Die Elternschule Hamm

Entwicklungsstand eines trägerübergreifenden Projektes zur lebensweltorientierten Bildung von Eltern in Erziehungsfragen


Kontakt:

Matthias Bartscher, Kinderbeauftragter der Stadt Hamm und Mitglied der Projektleitung der Elternschule Hamm, Werler Str. 3, 59065 Hamm, Tel.: 02381/176202, Email: Diese E-Mail Adresse ist gegen Spam Bots geschützt, du musst Javascript aktivieren, damit du sie sehen kannst


Die Stadt Hamm liegt im Westfälischen im Kreuz zwischen Ruhrgebiet, Münsterland, Sauerland und Soester Börde. Mit ca. 185.000 Einwohnern gehört sie zu den kleineren Großstädten in NRW. Wirtschaftlich war der größere Teil von Hamm durch Bergbau und verarbeitende Stahlindustrie geprägt und ist mit diesen Industrien in die Krise geraten. Doch ist der Kommunale Haushalt noch ausgeglichen und damit eine gewisse politische Handlungsfähigkeit gegeben. Fast 70 Schulen und 100 Kindertageseinrichtungen bilden das Rückgrat der pädagogischen Infrastruktur.


1) Ausgangslage: Erziehung als Notstandssituation – Elternbildung als kommunale Aufgabe

Der Kommunale Armutsbericht 2000

Der Armutsbericht der Stadt Hamm, der im Auftrag der Verwaltungsleitung erstellt worden war, um der Politik Argumente für die Notwendigkeit zielgerichteter neuer Strategien und der Effektivierung der vorhandenen Arbeitsansätze zu liefern, bildet eine zentrale Vorgeschichte der Entstehung der Elternschule Hamm. Von einer trägerübergreifenden Projektgruppe erarbeitet, verband er statistische Analysen mit qualitativen Studien in den pädagogischen Handlungsfeldern, die belegten:

  • Jedes fünfte Kind wächst in einer prekären Einkommenssituation der Eltern auf.
  • Für einen Teil der Kinder (vor allem, wenn die finanziellen Probleme mit anderen Problemlagen wie Verschuldung, Arbeitslosigkeit, Wohnproblemen, Drogenkonsum oder mangelnder kultureller Integration gekoppelt waren) führt dies zu gravierenden Defiziten in den Entwicklungsbedingungen
  • Tendenziell enden derartige Armutskarrieren in der sehr oft verfrühten Gründung eigener Familien mit der Weitergabe dieser Entwicklungsdefizite an die nächste Generation.

Der Bericht verdeutlichte allen Verantwortlichen den dringenden Handlungsbedarf, um diesen Teufelskreislauf zu durchbrechen. In der Projektgruppe wuchs die Einsicht, dass Pädagogik und Soziale Arbeit dies mit den traditionellen Angeboten und Hilfen nicht leisten konnte, denn die Verantwortlichkeit für die Probleme lagen bei den Eltern – die auf Unterstützung von außen angewiesen waren.
Das Thema "Offensive Elternbildung" geriet auf Rang Eins des Handlungskonzeptes. Bei der Verabschiedung des Armutsberichtes der Stadt Hamm war noch überhaupt nicht abzusehen, wer denn diese Konzeption umsetzen und woher das Geld kommen sollte. Aber der Wandel im Denken der politischen Entscheidungsträger und der fachlich Verantwortlichen war nachhaltig vollzogen.

Jährlich wachsende Zahlen der Kriseninterventionen und Hilfezahlen der Jugendhilfe

Hinzu kam die Situation, dass die familiären Krisen sich auch an anderer Stelle häuften: Die Kolleginnen und Kollegen in der Familienhilfe waren jährlich mit steigenden Fallzahlen konfrontiert, während die Arbeitsbedingungen in den Teams gleich blieben (vgl. Grafik 1).
Während die Personalsituation hier gleich blieb, stiegen die Kosten für die eingeleiteten Hilfen zur Erziehung in dem gleichen Zeitraum mit Beträgen von manchmal über 1 Mio. € im Jahr.

Die Ausgangslage in Schulen und anderen pädagogischen Einrichtungen

In vielen Diskussionen und Fachveranstaltungen zwischen Pädagogen und Pädagoginnen in Jugendhilfe und Schule wurde immer deutlicher, dass Handlungsbedarf hinsichtlich vielfältig elterlichen Versagens bestünde. Beobachtet wurden Schulkinder, die

  • schlecht ernährt
  • unzureichend ausgestattet
  • unangemessen gekleidet
  • grenzüberschreitend auf der Beziehungsebene waren, nicht nur gegenüber Mitschülerinnen, sondern auch gegenüber Lehrpersonen und
  • an außerunterrichtlichen Schulveranstaltungen kaum mehr teilnahmen.

