Soziokultur fördert das Zusammenleben
Kontakt:
Haus der Zukunft e.V., Lüssumer Heide 6, 28777 Bremen, Telefon: 0421 361 792 93, Fax: 0421 361 792 94, E-Mail: Haus-der-Zukunft-Luessum@afsd.bremen.de, Internet: http://www.hdzbremen.de
Dieser Text ist Teil der Online-Dokumentation der (letzten?) 14. GWA-Werkstatt im Burckhardthaus Gelnhausen, 17.-20.09.2007
Unter diesem Titel ist ein weitgefächertes Angebot soziokultureller Animation zu verstehen, das sich an Kinder, Jugendliche und Erwachsene wendet, oder generationenübergreifend ausgerichtet ist.
Die im Folgenden beschriebenen Projekte wurden im Soziale Stadt Gebiet Lüssum-Bockhorn im Norden Bremens durchgeführt. Lüssum-Bockhorn ist eine der typischen Großwohnsiedlungen der 60er und 70er Jahre am Rande der Stadt. Aufgrund der schwierigen sozialen Lage und der dramatischen Armutssituation wird Lüssum seit Beginn der 90er Jahre durch unterschiedliche Programme gefördert. Seit 1999 durch das Bund-Länder Programm „Die Soziale Stadt" und das Bremer Senatsprogramm „Wohnen in Nachbarschaften (WiN) – Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf".
Lüssum ist ein Quartier der Erstintegration, mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat einen Migrationhintergrund. Alle Institutionen im Gebiet arbeiten mit viel Engagement an der Integration der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen.
Die Gemeinwesenarbeit hat ihren Platz im Lokalen Zentrum Haus der Zukunft. Es stellt das Leuchtturmprojekt sozialer Infrastruktureinrichtungen im Bereich Erwachsene sowie mit zielgruppenübergreifendem Adressatenkreis dar. Seit 1997 fungiert das Haus der Zukunft als offenes Haus für die Quartiersbevölkerung und als gemeinsamer Treffpunkt u.a. mit Mittagtisch und Cafébetrieb. Vor allem ist es Standort für ein breites Integrationsangebot, wie Deutschkurse, Berufsorientierung, Beratung, für kulturelle Angebote wie Ausstellungen und Veranstaltungen (z.B. donnerstagsFORUM mit Konzerten, Filmabenden, Diskussionsrunden) sowie für Sport- und Bewegungsangebote.
Zu den Lebensbedingungen in benachteiligten Ortsteilen gehört es oftmals, durch nicht vorhandene Qualitäten des (Sozial-)Raumes zusätzlich benachteiligt zu sein. Es fehlen z.B. Kinos, Theater, Cafes. Die Großwohnsiedlung ist eben als typische „Schlafstadt" am Rande zunächst ohne entsprechende Einrichtungen geplant und gebaut worden. Hinzu kommt ein Imageproblem. Die hohe Jugendkriminalität und der relativ hohe Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund hat über die Jahre dazu geführt, dass das Gebiet als eher unattraktiv wahrgenommen wird.
Für die Bewohner/innen ist ein niedrigschwelliger Zugang zu geeigneten Unterstützungs- und Hilfeleistungen und auch soziokulturellen Angeboten wichtig. Ein zentraler Ansatz dies zu gewährleisten, ist ein attraktives lokales Zentrum. Hier ist es möglich, im Sinne eines integrierten Ansatzes, alle relevanten Angebote an einem Ort zu bündeln und einen nicht stigmatisierenden Zugang zu organisieren. Attraktive öffentliche Räume, Orte und Begebenheiten können helfen, die Wahrnehmung von außen und von innen zu verbessern. Mit soziokulturellen Projekten kann eine andere Aufmerksamkeit erzeugt und die im Quartier vorhandenen Potenziale können öffentlich gemacht werden.
