Gemeinwesenarbeit und Geflüchtete - Inklusive Gemeinwesenarbeit in neuen Nachbarschaften

Diskussionspapiers der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA), Sektion Gemeinwesenarbeit, Arbeitsgruppe GWA und Flucht:
Prof. Dr. Milena Riede, Prof. Michael Rothschuh, Prof. Dr. Claudia Stracke-Baumann, Prof. Jan Zychlinski
 

Kontakt: milena.riede@khsb-berlin.de                                                                                                                                                                                    

 

1    Ausgangspunkt

2    Ziele der Gemeinwesenarbeit

3    Prinzipien der Gemeinwesenarbeit

4    Methoden und Arbeitsweisen der Gemeinwesenarbeit

5    Gemeinwesenarbeit am Anfang

6    Notwendige Ressourcen der Gemeinwesenarbeit

7    Fazit

 

Angesichts der Fluchtbewegung von Millionen Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten in unsere Länder schlägt die deutsch-österreichisch-schweizerische Sektion Gemeinwesenarbeit in der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit den Aufbau und die Erweiterung der lokalen Gemeinwesenarbeit (GWA) an besonders betroffenen Orten vor.

Gemeinwesenarbeit ist ein Handlungsfeld der Sozialen Arbeit, das über  mehr als 100 Jahre Erfahrung in der bewohnerorientierten Weiterentwicklung heterogener Gebiete verfügt. Hierbei ist Gemeinwesenarbeit als kooperativer Prozess der Verbesserung von Lebensbedingungen in Sozialräumen zu sehen, der langfristig angelegt ist und die Zusammenarbeit verschiedener Fachrichtungen und Disziplinen erfordert. Die Gemeinwesenarbeit ist berufsethischen Standards der Sozialen Arbeit verpflichtet und damit den universalen Prinzipien der Menschenrechte sowie der sozialen Gerechtigkeit.

Das vorliegende Papier fasst wesentliche konzeptionelle Aspekte der Gemeinwesenarbeit zusammen und verdeutlicht Erfahrungen und Kenntnisse im Umgang mit heterogenen Nachbarschaften. Hiermit soll der spezifische Ansatz der Gemeinwesenarbeit den verschiedenen Akteur*innen wie z. B. der Sozial- und Stadtentwicklungspolitik, der Verwaltung auf örtlicher, regionaler und Landesebene, den Wohlfahrtsverbänden, Trägern der Flüchtlingshilfe, Flüchtlingsinitiativen der Zivilgesellschaft sowie Hochschulen der Sozialen Arbeit, verdeutlicht werden.

 

1   Ausgangspunkt

Über eine Million Menschen sind im Jahr 2015 aus sehr unterschiedlichen Ländern, Kriegs- und Krisen-Situationen nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz geflüchtet. Diversität kennzeichnet die Zusammensetzung der Geflüchteten bezüglich Sprache, Schichtzugehörigkeit, Bildung, Religion, Kultur, Alter und vor allem die jeweils individuellen Lebensschicksale.

Die Antwort auf die Fluchtbewegung erfolgt  zunächst gemäß der Logik der Katastrophenhilfe: (1) Soforthilfe für die direkt Betroffenen durch öffentliche und gemeinnützige Einrichtungen, aber auch durch eine überwältigende Hilfsbereitschaft von vielen Freiwilligen; (2) Absicherung der notwendigsten Grundbedürfnisse (Gesundheit, Wasser und Lebensmittel, Kleidung, Unterkunft, Sicherheit) sowie (3) Aufbau einer administrativen und baulichen Infrastruktur. Was als kurzfristige Notlösung begonnen wurde, wird für viele zu einem einengenden Dauerzustand.

Zunehmend setzt die Politik auf Selektion zwischen Geflüchteten, denen eine gute oder eine schlechte „Bleibeperspektive“ zugesprochen wird, sowie zwischen den Menschen, die für den hiesigen Arbeitsmarkt als nutzbar, oder als Belastung für die Sozialsysteme, angesehen werden. Je nachdem geht es um Integration oder um Abschottung und Ausgrenzung, um Schaffung von Wohnungen oder um Verwahrung in segregierten Unterkünften mit der Zielrichtung Ausweisung und Abschiebung. Dieses Vorgehen erzeugt bei vielen Geflüchteten Angst, Hilflosigkeit und Unselbständigkeit und führt einen Teil in ghettoartige Lebensformen bis hin zur Semilegalität. Bei Teilen der hiesigen Bevölkerung verstärkt es Misstrauen, Abwehr und Angst.

In vielen gesellschaftlichen Bereichen steht aktuell der Übergang vom Katastrophenmodus hin zu einem planvollen, integrativen, zukunftsorientierten Miteinander an. Hierbei ist es vorrangig notwendig ein gutes und für alle gedeihliches Zusammenleben, in einem von Diversität geprägten demokratischen Gemeinwesen, zu entwickeln. In diesem Kontext kommt der Nachbarschaft bzw. dem sozialräumlichen Nahumfeld der Menschen eine besondere Bedeutung zu, also dem Handlungsfeld und Spezialgebiet der Gemeinwesenarbeit.