Ähnliche Beobachtungen wurden bei Vorschulkindern gemacht, die

  • ebenfalls unangemessen ernährt waren und als Vierjährige z. B. nicht wussten, dass man sich zum Essen an einen Tisch setzt,
  • morgens zu spät in der Kita abgeliefert und am Nachmittag oft zu spät abgeholt wurden; es gab Fälle, in denen die Eltern ihr Kind schlicht vergessen hatten.

Bedeutungsvoll erschien, dass Beobachtungen dieser Art nicht ausschließlich im bildungsfernen Milieu stattfanden, in dem man diese Phänomene vermutet hätte. Eine kleine Runde von Pädagogen aus unterschiedlichen Arbeitsgebieten (Schule, Schulamt, VHS, Kinderbüro, Regionale Schulberatung) begann unter dem Arbeitstitel "Forum Elternbildung" seine Arbeit, trug Daten und Fakten aus unterschiedlichen Arbeitsgebieten zusammen, die zu einer zentralen Erkenntnis führten: Wer hier wegguckt und nichts tut, trägt dazu bei, die Situation der Kinder in der Stadt zu verschlimmern.

Verwirrung der Eltern durch Expertenstreit

Ein weiterer Punkt kam zu den vorgenannten hinzu: Bei einer kleinen Gruppe, den Mitgliedern der Projektgruppe Elternschule der ersten Stunde, wuchs die Einsicht, dass im Hinblick auf Unsicherheiten und Erziehungsfehler vieler Eltern die Fachkräfte selbst schuld waren. Denn wenn man den wissenschaftlichen und praktischen Fachbetrieb betrachtet, dann ist erkennbar, dass Entwicklungen und fachliche Dispute in der Regel in der Tradition antithetisch orientierter Argumentation erfolgen, nicht in einer organisch wachsenden, konsensorientierten Art und Weise: Wer etwas weiterentwickelt oder neu erfindet, beginnt erst einmal damit, nachzuweisen, warum die bisherigen Traditionen völlig falsch sind. Humane Pädagogik gegen schwarze Pädagogik, Antipädagogik gegen humane Pädagogik, negative Pädagogik gegen Antipädagogik usw.. Dazu kommen Konkurrenzen und Profilierung im Kampf um Anerkennung, öffentliche Ressourcen und höhere Positionen. Opfer dieser Entwicklung sind die Eltern, die die praktischen Auswirkungen dieser Ausgangslage durch widersprechende Empfehlungen zu spüren bekommen. Der Lehrer empfiehlt den Eltern eines auffälligen Kindes, sie sollten strenger in der Erziehung sein, der Erziehungsberater sieht im Vergleich zu anderen Fällen eigentlich noch gar keine Probleme, der Pfarrer meint, das würde sich sicher auswachsen.


2) Die Entwicklung der Elternschule Hamm – Ein strategischer Prozess

Die Elternschule Hamm basiert auf dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungen auf einer Vielzahl von Initiativen und Prozessen, blieb aber ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr der zufälligen Entwicklung überlassen. Mit dem Begriff "strategischer Prozess" ist gemeint, dass es sich um eine zielgerichtete, auf politischen Grundsatzentscheidungen beruhende und politisch rückgekoppelte Entwicklung handelt. Dieser Prozess soll im folgenden beschrieben werden.

Eine Kultur des vernetzten Arbeitens als Voraussetzung

In Hamm/Westfalen gibt es seit vielen Jahren eine Gruppe von Pädagogen und Pädagoginnen aus Jugendamt und Schule, die traditionell gut zusammenarbeitet, Anfang der 90er Jahre sehr erfolgreich in der Begegnung von Jugendgewalt in einem Stadtteil, später in einem Netzwerk gegen Gewalt. Angespornt durch gute Übereinkünfte an institutionsübergreifenden Runden Tischen in Erziehungsfragen konnten in Realisierung gegenseitiger Amtshilfe immer häufiger gute Ergebnisse erzielt werden, etwa bei Gewaltexzessen, bei gravierenden familiären Auffälligkeiten oder in der koordinierten Verhinderung des verbreiteten Schuleschwänzens.

