Schnittstelle Soziale Dienste: Das Fachkonzept Sozialraumorientierung

- Was sind Eckpunkte der Personalentwicklung in der Jugendhilfe?


Kontakt:

Dr. Maria Lüttringhaus, Tel.: 0049-(0)201-287914, e-mail: ml@luettringhaus.info

Dr. Maria Lüttringhaus, geb. 1964, Sozialpädagogin und Diplompädagogin, Institut LüttringHaus; Institut für Sozialraumorientierung, Quartier- und Case Management (DGCC); tätig als selbstständige Trainerin in der beruflichen Fortbildung, Projektberatung und Organisationsberatung; freie Mitarbeiterin am Institut für Stadtteilbezogene Arbeit und Beratung (ISSAB) der Uni/GH Duisburg-Essen, Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit

Dieser Text ist Teil der Online-Dokumentation der (letzten?) 14. GWA-Werkstatt im Burckhardthaus Gelnhausen, 17.-20.09.2007.


Die Werkstatt Gemeinwesenarbeit 2007 beschäftigte sich mit der Frage der Kooperation in den Schnittstellen mit anderen Feldern insbesondere denen im Bereich Sozialer Arbeit. Viele Teilnehmer/innen interessierte dabei die Frage, was denn derzeit in den zahlreichen Kommunen vor sich geht, die sich entschieden haben das Fachkonzept Sozialraumorientierung umzusetzen und dies insbesondere im Bereich der Hilfen zur Erziehung (beispielsweise in Berlin, Köln, Bonn, Hannover, Stuttgart, Augsburg oder in den Landkreisen Nordfriesland, Sankt Wendel oder Ravensburg)? Im folgenden Beitrag will ich aus meiner Sicht als langjährig arbeitende Trainerin im Themenfeld Sozialraumorientierung meine Erfahrungen aus der Arbeit in diesen Kommunen aufzeigen. Wenn auch die Bedingungen in jeder Kommune bzw. bei jedem Träger unterschiedlich sind und somit auch die jeweiligen Prozesse niemals identisch verlaufen, so gibt es doch Phänomene, die immer wieder auftauchen, scheinbare Zufälligkeiten, die bei genauerem Hinsehen System haben, sowie Muster, die vergleichbar und vielerorts anzutreffen sind. Welche Erkenntnisse aus den Umsetzungsprozessen des „Fachkonzept Sozialraumorientierung“ (Hinte/Treeß 2006) für die Qualitätssicherung gewonnen werden konnten, will ich im Folgenden aufzeigen und dabei durch typische Rückmeldungen aus den Trainings auch die Sichtweisen von TeilnehmerInnen wiederspiegeln. Dabei fokussiere ich das Thema der Personalentwicklung und greife ich vor allem auf die Erfahrungen zurück, die ich in der Kooperation mit meinen KollegInnen des ISSAB (Institut für Sozialraumbezogene Arbeit und Beratung) im Bereich der Personalentwicklung gewonnen habe (s. auch Hinte/Lüttringhaus/Streich 2001).

Etwas zu kennen heißt nicht es auch zu können.

Lehrbücher, Fachaufsätze und Kongressbeiträge sind voll von Veröffentlichungen zur Sozialraumorientierung, und das hörende bzw. lesende Publikum ist sich in weiten Teilen inhaltlich  mit den Wissensproduzenten einig: Wer „in“ sein will, schwört auf Sozialraum- und Ressourcenorientierung, flexible Unterstützungssettings, Prävention, Lebensweltnähe, integrierte und maßgeschneiderte Hilfen und wie die Schlagworte alle heißen.

„Was Sie so darstellen, habe ich alles schon mal gehört und auch schon immer gut gefunden, und ich frage mich, warum das so verschüttet ist und ich es so wenig anwende. Ich glaube, weil es schwerer ist als es erscheint, gehen die Inhalte verloren, wenn wir im Alltag nicht alle zusammen am Ball bleiben.“

Die Idee der sozialraumorientierten Ausrichtung der Jugendhilfe ist wahrlich nichts Neues. Dennoch muss sie in Anbetracht der gesellschaftlichen Herausforderungen immer wieder aktualisiert werden und wird dann letztlich vor Ort ganz flexibel überall neu erfunden. Das gehört zum Kerngedanken dieser Philosophie. Doch selbst diejenigen Fachkräfte, die eine fortschrittliche konzeptionelle Programmatik konkreter mit Inhalt füllen können, werden immer wieder damit konfrontiert, dass ihnen grundlegende kommunikative Fertigkeiten („Schlüsselqualifikationen“) fehlen, um dieses „träge Wissen“ in Handeln umzusetzen und das dann auch konsequent beizubehalten (s. dazu Hinte 2006).