Seit Ende 2006 wird das Haus der Zukunft als Mehrgenerationenhaus durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. So werden insbesondere Angebote für die ältere Generation gemacht und neue Ideen für Kunstprojekte entwickelt, bei denen verschiedene Generationen gemeinsam mitwirken und kreativ werden können. Mit haupt- und ehrenamtlich engagierten Mitarbeiter/innen wurde ein Leitbild für die Arbeit im Mehrgenerationenhaus entwickelt, dass das gemeinsame Verständnis für die Situation und die Arbeit im Quartier zum Ausdruck bringt: „Moderne Industriegesellschaften trennen traditionell gewachsene Verbindungen innerhalb der Familien, in Nachbarschaften, zwischen den Generationen, zwischen den sozialen Schichten und zwischen den verschiedenen Kulturen. Das Mehrgenerationenhaus will gegen den Prozess der Vereinzelung, Isolierung und Trennung neue Verbindungen herstellen und das Geben und Nehmen zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Alters, Kultur und Geschichte am Standort organisieren. Keine Gesellschaft kann darauf auf Dauer verzichten.
Unser Haus ist ein Ort der Begegnung, des Austausches und der Aktivität. Hier können Menschen sich informieren, sie können Beratung und Unterstützung erhalten oder aktiv und kreativ sein. Dies soll dazu beitragen, dass das Leben der einzelnen Menschen gelingt und dass sich die Menschen im Stadtteil wohlfühen, sich zugehörig erleben und sich gegenseitig nützlich sind."
Wenn wir davon ausgehen, dass jeder Mensch ein Künstler ist (Joseph Beuys) und die Forderung ernst nehmen, dass Kultur für alle da sein soll, dann ist es das Ziel, im Projekt "Soziokultur fördert das Zusammenleben" Veranstaltungen durch zu führen, die einerseits die Interessen und Fähigkeiten der Bewohner/innen aufgreifen und neue Kenntnisse und Erfahrungen vermitteln, andererseits das soziokulturelle Leben im Stadtteil bereichern.
Ziel der kulturellen Arbeit im Stadtteil ist immer, Bewohner/innen die Chance zu geben eigene Potenziale und die des Wohnumfeldes zu entdecken, zu entfalten und gestaltend auf den eigenen Lebensalltag und das Zusammenleben im Quartier einzuwirken. Durch ein vielfältiges, bewohnernahes Kulturangebot verbessert sich das Image eines Stadtteils und die Identifikation der Bewohner/innen mit ihrem Quartier. Es geht also um mehr als in Kursen künstlerisch kreative Fertigkeiten zu vermitteln wie Malen, Töpfern, Tanzen. Stadtteilkulturarbeit zielt wesentlich darauf ab, dass das kulturelle Angebot in den Stadtteil hineinwirkt. Bewährt hat sich dabei die Projektform mit klarem Projektziel und begrenzt im Zeitumfang. Im Idealfall entwickeln sich daraus kontinuierliche Kulturveranstaltungen., wie Theatergruppen, Schreibgruppen, Kabarett, Feste.
Die Attraktivität eines Stadtteils orientiert sich wesentlich daran, ob kulturell „etwas los ist". Projektergebnisse wie Straßentheater, Theateraufführungen, Ausstellungen, Kunstaktionen, Musikveranstaltungen sind Ereignisse, die über Quartiersgrenzen hinweg das Ansehen des Stadtteils positiv prägen und damit die Identifikation der Bewohner/innen mit ihrem Stadtteil erleichtern. Im folgenden sollen zwei Projektbeispiele aus Lüssum-Bockhorn vorgestellt werden.
Das ist mein Platz - ein Kunstprojekt mit Stühlen
Den Stuhl als Platz zu bezeichnen, liegt nahe und von einem idealen Platz in diesem Leben zu träumen auch. Dieses Thema und der metaphorische Zusammenhang zwischen Stuhl und Platz war den Bewohner/innen im Stadtteil so selbstverständlich, dass die Behauptung "Das ist mein Platz" alle Teilnehmenden einlud, lustvoll und kreativ ihre Vorstellung davon gestaltend umzusetzen.
80 Bewohner/innen aus Lüssum-Bockhorn schufen ihren idealen Platz. Dieses Projekt erstreckte sich auf einen Zeitraum von vier Monaten.