Elternbildung als Leitprojekt des Fachbereichs "Jugend, Gesundheit und Soziales" der Stadt Hamm

Nach der Kommunalwahl im Jahre 2000 konnte mit neuen Führungskräften im Fachbereich Jugend, Gesundheit und Soziales der Frage nachgegangen werden, mit welchen Leitprojekten die kommende Legislaturperiode gestaltet werden sollte. Die Diskussion während einer Klausurtagung wurde ämterübergreifend unter Einbeziehung der Arbeitsmarktpolitik geführt. Als eines von vier Leitprojekten fiel die Wahl auf das Thema Elternbildung. Damit stand die konzeptionelle Entwicklung in der Tradition des Armutsberichtes, löste sich aber von der Orientierung auf Problemgruppen zu einer flächendeckenden und schichtenübergreifenden Strategie. Einerseits schien allen Verantwortungsträgern aus Sozial-, Jugend- und Gesundheitsverwaltung Elternbildung als absolut notwendige Aufgabe, andererseits versprach man sich eine gute Akzeptanz in der Öffentlichkeit und der Fachpolitik.

Die Einführung des Programms "Starke Eltern – Starke Kinder" durch Jugendamt und Deutschen Kinderschutzbund

Auch innerhalb des Jugendamtes gab es eine intensive Diskussion über die Notwendigkeit einer verstärkten Familienbildung. Während die Diskussion im Jahrzehnt zuvor unter der Prämisse "Neue Aufgabe – Neues Geld" geführt wurde, wurde immer klarer, dass es dieses nicht geben werde und Nichtstun keine Lösung ist. Eine glückliche Fügung war es, dass der mit dieser Aufgabe betraute Kollege gleichzeitig Vorsitzender des örtlichen Deutschen Kinderschutzbundes war. Damit kam das bundesweit vom Deutschen Kinderschutzbund mit Unterstützung des Familienministeriums entwickelte Elternbildungsprojekt "Starke Eltern - starke Kinder - Wege zu einer gewaltfreien Erziehung in der Familie" ins Spiel. Die Entscheidung wurde getroffen, dieses Programm offensiv einzuführen und gleichzeitig Mittel, die sowieso zur Förderung der Familienbildung zur Verfügung standen, zielgerichtet zur Umsetzung erster Kurse zu nutzen.

Projektentwicklung mit den Methoden des Projektmanagement

Als die Entscheidung getroffen war, kam es zum "Treueschwur": Wer sollte die Aufgabe übernehmen? Zu tun hatten ja alle genug. Zu dieser Zeit wurde es immer klarer, dass man von der Einführung moderner Management-Techniken nur profitieren konnte und die Arbeit effektiver und wirksamer gestalten wollte. Folgende Regeln des Projektmanagements wurden dabei insgesondere beachtet:

  • Das Ziel und die Aufgabenstellung eines Projekts müssen klar benannt sein.
  • Ein Projektplan definiert die Zeitschiene und die einzelnen Arbeitsschritte, soweit sie im vorhinein kalkulierbar sind. Das schließt ein klar definiertes Projektende ein.
  • Die Leitung und die Mitarbeiter des Projektes werden aufgabenorientiert ausgewählt und erhalten in Rückkoppelung mit ihren Vorgesetzten den Auftrag, im Rahmen ihrer Arbeitszeit an dem Projekt mitzuarbeiten.
  • Da Projekte in der Regel organisationsübergreifend entwickelt werden, ist eine Lenkungsebene notwendig, in der Leitungskräfte mit Entscheidungskompetenz den Projektfortschritt begleiten.
  • Es werden zeitliche und finanzielle Ressourcen für die Projektarbeit zur Verfügung gestellt.

Dies unterscheidet sich von den früher üblichen Projekten in Schule, Jugendhilfe und anderen Bereichen; Projekte kamen relativ zufällig zustande, oft auf Initiative einzelner, die Beteiligten fanden sich freiwillig oftmals mit der Konsequenz, dass sie oftmals nicht wirklich die Zeit zur Mitwirkung hatten oder nicht sehr kompetent für das Thema waren, während die wirklich wichtigen Personen oft außen vor blieben.
Für die Projektleitung wurden zunächst eine kleine Gruppe kompetenter Mitarbeiter aus Jugendhilfe und Schule ausgesucht. Mit den zukünftigen Mitgliedern der Projektleitung wurde ein Kontrakt geschlossen, der folgende besondere Regelungen beinhaltete:

  • Entscheidung für einen träger- und arbeitsfeldübergreifenden Ansatz: Es sollte verhindert werden, dass ein Bereich das Thema für sich besetzt, während die anderen wichtigen Bereiche aufgrund der Konkurrenzsituation heraushalten und sich anderen, konkurrierenden Themen zuwenden.
  • Entscheidung für die Erarbeitung eines Erziehungskonsenses als inhaltliche Basis der Arbeit
  • Umschichtung von Arbeitszeitkapazitäten durch Verlagerung und Einstellung von Aufgaben
  • Bildung einer Steuerungsebene für das Projekt
  • Bildung einer Projektgruppe über jeweilige Kontrakte mit den wichtigsten Projektgruppenmitgliedern