„Ich habe gedacht, ich arbeite schon sehr ressourcen- und sozialraumorientiert, aber jetzt bei den Übungen merke ich erst, wie ich das viel konsequenter umsetzen kann.“

Trägerübergreifende Fortbildung als Instrument der Qualtitätssicherung

Wir haben für die Qualifizierung im Bereich der erzieherischen Hilfen systemische und lösungsorientierte Arbeitsweisen auf dem Hintergrund humanistischer Theorien verknüpft mit sozialräumlichen Handlungstheorien und Methoden. Vermittelt werden in den Trainings konzeptionelle, kommunikative und organisatorische Kompetenzen u.a. zur Erschließung von Sozialraumressourcen (fallunspezifische und fallübergreifende Arbeit), zur lösungs- und ressourcenorientierten Gesprächsführung, zur respektvollen Erkundung von unterschiedlichen Lebenswelten sowie Fähigkeiten für die Entwicklung flexibler Hilfen, die konsequent orientiert sind an den Themen und Zielen der Leistungsberechtigten.

Wir plädieren im Rahmen der Umbauprozesse des Konzepts Sozialraumorientierung ausdrücklich für Teamfortbildungen, bei der nach Möglichkeit VertreterInnen aller beteiligten Institutionen teilnehmen sowie deren Leitungskräfte um für die gemeinsame Arbeit in den Schnittmengen eine gemeinsame Sprache, eine Verständigung über Vorgehensweisen zu befördern und klare fachliche Standards zu etablieren, die für alle Beteiligten zeitgleich Verbindlichkeiten und gemeinsame Übungsfelder schaffen. MitarbeiterInnen, die als Einzelpersonen eine Langzeitfortbildung besuchen oder mit dem Auftrag kommen, die Inhalte nach der Fortbildung an die anderen MitarbeiterInnen können diese Effekte nicht gewährleisten. Da wird den anderen KollegInnen, die die Fortbildung nicht besucht haben, ja nicht selten zugemutet alles mal so eben nebenbei in einem Crashkurs zu lernen („Ich soll dann die anderen in der nächsten Teamsitzung auf einen Stand bringen“) oder es wird sogar Zauberei erwartet („Ich habe allen die Arbeitspapiere in die Fächer gelegt“). Bei den TeilnehmerInnen der Fortbildung selbst verpuffen die Inhalte in der Regel nach der Rückkehr in die Institution. Zum einen sind sie sich selber ihres Wissens nicht so sicher. Zum anderen werden die Inhalte von den anderen eher skeptisch betrachtet, weil die praktischen Ergebnisse in der Übungszeit das Vorgehen ja durchaus auch mal holperig erscheinen (s. dazu auch Hinte 2006: S. 131f.). Durch gemeinsame Qualifizierung dagegen können die jeweils individuellen Lernerfahrungen zu geteiltem Kapital der Organisation werden. Durch die gemeinsam trainierte Umsetzung von fachlichen Standards kann auch die Teamarbeit und Kooperation zwischen den Trägern verbessert werden. Durch Trainingseinheiten über einen längeren Zeitraum (ca. 1 Jahr) können die  Impulse immer wieder vertieft, geübt und die Erfolge und Stolpersteine gemeinsam betrachtet werden (z.T. durch Übungsaufgaben für die Fortbildung).

Die Sicherung von Qualität erfolgt in erster Linie durch die Leitung

Unser Konzept beinhaltet verschiedene Module, die je nach Bedarf des jeweiligen Trägers im Rahmen seiner Personalqualifizierung eingesetzt werden können. Die Inhalte müssen zwischen der Fortbildungsorganisation und den Führungskräften so klar abgestimmt sein und zwar so, dass den VertreterInnen der Institution deutlich ist, was sich hinter den Fortbildungsinhalten alles verbirgt. Nur so kann in den Fortbildungen deutlich vermittelt werden, dass diese Innovation in der Institution ausdrücklich gewünscht ist (s. dazu auch Hinte 2006: S. 131f.). Nur so werden einzelne Lernerfahrungen zu geteiltem Kapital der Organisation.