Gemeinwesenarbeit strebt eine inklusive Gesellschaft und eine nachhaltige Zukunftsentwicklung an. Sie unterstützt  die  lebendige Entwicklung der Gemeinwesen und macht so Menschenrechte, Demokratie, Teilhabe und Inklusion vor Ort im Alltag erfahrbar.

 

2   Ziele der Gemeinwesenarbeit 

Das traditions- und variantenreiche Konzept der Gemeinwesenarbeit zielt auf die Verbesserung der Lebensbedingungen in sozialen Räumen.  Methoden und Prinzipien der Gemeinwesenarbeit werden seit ca. 125 Jahren in Gebieten mit besonderem Entwicklungsbedarf erfolgreich angewandt. Die Wurzeln der Gemeinwesenarbeit liegen u.a. in der sogenannten Settlement-Bewegung im angelsächsischen Bereich und dort in klassischen Zuwanderungsgebieten. Bis heute wird Gemeinwesenarbeit überwiegend in städtischen Gebieten mit heterogener Bevölkerungszusammensetzung praktiziert.

„Gemeinwesenarbeit richtet sich ganzheitlich auf die Lebenszusammenhänge von Menschen. Ziel ist die Verbesserung von materiellen (z.B. Wohnraum, Existenzsicherung), infrastrukturellen (z.B. Verkehrsanbindung, Einkaufsmöglichkeiten, Grünflächen) und immateriellen (z.B. Qualität sozialer Beziehungen, Partizipation, Kultur) Bedingungen unter maßgeblicher Einbeziehung der Betroffenen.“[1] Die Umsetzung der Ziele der Gemeinwesenarbeit erfordern ein integriertes Handlungs- und Entwicklungskonzept für den entsprechenden Sozialraum.

Gemeinwesenarbeit fördert den Aufbau von sozialem Kapital und damit den Brückenbau zwischen verschiedenen Menschen und verschiedenen Gruppen im Sozialraum. Hierbei gestaltet Gemeinwesenarbeit Partizipationsmöglichkeiten an Entscheidungen und macht demokratische,  aktive Teilhabe an der Zivilgesellschaft zur erlebbaren Realität der Menschen vor Ort.

Inklusion und eine nachhaltige Gesellschaftsentwicklung sind langfristige Such- und Lernprozesse für alle Beteiligten, die es angemessen zu begleiten gilt. Gerade bei Veränderungsprozessen im Stadtteil im Kontext von Flucht und Migration ist die Gemeinwesenarbeit besonders geeignet, um Herausforderungen strukturiert und langfristig anzugehen.

 

3   Prinzipien der Gemeinwesenarbeit

       1. Vielfalt erlebbar machen - zielgruppenübergreifendes Handeln[2]

Gemeinwesenarbeit hat alle Menschen im Sozialraum im Blick und bringt verschiedene Personen und Gruppen miteinander in Kontakt. Es wird mit verschiedenen Zielgruppen gearbeitet, um diese Personengruppen besonders zu befähigen und zu unterstützen, z.B. Familien, Frauen, Arbeitslose, geflüchtete Frauen, Senior*innen. Darüber hinaus werden themenbezogene Gruppen begleitet (z.B. zu den Themen Wohnen, Verkehr, Grünflächenverbesserung) und Begegnungsmöglichkeiten für alle Menschen im Stadtteil geschaffen (z.B. Nachbarschaftscafe, gemeinsame Aktionen, Feste). Durch diese einzelfallübergreifende gruppen- und sozialraumbezogene Arbeit wird eine stigmatisierende  Fokussierung auf einzelne Menschen oder Gruppen verhindert,  gemeinsame Austausch- und Lernprozesse der Menschen untereinander werden befördert.

       2. Orientierung an den Bedürfnissen und Themen der Menschen

Gemeinwesenarbeit setzt am Willen, den Bedürfnisse und Interessen der Bewohner*innen  an. Hierbei sind sowohl die Interessen der Einheimischen, wie auch die der Ankommenden, Ansatzpunkte für Veränderungen in der Gestaltung des Alltags vor Ort. Diese Interessen gilt es in vielfältigen Einzelgesprächen, aber auch mit verschiedenen partizipativen Veranstaltungsformaten, zu erheben und zu bearbeiten.