Einrichtung der Projektgruppe

Die Arbeit der Projektgruppe wurde sichergestellt, indem wir die Qualifizierung und die zeitlichen Ressourcen unterschiedlicher pädagogischer Fachkräfte ausloteten:

  • Das Interesse an der Mitarbeit wurde in Vorgesprächen geklärt
  • Die Einsatzbereitschaft wurde ausgelotet.
  • Die Leitungen der Betreffenden wurden um Rückendeckung und Freistellung gebeten.

Als wirklich wichtig wurden angesehen: der Schulbereich, die Jugendhilfe insbesondere mit den Kindertageseinrichtungen, die Erwachsenenbildungsstätten, die Beratungsstellen, der Gesundheitsbereich, insbesondere die Kliniken mit Geburtsabteilung und insgesamt eine gute Mischung aus freien und öffentlichen Trägern. Durch eine nach Bedarf tagende Runde von Leitungskräften (Amtsleiter, Schulrat, Geschäftsführer u.ä.) wurde eine Steuerungsebene eingezogen, die in entscheidungsrelevanten Fragen einbezogen wurde.
Alles hätte nicht so funktionieren können, wenn wir nicht auf bestehende Netzwerke und gute Kontakte zurückgreifen hätte können. Hierzu zählten die beiden oben genannten Initiativen, aber auch die Projektgruppe, die den Armutsbericht erstellt hatte. Damit war schon eine gute Verständigungsbasis gegeben, die den kommenden Belastungen stand hielt.

Die Arbeit der Projektgruppe

Im August 2001 begann die Arbeit der Projektgruppe. Die Treffen fanden ca. monatlich statt, dazwischen tagten Untergruppen, eine Leitungsgruppe wurde gebildet. Bei Bedarf wurde die Leitungsebene einbezogen. Seither erledigten wir das folgende Arbeitspensum:

  1. Die Erstellung des Hammer Erziehungskonsenses: Wir waren uns zu Beginn einig, dass die pädagogische Landschaft selbst für Fachleute verwirrend ist und nicht unerheblich zur Verunsicherung der Eltern beiträgt (s.o.). Dazu kam, dass viele pädagogische Empfehlungen zu unkonkret sind: Gewalt vermeiden, sich Zeit für Kinder nehmen, Grenzen setzen – alles richtig. Aber wann und wie? Abhilfe zu schaffen war dringend geraten. Wir diskutierten zwei Alternativen: die Festlegung auf ein bestimmtes Konzept von Erziehung oder die Erarbeitung eines eigenen Grundkonsenses. Da uns der Prozess der Einigung eine gute Basis für die Arbeit zu sein schien, entschieden wir uns für das wesentlich aufwendigere Modell (wir glauben heute: Wir hätten uns bei der Einigung auf das richtige Konzept so zerstritten, dass das ganze Projekt wahrscheinlich nicht zustande gekommen wäre). Der Prozess begann mit einer simplen Kartenabfrage: "Was ist für dich wichtig in der Erziehung und möchtest Du Eltern vermitteln?" Daraus ergaben sich die grundlegenden Kapitel für den Erziehungskonsens und schon die ersten Stichworte für die Arbeitsinhalte. Die Kapitel wurden arbeitsteilig in Kleingruppen geschrieben und dann Satz für Satz in der Projektgruppe diskutiert. Zum Schluss half uns eine professionelle Lektorin bei der letzten sprachlichen Fassung. Dies alles war ein Prozess über ca. 18 Monate, in denen wir allerdings auch schon anderes (s.u.) taten – ein wichtiger und notwendiger Prozess. Wo lagen die inhaltlichen Konfliktlinien und Hürden:
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    • Eine erste Konfliktlinie tat sich zwischen den eher ressourcenorientierten und den eher grenzbetonenden Pädagogen auf. Es hat lange gedauert und manche schweißtreibende Diskussion gekostet, bis klar war, dass jeder auch das andere gut und wichtig findet, nur zunächst seine Sicht betont.
    • Es war schwierig, konkret zu werden. Aber wir hatten uns vorgenommen, praktische Beispiele zu bringen, und haben dies auch geschafft. Vielleicht nicht immer die letzte Weisheit, aber allemal besser, als im Ungefähren zu bleiben.
    • Eine dritte Schwierigkeit war es, ein Abstraktions- und Sprachniveau zu finden, dass alle Eltern anspricht. Wir haben diesen Anspruch irgendwann aufgegeben und uns vorgenommen, Zielgruppenfassungen zu machen- z.B. in Form von Comics.
  1. Die Durchführung einer Bestandserhebung zur Situation der Familienbildung (Stadt Hamm 2002): Zentrales Ergebnis war hier, dass Familienbildung sowohl was die Inhalte, die Sozialräume als auch die verschiedenen Familienphasen betrifft, höchst rudimentär entwickelt ist; max. 15% aller Eltern kommen irgendwann mit irgendeinem Thema in Kontakt zur Elternbildung; gleichzeitig zeigte sich bei der Durchführung der Befragung, dass Elternbildung noch sehr stark als akademisch orientiertes Aufgabenfeld verstanden wird (vgl. Grafik 2: Die verschiedenen Anbieter einschließlich Kindertageseinrichtungen und Schulen wurden gefragt, wie viele Eltern sie nach ihrer Planung erreichen werden).