„Können Sie meine Mitarbeiter mal trainieren, dass die mehr sozialraumorientiert arbeiten?“ Gerne! Aber diese Prozesse gehören begleitet durch Leitungskräfte, die hinter den Inhalten stehen und in der tagtäglichen Arbeit „Pflöcke“ setzten, die den Einsatz des Erlernten erforderlich machen und auch würdigen. Fachkräfte stoßen in den Umsetzungsprozessen häufig auf Strukturen wie das Dokumentationswesen, Hilfeplanvorgaben und nicht zuletzt Finanzierungssysteme, die die Umsetzung der Kerngedanken der Sozialraumorientierung behindern. Wenn beispielsweise die Seite der Leistungserbringer verstärkt die Ressourcen der Sozialraums für die Fallarbeit nutzt, zunehmend lebensweltnahe „normale“ Hilfe erschließt und durch effektives Unterstützungsmanagement die Fallarbeit zudem früher beenden kann, würde er sich letztlich selbst schaden. In der Regel finanzieren sich Träger im Bereich Hilfen zur Erziehung ja immer noch über das Stundenaufkommen in der Fallarbeit. Die derzeitige Praxis honoriert im Normalfall die „Fallverschleppung“ und bestraft effektive Arbeit. Gemeinsame Fortbildungen und parallel laufende Organisationsentwicklungsprozesse bieten die Chance Stolpersteine wie das Finanzierungssystem zu thematisieren und lokale Lösungen zu finden, wie die beschriebene Logik des ressourcenorientierten Vorgehens realisiert werden kann. In manchen Kommunen wird dafür ein regionales Budget verhandelt (s. dazu Hinte/Litges/Groppe 2003), in anderen gilt das „Prinzip der Belohnung“ ressoucenorientierter Fallarbeit.

„Wir haben hier im Sozialen Dienst sozusagen eine A-Liste und eine B-Liste. Auf der A-Liste sind solche Träger und MitarbeiterInnen, die entsprechend des ressourcenorientierten Vorgehens arbeiten. Die kriegen natürlich vorrangig Aufträge. Solche Listen hatten wir alle vorher auch schon alle im Kopf, aber jetzt sind durch die Fortbildung die Kriterien einheitlicher, da wir uns auf gemeinsame Standards, verständigt haben. Wenn die Fallarbeit früher als geplant beendet oder reduziert werden kann, dann haben wir hier für uns eine Regelung gefunden, dass wir dann bestimmte Übergangszeiten noch für fallunspezifische Arbeit finanzieren und dass solche Träger eben zeitnah neue Aufträge erhalten“ (Jugendamtsleiter in einem Landkreis zum Auftakt einer Fachtagung vor Anbietern im Bereich Hilfen zur Erziehung).

Qualitätssicherung bedeutet also nicht nur das Personal zu qualifizieren, sondern immer zugleich passgenaue Alltagsstrukturen zu etablieren, die die Umsetzung der Inhalte auch konsequent ermöglichen und einfordern. Qualifizierung und Organisationsentwicklung gehen also „Hand in Hand“. Unterstützend ist hier ein begleitendes Leitungskräftecoaching, um die Hierarchie in den Organisationen fachlich zu stärken – vor allem bei der Umsetzung und beim Controlling der Einhaltung der für die Sozialraumorientierung wichtigen Standards (z. B. Zielvereinbarungen der MitarbeiterInnen in den Hilfeplänen, Einhalten von Standards in der Kollegialen Beratung, Vorgehensweisen bei der fallunspezifischen Arbeit, Planung von fallübergreifender Arbeit). Die Inhalte einer Fortbildung müssen zwischen der Fortbildungsorganisation und den Führungskräften also klar abgestimmt sein, so dass den Vertreter/innen der Institution deutlich ist, was sich hinter den Fortbildungsinhalten und den Umsetzungsstrategien verbirgt. Nur dann kann in den Fortbildungen deutlich vermittelt werden, dass diese Innovation in der Institution ausdrücklich gewünscht ist (s. dazu auch Hinte 2006: 131f.). Nur so kann Qualtität nachhaltig gesichert werden.

„Ich frage mich die ganze Zeit: Weiß unsere obere Leitungsebene eigentlich, was sie sich da eingekauft haben? Wollen die das wirklich so?“