Anlässlich des Internationalen Frauentages 2006 machten die Frauen den Anfang des Projektes.
Unter dem Frauentagsmotto Ich schaffe mir meinen Platz kreierten zehn Frauen verschiedene Exponate von Stühlen. Die Bremer Künstlerin Dorothea Sander unterstützte dabei die Frauen mit ihrer Fachkenntnis.
An drei Samstagen trafen sich die Frauen in einer Werkstatt des Spiel- und Gemeinschaftshauses in Lüssum.
Zunächst mussten Entwürfe gezeichnet werden. Dann wurde beraten, welches Material verwendet werden soll, wie es beschafft werden kann. Danach ging es ans werken. Mit Draht und Pappmachee mit Holz, das mit Kreis- und Stichsäge bearbeitet wurde, mit Schaumstoff, alten CDs, mit Pappe, Wolle, Watte und Geschenkpapier entstanden Plätze, die persönliche, materielle und politische Wünsche zum Ausdruck brachten. Am Frauentag konnten dann Stühle ausgestellt werden mit den Titeln, wie: „Bonbonstuhl", „Ruhe", " Wolke 7", „Sonnenschein", „zu Hause", „Musikstuhl".
Das Projekt wurde filmisch dokumentiert von Christina Klebeck, sozialpädagogische Mitarbeiterin im Haus der Zukunft. Der Film zeigt auf heitere Weise die Herausforderungen künstlerischen Schaffens und das kommunikative Zusammenwirken einer Gruppe trotz vorhandener Sprachschwierigkeiten. Der Film wurde beim Frauenfest vorgeführt und erfüllte die Akteurinnen mit Stolz und die Zuschauerrinnen mit Neugierde auf weitere Projekte.
Nachdem die Frauen ihre Stühle hergestellt hatten, wurde das Projekt im Stadtteil mit weiteren Gruppen fortgesetzt. An drei Schulen und in einer Werkstatt für interessierte Bewohner/innen wurden noch weitere 70 Stühle gebaut. Es konnte ein leerstehendes Geschäft für den Zeitraum angemietet werden, in dem die Stühle bearbeitet und zum Teil ausgestellt wurden. Passanten fühlten sich durch die Stühle in den Fenstern und durch das Werken, das oft auch auf dem Gehsteig stattfand, animiert, beim Arbeiten zuzuschauen und ebenfalls einen Stuhl zu gestalten.
Ältere Schülerinnen befassten sich viel mit dem Thema Liebe. Da ging es um gebrochene Herzen und um den Traum von wahrer Liebe. Die jüngeren Mädchen widmeten ihre Stühle ihren Pferden und ihrer Leidenschaft, dem Reiten. Die Jungen waren stark vom Fiber der Fußballweltweltmeisterschaft erfasst. Ihr Traumplatz zeigte sich als idealer Fernsehstuhl für das Fußball - Ereignis oder als Liebeserklärungen an den Fußball-Favoriten.
Die Ausstellung aller Stühle fand an zwei Plätzen in Lüssum-Bockhorn und in Blumenthal im Freien statt. Ein kleines Festprogramm mit Musik umrahmte das Ereignis.
Es ist nicht einfach, die Bewohner/innen aus Lüssum-Bockhorn zur Teilnahme an einer Ausstellungseröffnung, einer Aufführung in der Schule oder einem Konzert zu gewinnen. Gründe hierfür gibt es viele. Da ist sicher die Schwellenangst, irgendwo hingehen zu müssen, wo man noch nie war. Mitunter ist das kulturelle Angebot so fremd, dass man sich nicht zu verhalten weiß und verunsichert ist. Bei Aufführungen oder Ausstellungen von Kinderkulturprojekten bleiben die Eltern oft fern, da kleinere Geschwisterkinder versorgt werden müssen und eine Teilnahme an einem Ereignis außer Haus gar nicht möglich ist.