Die Entwicklung eines Konzeptes zur flächendeckenden Einführung der Elternschule: Hier wurde die Idee konkretisiert, Elternschule als dezentrales Projekt vor Ort in den vorhandenen Einrichtungen in deren Eigenverantwortung zu realisieren. Das hatte zur Konsequenz, eine gesamtstädtische zentrale Organisationsstruktur zu entwickeln, die Dienstleistungen zur Unterstützung der Einrichtungen vor Ort bietet. Folgende Zielsetzungen waren für die Konzeptentwicklung maßgeblich:

Strategisches Ziel:

  • Die Erziehungsfähigkeit der Hammer Eltern im Sinne des Erziehungskonsenses stärken
  • Durch den präventiven Ansatz Jugendhilfe und Schule entlasten und Kosten sparen

Operationale Ziele:

  • Orientierung geben: durch den Erziehungskonsens einen inhaltlichen Rahmen schaffen
  • durch aufsuchende Elemente die größten Problemgruppen erreichen
  • Stadtteilorientierung: vorhandene Ansätze durch Gewinnung neuer Kooperationspartner sozialraumbezogen ausweiten
  • strukturelle Defizite im Angebot nach und nach ausgleichen
  • Förderung eines gesellschaftlichen Konsenses über Erziehung im Sinne des Erziehungskonsenses
  • Ressourcen in Schule, Jugendhilfe und gesellschaftlichen Gruppen erschließen (Synergieeffekte, Sponsoring, Entlastungseffekt)
  1. Die Erarbeitung einer Vorlage für einen Ratsbeschluss, der am 8.4. 2002 vom Rat der Stadt Hamm beschlossen wurde – nach einer intensiven öffentlichen politischen Diskussion (Stadt Hamm 2002). Zwei Fragen standen hier im Raum:
    1. Ist es legitim, dass der Staat noch weiter in den grundgesetzlich geschützten Raum der Familie eingreift?
    2. Können die Zielgruppen, wie sie im Armutsbericht beschrieben wurden, überhaupt durch ein Projekt wie die Elternschule erreicht werden?

    Bei beiden Fragen konnten nur wenige Bedenkenträger nicht überzeugt werden, doch erkannte eine parteiübergreifende Mehrheit die Notwendigkeit an und entschied sich mit nur zwei Gegenstimmen, das Experiment zu wagen. Gleichzeitig war mit diesem Beschluss der Auftrag verbunden, ein Angebot an alle Eltern zu entwickeln, also bildungsferne Zielgruppen und Eltern in benachteiligten Lebenslagen einzubeziehen, aber kein Randgruppenprojekt zu machen.