Qualitätssicherung und Sozialraumorientierung: Gute Fallarbeit führt ins Feld

Zu den häufigsten Missverständnissen im Rahmen sozialraumbezogener Arbeit der Jugendhilfe, gehört das Bild, dass sozialraumorientierte Herangehensweisen neben der Fallarbeit zusätzlich geleistet werden sollen. In der Fortbildung werden dagegen überwiegend Arbeitsweisen und Methoden vermittelt, die die MitarbeiterInnen der Jugendhilfe unterstützen den „Fall im Feld“ zu bearbeiten. Die Kompetenz, den Willen und die Ressourcen der KlientInnen im Beratungsgespräche offen zu erkunden, bildet dabei eine wichtige Grundlage für maßgeschneiderte und sozialraumbezogene Hilfen. In der Fortbildung werden also überwiegend Arbeitsweisen und Methoden vermittelt, die die Mitarbeiter/innen der Jugendhilfe unterstützen, den „Fall im Feld“ zu bearbeiten, also Lösungswege zu eröffnen, die nicht „nur“ auf die Ressourcen der Person oder des sozialen Umfeldes, sondern verstärkt auch auf die Ressourcen des Sozialraums zurückzugreifen. Daher wird in den Trainingseinheiten das Methodenrepertoire zur Erkundung und Mobilisierung der persönlichen, sozialen, materiellen und sozialraumbezogenen Ressourcen erweitert. Wer nur auf ein kleines Methodenspektrum zurückgreifen kann, um Ressourcen zu erkunden, gibt sich schnell mit den ersten auftauchenden Ressourcen zufrieden und flugs werden daraus Ideen entwickelt. Die „verschütteten“ Ressourcen sowie die oftmals nicht so präsenten Sozialraumressourcen werden den Klient/innen (und auch den Fachkräften) oftmals erst auf den zweiten Blick bewusst. Gerade dies sind aber häufig die Ressourcen, die neue Wege eröffnen, die man bislang nicht beschritten hat. Wer keine sozialraumbezogenen Ressourcen erkundet, hat letztlich auch kein „Bastelmaterial“ zur Hand für sozialraumorientierte Lösungen.

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Um in der Arbeit „für den Fall des Falles“ auch Sozialraumressourcen parat zu haben, sollten Fachkräfte in der Arbeit fortlaufend auf praktikable Formen fallunspezifischer Arbeit zurückgreifen, v.a. auf zeitlich unaufwendige Formen der Sozialraumerkundung (s. dazu die Methode: Zehn Minuten Sozialraumerkundung nach dem Beratungsgespräch; Lüttringhaus/Streich 2004). Nur wer im Alltag fortlaufend Ressourcen des Sozialraums erkundet und sich im Team darüber austauscht, kann den AdressatInnen passgenaue Hinweise geben, welche „normaleren“ Ressourcen (als die der Jugendhilfe) es im Sozialraum gibt.

Wir regen zudem in den Fortbildungen eine Vielzahl alltagstauglicher Möglichkeiten an, wie fallübergreifende Bedarfe erkannt und effektiver bearbeitet werden können. So kann beispielsweise nach jeder Fallbesprechung, bei der eine Hilfe zur Erziehung beschlossen wurde, im Protokoll eingefordert werden, dass folgende abschließende Frage vom Team beantwortet werden muss: Welche Angebote bräuchten wir zukünftig im Sozialraum, damit die soeben beschlossene Hilfe ergänzt werden könnte oder weniger intensiv notwendig wäre?

Angst und Unklarheit beim Thema Kindeswohlgefährdung sind keine guten Lehrmeister für die Sozialraumorientierung

Ein wichtiger Baustein ist es, in den Fortbildungen Grundlagen der Falleinordung aufzuzeigen, um für die weiteren Vorgehensweisen Klarheit zu haben, ob es sich a) um eine Überprüfung einer Meldung möglicher Kindeswohlgefährdung handelt, ob b) schon klar ist, ob das „Wächteramt“ greift oder ob c) die Fallarbeit eine freiwillige Leistung der Jugendhilfe ist (d.h., dass KlientInnen - selbst wenn sie geschickt wurden - nach dem Gesetz letztlich doch freiwillig auf die Unterstützung der Jugendhilfe zurückgreifen, weil sie sich – folgt man der Logik des KJHG - jederzeit von den VertreterInnen der Jugendhilfe verabschieden könnten und die Sozialen Dienste dann keine Optionen in der Hand hätten dies zu unterbinden).

Gerade in den Fällen, wo KlientInnen unfreiwillig in einen letztlich doch freiwilligen Kontext geschickt werden (die meisten Überprüfungen von Gefährdungsmeldungen landen in der Regel im freiwilligen Leistungsbereich) ist es eine besondere Herausforderung, diese KlientInnen bereits in den ersten Kontakten durch offene und respektvolle Vorgehensweisen für die weitere Unterstützung durch die Jugendhilfe zu „gewinnen“. Im Zuge dessen gilt es im freiwilligen Leistungsbereich zu klären, wo und welcher Veränderungswille bei den AdressatInnen vorhanden ist. Im sogenannten Graubereich gilt es in Form von Aufträgen an die Personensorgeberechtigten Kindeswohlgefährdung zu überprüfen oder drohende Kindeswohlgefährdung abzuwenden. Im Gefährdungsbereich müssen für die festgestellten Indikatoren der Kindeswohlgefährdung durch Auflagen Mindestzustände (nicht Maßnahmen!) von den Fachkräften benannt werden, die von den Personensorgeberechtigten zu sichern bzw. zu gewährleisten sind.