Viele Eltern bekommen so gar nicht mit, in welchem kulturellen Umfeld die eigenen Kinder sich bewegen. Ob Trommeln, Hip-Hop, Circensische Künste, Theater, Tanz, Lesungen – oft wissen die Verantwortlichen im Stadtzentrum mehr von den Aktivitäten der Kinder und Jugendlichen aus Stadtteilen wie Lüssum-Bockhorn als deren Eltern, Nachbarn, Verwandte und Freunde im Quartier.
Lüssum ist Kult
Das Projekt "Lüssum ist Kult" hatte zum Ziel, allen Kulturschaffenden aus dem Stadtteil eine Möglichkeit einzuräumen, sich bei einem Kulturfest zu präsentieren. Zusammen mit den Schulen vor Ort und mit einzelnen Künstlern aus Lüssum-Bockhorn konnte ein anspruchsvolles Programm zusammengestellt werden. Es wurde klassische Musik geboten, das Figurentheater-Kabarett spielte ein eigens für diesen Anlass geschriebenes Stück, Balladen und Geschichten wurden vorgetragen. Zwei bereits sehr gute Rock - Bands traten auf. Eine Tanzgruppe, die woanders bereits Preise gewonnen hatte, führte ‚All Styles' - Tänze vor. Eine Sängerin, die früher als Rocksängerin arbeitete und jetzt wegen Krankheit nur noch selten auftritt, sang begleitet von einem Gitaristen, der im Quartier wohnt. Die einzelnen Gruppen und Einzeldarsteller probten teilweise vier Monate an ihren Stücken und Tänzen.
Ziel der Veranstaltung war, Kultur vor die Haustür zu holen. Eine Straße mit zwei Bühnen, zwei Cafes und Straßenaktionen wurde zur Kulturmeile. Ein Cafe bot ein Kulturprogramm mit klassischer Musik, Lesungen, Figurenkabarett, Balladen und Erzählungen; das andere lud zum Verweilen ein. Für den Fall dass es regnete, war eine Regenalternative erarbeitet worden, bei der alle Gruppen die Möglichkeit zum Auftritt gewährt war. Immerhin waren 160 Akteure beteiligt, die zum Teil viel Zeit in die Proben investiert hatten. Leider musste 2007 dann auch die Regenalternative genutzt werden. Das Ziel, Kultur vor die Haustür zu holen, sozusagen ohne Schwelle, die überwunden werden muss, konnte nicht erreicht werden. Dennoch waren die Einzelveranstaltungen sehr gut besucht nicht nur von Bewohner/innen Lüssum-Bockhorns sondern auch von Bewohner/innen angrenzender Stadtteile, was in Lüssum eine absolute Seltenheit ist. Die Stimmung unter den Akteuren war solidarisch und jeder interessierte sich für die Aufführung der andern.
Ein künstlerisch gestaltetes Plakat mit dem etwas provokanten Titel "Lüssum ist Kult" hing unübersehbar an Bäumen, Zäunen, Bushaltestellen, in Geschäften und öffentlichen Gebäuden, weit über Lüssum-Bockhorn hinaus und transportierte ein unübliches Bild des Stadtteils nach außen.
Durch Fans der Gruppen, Eltern und Zeitungsberichte kamen viele Nicht-Lüssumer zu dem Fest. Ein Effekt, der für einen Stadtteil mit Negativ-Image wichtig ist. Zuschauende Kinder und Jugendliche bekamen mit, was andere machen und wurden motiviert ebenfalls etwas zu können.
Ein Kulturfest auf die Beine zu stellen mit Menschen, die im Stadtteil leben, stärkte das Selbstbewusstsein der Akteure und zwischen den einzelnen Gruppen entstand ein motivierender Wettbewerb.
Viele der Akteure erklärten beim Aufbruch, dass sie beim nächsten Lüssum ist Kult wieder dabei sein wollten. Die Freude, die die Akteure hatten, ihr Können zu zeigen, übertrug sich auf die Zuschauer und der Wunsch nach einem weiteren Lüssum ist Kult in zwei Jahren wurde von Zuschauern wie Akteuren geäußert.