  2. Im Sommer 2002 wurde mit der Umsetzung des Konzeptes und der Einführung der Elternschule begonnen. Die Projektgruppe führte 10 stadtteilorientierte und eine gesamtstädtische Präsentationsveranstaltung durch. Das Prinzip des "Vor-Ort-Gehens" sollte auch bei der Einführung berücksichtigt werden; so konnten insgesamt 200 Multiplikatoren erreicht werden. Das Projekt stieß auf große Resonanz und viel Interesse, aber immer wieder wurde die Frage gestellt: "Wie wollt ihr die erreichen, die es benötigen, und die wir auch nicht erreichen?" 2. Den Einrichtungen wurde angeboten, zu bestimmten Konditionen mitzumachen. Nach und nach meldeten sich immer mehr Einrichtungen an.
  3. 2003 entschieden wir uns für ein Logo, dass seither den beteiligten Einrichtungen als Qualitätssiegel verliehen wird. Im selben Jahr schalteten wir eine Internetseite frei, die zum einen als Organisationsplattform dient, aber auch interessierten Eltern alle wichtigen Informationen vermittelt. Im Jahr 2004 führten wir den 1. Fachtag Elternschule durch, der mit Vorträgen und Workshops und 250 Besuchern bundesweit so gute Resonanz fand, dass wir uns entschieden, jährlich Folgeangebote zu machen. Am 15. September 2005 fand der 2. Fachtag mit 250 Teilnehmerinnen und Teilnehmern statt, Thema "Rundum (un)auffällig".
  4. Ebenfalls 2004 begannen wir mit systematischen Weiterbildungsangeboten an die Einrichtungen, die das Gütesiegel "Elternschule" erworben hatten, u.a. "Moderation von Elternseminaren" und "Beratung von Eltern im Alltag von Schule und Kindertageseinrichtungen" mit Unterstützung des renommierten Institutes für Familientherapie in Weinheim (IfW).
  5. Ein spezielles Programm für Eltern in besonders schwierigen Situationen ging 2005 an den Start: Das "Hammer Elterntraining" bietet ein Elternseminar über 15 Termine, das von den Inhalten her nicht unbedingt neu ist, aber auf einem Kontrakt der Teilnehmer mit der Familienhilfe des Jugendamtes basiert. Nachdem lange in der Erwachsenenbildung umstritten war, ob Lernen unter "Zwang" möglich sei, fand sich eine Arbeitsgruppe zusammen, um ein entsprechendes Konzept zu entwickeln, dass die mit dem Zwangskontext auftretenden Wirkungen reflektiert und berücksichtigt. Aber wenn man überhaupt die traditionelle Situation von Elternbildung, dass (etwas salopp gesagt) nur die kommen, die es eigentlich nicht brauchen, überschreiten will, sind derartige Konzepte notwendig. Als nächster Schritt ist vorgesehen, auch mit dem Familiengericht zusammenzuarbeiten, um ggf. von dort Auflagen zur Teilnahme zu erteilen.

Finanzierung der Projektarbeit

Einer der erstaunlichsten Aspekte ist, dass das gesamte Projekt bisher mit einem zusätzlichen Aufwand von 12.500 €/Jahr finanziert wird. Allerdings steckt eine besondere Strategie hinter dem Erfolg:
Zu Zeiten knapper werdender Mittel war klar, dass zusätzliche Haushaltsmittel in nennenswertem Umfang kaum bewilligt werden würden für ein Projekt, dessen finanzielle Wirkung – Entlastung von Jugendhilfe und Schule - kaum in den ersten Jahren nachzuweisen sein würde. So wurde die Entscheidung getroffen, mit vorhandenen Kräften durch Umsteuerung, Verlagerung und Einstellung von Aufgaben zu arbeiten und Ressourcen durch Synergieeffekte zu erschließen.
Die Projektgruppe setzt sich daher aus Mitgliedern zusammen, die die Arbeit im Rahmen ihrer vorhandenen zeitlichen Ressourcen machen. Besonders die Projektleiter(innen) haben mit den jeweiligen Vorgesetzten entsprechende Klärungen getroffen. Dies hat – bezogen z.B. auf meine Person – erhebliche Veränderungen der Arbeitsinhalte gehabt. Eigentlich Kinderbeauftragter der Stadt Hamm arbeite ich mit Beginn der Projektentwicklung mit erheblichen Zeitanteilen für die Elternschule – unter Wegfall anderer Projekte und Arbeitsinhalte.
Die Organisation der Elternschulen vor Ort läuft im Rahmen der jeweils vorhandenen Ressourcen. Lediglich die Bildungsarbeit selbst – also Referentenhonorare, Materialen usw. können auf Antrag aus einem speziellen Fördertopf des Jugendamtes in Höhe von 35.000 € bezuschusst werden. Diese Gelder standen auf schon vorher zur Förderung der Familienbildung zur Verfügung, werden allerdings durch überarbeitete Richtlinien zielgenauer eingesetzt.
Diese Vorgehensweise hat den Vorteil, dass Strukturen und Ressourcen organisch entwickelt werden, nicht wie in anderen Fällen, wenn Modellförderungen genutzt wurden, nach Wegfall der Förderung wegbrechen. Allerdings gehört es auch zum Projektauftrag, die finanziellen Aspekte der Einführung der Elternschule zu prüfen und Vorschläge zu machen. Ein erster Schritt in diese Richtung ist die Beantragung von Haushaltsmitteln zur Durchführung des Hammer Elterntrainings, das in der Erprobungsphase durch Umschichtung vorhandener Ressourcen realisiert wird, was aber dauerhaft nicht möglich ist. Es ist damit zu rechnen, dass hierfür ab 2006 30.000 € bereitstehen.