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Warum muss das sein beim Thema Sozialraumorientierung? Wer aufgrund von persönlicher Unsicherheit und inhaltlicher Verfahrensunklarheit in der permanent Angst lebt einmal vor Gericht zu Verantwortung gezogen zu werden, weil er /sie die „Letztverantwortung“ trägt, tendiert eher dazu sich selbst stark abzusichern, als anderen Veränderung zuzutrauen.
„Am wohlsten ist mir dann wenn es auf eine stationäre Unterbringung raus läuft, weit weg von den Eltern und dem Umfeld - und für mich heißt das letztlich auch weniger Arbeit.“

Wo inhaltliche Kritierien und strukturelle Verfahren für die Falleinordnung (Leistungsbereich/ Graubereich oder Gefährdungsbereich) fehlen, bleiben somit sozialraumorientierte flexible Hilfen, ressourcenorientierte Elternarbeit und Rückführungsanliegen auf der Strecke.

Zielerarbeitung ist harte Arbeit

In den ersten Fortbildungsmodulen steht die Arbeit im freiwilligen Leistungsbereich im Zentrum und dabei insbesondere die Erkundung des zentralen Anliegens aus der Sicht der Klient/innen. Hier gilt es, Ansatzpunkte für die intrinsische Motivation zur Veränderung zu finden, um nicht später für die Anliegen, die den Professionellen wichtig erscheinen, extrinsisch zu motivieren.

„Mir fiel auf, wie sehr ich durch meine Fragetechniken und Stichworte Klient/innen lenke und vermutlich so beeinflusse, dass sie das sagen, was ich hören will.“

Die Erkundung des Willens der AdressatInnen der Jugendhilfe ist eine der großen Herausforderungen in der Praxis. Professionelle dürfen nicht herauspicken, welches Thema ihnen am wichtigsten ist, sondern ihre Aufgabe besteht darin, zunächst herauszufinden, was zum jetzigen Zeitpunkt für die Klient/innen Priorität hat. Professionelle sind also angewiesen, dass Betroffene ihnen ihre Sichtweisen und Deutungen, also wesentliche Aspekte ihrer Lebenswelt eröffnen. Der Wille der Betroffenen ist die wichtigste Ressource im Prozess der Zielerarbeitung. Mit diesem „Schwung“ werden Reserven mobilisiert, um eventuelle Hürden bei der Zielerreichung zu überwinden. Wenn Menschen merken, dass sie mit ihren Belangen ernst genommen werden, können Professionelle entlang dieses Weges auch andere Themen anregen, um zu klären, ob und was Klient/innen diesbezüglich verändern wollen. Und was hat das mit dem Thema Sozialraumorientierung zu tun? : Auch das beste Wissen um Ressourcen aus dem Sozialraum nützt nichts, wenn es Klient/innen nicht wirklich wichtig ist, an einer Situation etwas zu verändern.

Die Praxis zeigt: Die Erarbeitung von Wille und Zielen gehört zu den schwierigsten Herausforderungen im Alltag (s. Spiegel 2004) sowie im Training.

„Ich hab mal meine Hilfepläne durchgesehen. Da stehen nur Maßnahmen drin. Für mich bricht gerade ´ne Welt zusammen Ich hab gedacht, ich hätte kleinteilige Ziele erarbeitet – aber es sind nur kleinteilige Wege.“

Deshalb bildet das Modul Zielerarbeitung ein „Herzstück“ der Fortbildung. Nur wenn es konkrete Ziele gibt, die konkrete Situationen und/oder Bereiche des Alltags betreffen, können konkrete Ressourcen (u.a. die des Sozialraums) genutzt werden. Aus nebulösen „Zielen“ in den Hilfeplanverfahren wie beispielsweise „weitere Verselbständigung“; „Mutter kann Grenzen setzen“, „Stärkung der Erziehungsfähigkeit“, die keine konkreten „Packenden“ bieten, können nur grundsätzliche Ideen entstehen, die in der Regel fixiert sind auf den Einsatz von Fachkräften und Zeit (Idee: „eine Sozialpädagogische Familienhilfe für 5 Stunden pro Woche“). So kommt man nur schwerlich auf Ideen, was im Sozialraum hilfreich sein könnte. Konkrete Ziele, die die Kernbereiche und Hautpunkte aufzeigen, um die es in erster Linie geht, eröffnen Möglichkeiten hierfür Ideen zu entwickeln, die konkrete Ressourcen nutzen.

