinaus. GWA war auch immer mehr in dem Widerspruch gefangen, einerseits „Anwalt der Betroffenen“ zu sein, aber andererseits in staatlichem Auftrag zu handeln. C.W. Müller bezeichnet es 1973 als das „Dilemma des Gemeinwesenarbeiters“ (Müller in Boulet/Krauss/Oelschlägel, 1980). Die Todesanzeige ist Ausdruck dieser Entwicklung und wurde auf einer Tagung im Herbst 1975 in Berlin zu konfliktorientierter Gemeinwesenarbeit formuliert.

Todesanzeige

Nach einem kurzen aber arbeitsreichen Leben verstarb unser liebstes und eigenwilligstes Kind GWA an:

  • Allzuständigkeit, Eigenbrötelei und Profilneurose
  • Methodischer Schwäche und theoretischer Schwindsucht
  • Finanzieller Auszehrung und politischer Disziplinierung.

Wir, die trauernden Hinterbliebenen, fragen uns verzweifelt, ob dieser frühe Tod nicht hätte verhindert werden können?

Quelle: Müller, 1997, S. 131


Übungsfragen

  • In Deutschland kam es nach dem 2. Weltkrieg zu einer Rezeption US-amerikanischer Methodenkonzepte. Bis jedoch Gemeinwesenarbeit als 3. Methode in die Rahmenlehrpläne an den Fachhochschulen für Sozialpädagogik aufgenommen wurden, dauerte es bis Mitte der 60er Jahre. Worin sehen Sie dafür die Gründe?
  • Zeichnen sie die Entwicklung nach, bis GWA in Deutschland Eingang in die Praxis fand. An welchen drei klassischen Orten wurde sie aktiv?
  • Welche wichtigen verschiedenen Konzepte von Gemeinwesenarbeit als 3. Methode kennen Sie?
  • Vergleichen Sie diese bezüglich der ideellen Vorstellungen miteinander?
  • Wie wirken die unterschiedlichen Ansätze auf das Selbstverständnis des Gemeinwesenarbeiters?
  • Vergleichen Sie die Position von Pedro Graf, der für einen reformpädagogischen Ansatz steht, mit der Position von Christine Raiser, einer Vertreterin des konfliktorientierten Ansatzes, bezüglich der Arbeit mit Obdachlosen.
  • Welche gesellschaftlichen Veränderungen insbesondere in den 70er Jahren sehen Sie als entscheidend für die methodische Entwicklung?
  • 1975 wurde die Todesanzeige der GWA formuliert. Worin sehen Sie die Ursachen dafür?