Das Ende des Projekts – Der beginn der Alltagsarbeit der Elternschule

Der Entwicklungsprozess ist noch nicht abgeschlossen. Am Ende des Projekts soll ein nochmaliger Ratsbeschluss über die dauerhafte Realisierung der Elternschule stehen. Hierzu sind noch eine Reihe von Aufgaben zu erledigen:

  • Die Realisierung des in der Entwicklung befindlichen Evaluationskonzepts
  • Die Sicherung der praktischen Arbeit vor Ort
  • Die Klärung der dauerhaften Bereitstellung entsprechender Ressourcen
  • Die schriftliche Fixierung des Konzepts
  • Die rechtliche Absicherung der Organisationsstruktur

Der Ratsbeschluss und damit das Ende des Projekts "Entwicklung der Elternschule Hamm" ist für 2007 vorgesehen.


3) Die Praxis in 67 Einrichtungen

Der derzeitige Entwicklungsstand zeigt, dass mittlerweile 67 Einrichtungen mitarbeiten. An dieser Statistik in Grafik sieht man, dass einerseits viel erreicht worden ist, aber auf der anderen Seite im Hinblick auf ein flächendeckendes Angebot

  • Erst ca. 30 % der Kitas und 25% der Schulen mitmachen;
  • Die meisten Einrichtungen erst vorsichtige Schritte bei der Umsetzung machen und viel mehr geschehen könnte.

Differenzierte Strategien zur Umsetzung des Anspruchs, alle Eltern zu erreichen

Nicht zuletzt auf dem Hintergrund der politischen Diskussion zur Einführung der Elternschule stand die Elternschule von Beginn an unter dem doppelten Erfolgsdruck, Eltern auf breiter Ebene zu erreichen, aber auch Eltern in besonderen Lebenslagen und mit gravierenden Schwierigkeiten zu erreichen. Dieser Anspruch wird mit folgenden Strategien umgesetzt:

  • Möglichst dezentrale Struktur mit Angeboten "um die Ecke" in der Schule oder Kita
  • Entwicklung aufsuchender Arbeitsformen: Hier sind zur Zeit besonders die Familienhebamme des Gesundheitsamtes und die Aufsuchende Elternhilfe des Diakonischen Werkes zu nennen
  • Differenziertes Angebot mit unterschiedlichem Anforderungscharakter: Das Spektrum reicht von einmaligen Informationsveranstaltungen bis hin zu intensiven, über 10-12 Abende gehenden Elternbildungsprogrammen wie dem Programm "Starke Eltern – Starke Kinder"
  • Generell Freiwilligkeit des Angebots, aber Verpflichtung zur Teilnahme von Eltern mit besonderen Auffälligkeiten ("Hammer Elterntraining")
  • Entwicklung differenzierter Angebote für alle Familienphasen und alle Themenbereiche durch Bereitstellung eines Referentenpools
  • Weiterbildung der Akteure vor Ort für eine gezieltere Ansprache der Eltern
  • Maßnahmen zur Verstärkung der Verbindlichkeit der Zusammenarbeit zwischen pädagogischen Fachkräften und den Eltern

So gibt es zur Zeit eine Fülle guter Praxisbeispiele, wie Einrichtungen versuchen, die Entwicklung voranzutreiben. Wir dokumentieren gerade besonders gute Modellbeispiele auf unserer Internetseite, wo sie ab ca. Ende Oktober bereitstehen.

Stadtteilorientierte Vernetzung der Elternschulen

Die Kooperation der Elternschulen ist dezentral orientiert und orientiert sich an den sozialräumlichen Strukturen der sozialen Arbeit in Hamm. Hinsichtlich der Intensität gibt es große Unterschiede: Während sich in einigen Stadtteilen sich die Einrichtungen zweimal im Jahr treffen und Erfahrungen austauschen, gibt es in einigen Bereichen intensive Kooperationsverbünde, in denen benachbarte Schulen, Kitas und Kirchengemeinden alle Aktivitäten als Elternschule gemeinsam durchführen.


4) Besondere Beispiele aus Schulen

In der Schule existiert eine traditionell eingeführte Infrastruktur für Elternberatung, die bei Eltern aus unterschiedlichen Gründen auf Akzeptanz oder Ablehnung stoßen: Elternsprechtage sind weitgehend gut besucht, während Elternpflegschaftsabende u.U. so schlecht besucht sind, dass sich die Anwesenden gegenseitig zu den Vertretern der Mitwirkungsorgane wählen. Schließlich beklagen Lehrerinnen und Lehrer seit vielen Jahren, dass sie innerhalb dieser Freiwilligkeitsstruktur die Eltern, die sie am drängendsten sprechen müssten, gar nicht erreichen.