Beispielhaftes Richtungsziel (Konsensziel) von Herrn und Frau Al Zein und Muharem (13 Jahre): Wir Eltern und auch Muharem kennen und nutzten bis zu den Sommerferien `06 Möglichkeiten, dass Muharem weiter auf der jetzigen Hauptschule bleiben kann, d.h. vor allem:

a) dass seine Hausaufgaben täglich vollständig und selbstständig gemacht sind bis spätestens 18.00
b) dass er täglich von Schulanfang bis Schulende in der Schule ist und bei Krankheit am selben Tag entschuldigt ist
c) dass er sich sich gegenüber den Mitschülern und den Lehrern respektvoll und friedlich verhält (v.a. in Situationen, wenn Anforderungen von den Lehrern an ihn gestellt werden, dass er was tun soll und in der Pause auf dem Schulhof)

In den Qualifizierungen werden zudem alltagstaugliche Methoden für die Beteiligung der Adressat/innen am Hilfeplanprozess und lösungsorientierte Gesprächsführung trainiert (inklusive der Gestaltung von Aushandlungsprozessen bei unterschiedlichen Zielvorstellungen). Wir vermitteln dabei, wie Ziele und erste Handlungsspektren vor dem offiziellen Hilfeplangespräch mit den Adressat/innen in kleinem Kreis oder einzeln entwickelt werden können. Wer Ziele erst in einem bürokratischen Rahmen wie dem Hilfeplangespräch zu entwickeln versucht, ignoriert das oft beschriebene Phänomen der Sprachlosigkeit - insbesondere von Kindern und Jugendlichen – gerade in Runden mit vielen Erwachsenen (s. dazu Schwabe: 2005). Wer versucht, Ziele in Settings zu erarbeiten, in denen die Adressat/innen zu allem „Ja und Amen“ sagen, braucht sich später nicht zu wundern, wenn das nicht die Themen und Ziele der Klient/innen waren und deren Mitarbeit dann entsprechend zu wünschen übrig lässt.

Angst vor Mehrarbeit blockiert Sozialraumorientierung

Die Mitarbeiter/innen werden im Training geschult, ihren unterschiedlichen Adressat/innen (Klient/innen, Ärzt/innen, Lehrer/innen usw.) die Möglichkeiten und Grenzen ihres Arbeitsfeldes und ihr fachliches Vorgehen zu erläutern.

„Wenn ich an fallunspezifische Arbeit denke, sehe ich mich in Schulen und Kindergärten und hab schon bei dem Gedanken daran Angst, dass die dann anrufen und alle zu uns schicken, nach dem Motto: Wir haben gehört, die beim Sozialen Dienst sind zuständig für schwierige Kinder und schwierige Eltern – gehen Sie da mal hin!“

Mitarbeiter/innen brauchen Klarheit, wann ein Anliegen ein „Fall“ für die Jugendhilfe ist und wann andere Institutionen am Zug sind. Sonst machen sie sich nicht auf den Weg in den Sozialraum. Zudem benötigen sie ein Handlungsrepertoire, um den Mitarbeiter/innen anderer Institutionen klar und respektvoll die Grenzen der Jugendhilfe zu verdeutlichen und ihnen gleichzeitig Möglichkeiten einer Zusammenarbeit aufzuzeigen.

Gute Fallarbeit kann „im Feld“ landen

Immer wieder geht es in den Qualifizierungen darum, sich in der Zusammenarbeit einer einheitlichen Sprache und einem einheitlichen Verständnis in den Eckpfeilern der Fallbearbeitung anzunähern. Im Folgenden zeige ich die drei Systematiken für die Fallarbeit in den drei unterschiedlichen Bereichen der Jugendhilfe. Sie bieten den Mitarbeiter/innen (nach einer zuvor erfolgten Falleinordnung) einen roten Faden zur Orientierung und zur Reflexion ihrer eigenen Arbeit.
Der von uns so genannten „Leistungsbereich“ der Jugendhilfe ist der Bereich, in dem KlientInnen – selbst wenn sie mehr oder weniger unfreiwillig kommen - letztlich doch auf eine freiwillige Leistung der Jugendhilfe zurückgreifen (dabei ist bereits die Beratung beim Sozialen Dienst eine Leistung der Jugendhilfe und nicht erst, wenn eine Leistung der Hilfen zur Erziehung genehmigt ist). Hier geht es darum zu erkunden, was das zentrale Anliegen der Person ist, was sie verändern will, wie sie sich das konkret vorstellt und welche Möglichkeiten und Ideen es zur Umsetzung gibt.

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Nur wenn der Fachkraft und im Team klar ist, dass vor der Planung der Schritte und Maßnahmen verbindliche Standards eingehalten werden müssen, haben“. Wer hier im Leistungsbereich Maßnahmen plant, ohne den Willen und die Ziele sozialraumorientierte Lösungen auch Erfolgschancen. Nur durch gute Fallarbeit führt „zum Feld der Adressat/innen erfasst zu haben, muss sich nicht wundern, wenn auch die tollsten Lösungen und Ressourcen im Sozialraum nichts taugen.

Während im Leistungsbereich der Jugendhilfe die Themen, die den Personensorgeberechtigten wichtig sind dominieren, geht es im so genannten Graubereich in erster Linie um Themen, die den Fachkräften wichtig sind. Sie erteilen Aufträge an die Personensorgeberechtigten, die a) den Sinn haben vermutete Kindeswohlgefährdung zu überprüfen oder b) drohender Kindeswohlgefährdung entgegenzuwirken. Bei Aufträgen, die der Überprüfung dienen, sollen die Personensorgeberechtigten Belege erbringen bzw. Wege beschreiten, die zeigen, dass das Kindeswohl gesichert ist, weil sonst andere Formen der Überprüfung ergriffen werden müssen. Bei drohender Gefährdung soll der in den Aufträgen beschriebene zukünftige Zustand von den Personensorgeberechtigten besser schon jetzt gewährleistet/ gesichert werden, da bei einer Verschlimmerung des heutigen Zustands ansonsten Konsequenzen ergriffen werden (nämlich die Erteilung von Auflagen im Gefährdungsbereich, die erfüllt werden müssen).

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Im Gefährdungsbereich der Jugendhilfe dominieren dagegen die Auflagen, die die Fachkräfte des Sozialen Dienstes den Personensorgeberechtigten erteilen. Sie haben den Sinn, die augenblicklich vorliegende Kindeswohlgefährdung abzuwenden.

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Kollegiale Beratung als Anregungsbörse und Instrument der Qualitätssicherung

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass in Kollegialen Beratungen oftmals nur nach einer passenden Maßnahme bzw. Hilfeform gefragt wird („Welche Hilfe braucht Familie Meier?“). Unbeachtet bleibt bei einer solchen Frage die Vielfalt möglicher konkreter Ideen, die entstehen, wenn die unterschiedlichen Ressourcen genutzt werden, deren Erkundung zu den Standards der Hilfeplanung im Vorfeld der Kollegialen Beratung gehört. Wir trainieren, wie zunächst nur nach einem Ideenpaket von Lösungswegen gesucht werden kann unter vorrangigem Rückgriff auf die Ressourcen der Person selbst, aus deren Umfeld und aus dem Sozialraum. Erst dann wird gegebenenfalls abschließend flexibel eine passgenaue Hilfe im Sinne einer Hilfe zur Erziehung maßgeschneidert. Gemeinsam im Team wird – immer dann wenn möglicherweise eine Hilfe zur Erziehung installiert werden soll - im Vorfeld des Hilfeplangesprächs (vor der Planung der Schritte und Maßnahmen) in einem ergebnisoffenen und an Standards orientierten Verfahren geschaut, welche Möglichkeiten im Team gesehen werden, wie die KlientInnen bei der Erreichung ihrer Ziele unterstützt werden können.

„Wenn wir die Standards in der Hilfeplanung einhalten, dann verlieren wir uns auch in der Kollegialen Beratung nicht mehr so in höheren abstrakten Sphären, dann kommen da auch ganz konkrete und praktikable Ideen.“

Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen

ei den Trainings handelt es sich um einen geschützten Raum, in dem neues oder erweitertes Handwerkzeug auf der Grundlage theoretischen Wissens erlernt und ausprobiert werden kann. Es muss noch nichts gekonnt oder beherrscht werden. Auch im Trainingslager einer Fußballmannschaft werden Freistöße, Strafstöße, taktische Varianten usw. eingeübt, ohne dass dabei schon alles klappen muss. Hier wie in der Fortbildung ist ein Raum zum Experimentieren, so dass Misslingen keine Katastrophe darstellt oder irgendwelche atmosphärischen oder disziplinarischen Folgen nach sich zieht. Man darf nicht erwarten, dass das neu eingeübte Handwerkszeug sofort funktioniert und „sitzt“. Eine absolvierte Fortbildung markiert nicht das Ende eines Lernprozesses, sondern ist allenfalls der Einstieg in den Aufbau veränderter beruflicher Kompetenzen.