Mit Unterstützung der Elternschule konnten wir an 2 Hauptschulen in Hamm (Anne-Frank-Schule, Karlschule) angekoppelt an das Trainingsraumprogramm, das auf Unterrichtsstörungen reagiert, ein Elternberatungssystem errichten, mit dem wir tatsächlich alle Eltern erreichen können – und tatsächlich auch die, die von sich aus die Schule ausgesprochen ungern betreten.
Das besondere an diesem Konzept ist, dass alle Schülerinnen und Schüler, die mehr als dreimal in den Trainingsraum verwiesen werden, nach Hause geschickt werden mit der Auflage, mit ihren Eltern zum Beratungsgespräch zu kommen. Die Evaluation zeigt, dass in ca. 80 Fällen durch ein- oder mehrmalige Elterngespräche die Situation gelöst werden konnte, während nur in fünf Fällen weitergehende Maßnahmen (z.B. Schulverweis, Einweisung in Jugendpsychatrie) notwendig waren. Hier zeigt sich, dass Schule in eigener Verantwortung mit entsprechenden Strategien erfolgreiche Elternarbeit auch mit denen praktizieren kann, die allgemein als unerreichbar gelten.

 


2) Die Elternschule Hamm – Sachstand zwischen fachlicher Selbstzufriedenheit und visionärer Herausforderung

Wir haben viel erreicht und vermarkten dies gut. Die Anerkennung ist groß. Unter Marketinggesichtspunkten könnte man das Projekt abschließen. Die Lorbeeren sind geerntet.
Für die beteiligten Einrichtungen ist eine Infrastruktur entstanden, die kurze Dienstwege zu unterstützenden Einrichtungen ermöglichen: Man muss sich nicht mehr auf Wartelisten weit hinten anstellen. Die Einrichtungen, die sich auf der Grundlage unseres Erziehungskonsens zusammenfinden, unterstützen sich untereinander.
Von der Vision – Beruhigte Schulen, Senkung der Kriseninterventionen, sichere Eltern, heranwachsende Kinder mit hoher Kompetenz und Leistungsfähigkeit – sind wir auch noch weit entfernt. Aber: Wenn du eine Eiche pflanzt, kannst du nicht hoffen, sehr bald in ihrem Schatten zu ruhen!
Die "Elternschule Hamm" ist mittlerweile vielen Fachleuten überregional bekannt. Kolleginnen und Kollegen horchen auf, wenn wir unser Projekt auf Fachtagungen präsentieren, und wir haben den Eindruck, dass positiv über uns gesprochen wird. Unsere Dokumentationen und Medien werden gern in Anspruch genommen, und unsere Weiterbildungen ziehen überregional Teilnehmer an. In dieser Darstellung haben wir "aus dem Nähkästchen" geplaudert wie wir diese Entwicklung bewirkt und gesteuert haben. Weitere Informationen sind unter www.hamm.de/elternschule im Bereich Dokumentation erhältlich.

 


Fußnoten:

1) Der Text basiert auf einem Aufsatz, den ich zusammen mit Gabriela Kreter, Kreter, Hauptschulleiterin und Mitglied der Projektleitung Elternschule, unter dem Titel "Eine Stadt packt an – Die Entwicklung der Elternschule Hamm" veröffentlicht habe.
2) Wobei sich hier schon zeigte, dass es hinsichtlich dieser Frage große Unterschiede zwischen den Einrichtungen gab, denn eine Reihe von Einrichtungen hatten einen guten Erfahrungsschatz, wie man auch schwierige Zielgruppen ansprechen kann.

 


Literatur:

  • Bartscher, Matthias (1998): Partizipation von Kindern in der Kommunalpolitik, Freiburg

  • Heintel, Peter, Krainz; Ewald E. (1990): Projektmanagement: Eine Antwort auf die Hierarchiekrise? Wiesbaden
  • Kreter, Gabriela (2001): Jetzt reicht’s! Schüler brauchen Erziehung! Seelze
  • Projektgruppe Elternschule Hamm (2002): Der Hammer Erziehungskonsens; Hamm
  • Projektgruppe Elternschule Hamm (2002): Bestandserhebung zur Familienbildung; Hamm
  • Stadt Hamm (Hg.) (2002): Beschlussvorlage 2848/02: Grundsatzbeschluss zur Einführung der "Hammer Elternschule"; Hamm
  • Stadt Hamm (Hg.) (2000): Menschen in benachteiligten Lebenslagen: Der kommunale Armutsbericht; Hamm