 


Literatur

  • Beyer, Lothar./ Freudenstein, Silke/ Rößner, Carola (1993): Allgemeine Kommunalverwaltung. Düsseldorf: Graue Reihe Hans-Böckler-Stiftung - Informationspool Teil 2
  • Budde Wolfgang/ Früchtel Frank/ Hinte Wolfgang(Hg): Sozialraumorientierung. Wege zu einer veränderten Praxis. VS-Verlag, 2006
  • Gapski, Jörg/ Holland, Reiner (2003): Bericht: Evaluation der Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe im Stadtbezirk 9 der Landeshauptstadt Hannover, unveröffentlichtes Manuskript der Universität Hannover.  Hannover: Institut für Soziologie und Sozialpsychologie
  • Hinte, W.: Fachliche Grundlagen und Chancen sozialräumlicher Ansätze in der kommunalen Jugendhilfe. In Hellwig, U./ Hoppe J.R./ Termath J. (Hg.): Sozialraumorientierung – ein ganzheitlicher Ansatz. Eigenverlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. Berlin 2007, S.24-44
  • Hinte, Wolfgang (2005): Innovationsbedarf im Jugendamt – Reform oder Konsolidierung. In: Wendt (2005): 64-83
  • Hinte, Wolfgang (2006): Was können Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Fortbildung als Steuerungsinstrument in sozialen Institutionen. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 86. 3/2006. 129-133
  • Hinte, Wolfgang/Treeß, Helga (2006): Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe. Weinheim und München: Juventa Verla
  • Hinte, W./Litges, G./Groppe, J. (2003): Sozialräumliche Finanzierungsmodelle. Qualifizierte Jugendhilfe auch in Zeiten knapper Kassen. Berlin
  • Hinte Wolfgang/ Lüttringhaus Maria/ Streich Angelika (2001): „Wissen ist noch nicht Können“ – Fortbildung in flexiblen Jugendhilfe-Einheiten. In: Früchtel, F./ Lude, W./ Scheffer, T./ Weißenstein, R./ (Hg.): Umbau der Erziehungshilfe – Von den Anstrengungen, den Erfolgen und den Schwierigkeiten bei der Umsetzung fachlicher Ziele in Stuttgart. Juventa, S.89-102
  • Hinte, W./Litges, G./Springer, W. (1998): Vom Fall zum Feld. Soziale Räume statt Verwaltungsbezirke. Berlin
  • Kim Berg Insoo (1995): Familien-Zusammenhalt(en). Ein kurz-therapeutisches und lösungs-orientiertes Arbeitsbuch. Dortmund
  • Löcherbach, Peter / Klug, Wolfgang / Remmel-Fassbender, Ruth / Wendt, Wolf Rainer. (Hrsg 2003): Case-Management. Fall- und Systemsteuerung in der Sozialen Arbeit; Darmstadt
  • Lüttringhaus, Maria (2001): Zusammenfassender Überblick: Leitstandards der Gemeinwesenarbeit. In: Hinte, Wolfgang et al (2001): S. 263-267
  • Lüttringhaus Maria/ Streich Angelika (2002): Zielvereinbarungen in der Sozialen Arbeit: Wo mein Wille ist -  ist auch dein Weg? In: SozialAktuell, SBS/SAPAS, Nr.19, S. 7-11
  • Lüttringhaus, Maria/Streich, Angelika (2004): Das aktivierende Gespräch im Beratungskontext – eine unaufwendige Methode der Sozialraum- und Ressourcenerkundung. In: Gillich, Stefan (2004): S.102-108.
  • Lüttringhaus M./ Streich A.: Kindesschutz in der Jugendhilfe. Wie man Auflagen und Aufträge richtig formuliert. In: Blätter der Wohlfahrtspflege 4/2007, S.145-150
  • Lüttringhaus M./ Juchems A.: Sofort raus aus der Familie. Kommunalpolitiker und Kommunalpolitikerinnen beurteilen in einem Planspiel einen Fall von Kindeswohlgefährdung. In In: Blätter der Wohlfahrtspflege 5/2007, S.170-173
  • Wendt, Wolf Rainer (Hrsg.) (2005): Innovation in der sozialen Praxis. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft
  • Schwabe, Mathias (2005): Methoden der Hilfeplanung. Zielentwicklung, Moderation und Aushandlung. Frankfurt/Main: IGFH-Eigenverlag
  • Spiegel, Hiltrud von (2004): Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. Grundlagen und Arbeitshilfen für die Praxis. München: Reihardt Verlag