       3. Kommunikative Vermittlung zwischen unterschiedlichen Welten

Als Mittlerin zwischen den Menschen, ihren verschiedenen Interessen und Bedürfnissen, fördert die Gemeinwesenarbeit den produktiven Umgang mit zunehmender Diversität. Vertrauen muss wachsen und braucht dafür Möglichkeiten der Begegnung sowie positive Erfahrungen im Umgang miteinander. Durch die Gestaltung verschiedener Dialogsettings und die Ermöglichung einer offenen, lösungsorientierten Kommunikation, fördert die Gemeinwesenarbeit Austauschprozesse im Sozialraum z.B. durch öffentliche Diskussionsveranstaltungen. Darüber hinaus wird bei (interkulturellen) Konflikten zwischen Einzelnen oder Gruppen in der Nachbarschaft vermittelt.

        4. Förderung von Empowerment und Selbstorganisation

Die hier lebenden sowie die hinzukommenden Menschen benötigen Anerkennung, Respekt, Selbstwirksamkeitserfahrungen und Hilfe zur Selbsthilfe. Gemeinwesenarbeit führt ähnliche Interessen von Menschen zusammen und ermutigt die Menschen zur Selbstorganisation, wodurch zivilgesellschaftliche Potentiale gestärkt und Synergieeffekte erzeugt werden. Ein besonderer Fokus wird auf das Empowerment (die Ermutigung, Befähigung und Ermächtigung) der ökonomisch und/oder sozial besonders benachteiligten Menschen gelegt. Ihnen soll mehr Teilhabe, Mitsprache und Mitgestaltung ermöglicht werden. Weiterhin gilt es ehrenamtliches Engagement strukturiert in die Arbeit im Stadtteil einzubeziehen,  entsprechende Vernetzungsrunden (aus traditionellem und neuem Ehrenamt) zu koordinieren und einen gegenseitigen Erfahrungsaustausch zu unterstützen.

        5. Partizipative (Bildungs-)Möglichkeiten schaffen

GWA schafft Möglichkeitsräume für Partizipation an Entscheidungen im Gemeinwesen und für die Erfahrungen von Selbstwirksamkeit. Dies kann auf vielfältige, kreative  Weise geschehen. Durch Angebote für solidarische Aktionen und Begegnungen zwischen verschiedenen Bewohner*innen, wird die Entwicklung von Respekt und gegenseitigem Verständnis zwischen verschiedenen Menschen und Gruppen gefördert. Partizipative Ansätze sind hierbei als Lernsettings zu sehen, in denen die Menschen demokratisches Miteinander erlernen.

        6. Nutzung der vorhandenen Ressourcen

Gemeinwesenarbeiter*innen unterstützen Menschen bei der Bewusstmachung individueller Fähigkeiten, Kompetenzen und Ressourcen. Darüber hinaus werden Ressourcen von Individuen gebündelt bzw. miteinander vernetzt und auch institutionelle Ressourcen  im Sozialraum bestmöglich gemeinschaftlich genutzt.

        7. Ressortübergreifendes Handeln

Zur Realisierung und Bewältigung der umfassenden Ziele der Gemeinwesenarbeit ist eine interdisziplinäre und fach- bzw. ressortübergreifende Zusammenarbeit erforderlich. GWA agiert hier als intermediäre Mittlerin zwischen Anwohner*innen, Politik und Verwaltung.

        8. Vernetzung und Kooperation

Die verschiedenen Bewohner*innen und  Akteur*innen im Sozialraum gilt es miteinander zu vernetzen und (projektbezogene) Kooperationen umzusetzen. Dadurch können Doppelstrukturen abgebaut, Synergieeffekte erzeugt und effektiv zusammengearbeitet werden.

        9. Komm- und Gehstruktur

Gemeinwesenarbeit zeichnet sich einerseits dadurch aus, dass es einen Ort der Begegnung gibt (Nachbarschaftstreff, Stadtteilzentrum), zu dem die Menschen kommen können um sich ungezwungen zu begegnen, um Kaffee zu trinken, zur Beratung oder für sonstige Aktivitäten. Aus diesen Erstkontakten ergeben sich häufig weitere Beratungs- bzw. Unterstützungsbedarfe. Andererseits gehen Gemeinwesenarbeiter*innen auch regelmäßig hinaus in den Stadtteil und sprechen mit Menschen, die nicht den Weg ins Stadtteilzentrum finden. So können weitere aktuelle Themen und Probleme der Menschen erfragt, Probleme frühzeitig aufgegriffen und evtl. weitere Menschen in bestehende Angebote vermittelt werden.

       10. Nachhaltige Gesellschaftsentwicklung im Blick

Im Rahmen der Arbeit im Gemeinwesen behalten die GWA-Mitarbeiter*innen den Stadtteil auch immer hinsichtlich seiner sozialen, ökologischen und ökonomischen Entwicklungen im Blick. Maßnahmen und Projekte werden vor Ort gefördert, die im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung  eine langfristige sozial gerechte Entwicklung des Sozialraums befördern, ein umweltverträgliches Miteinander im Blick haben und eine nachhaltige lokale Ökonomie fördern. Themen und Probleme gilt es frühzeitig und präventiv aufzugreifen und gemeinsam mit den verschiedenen Akteur*innen im Sozialraum strategische Lösungen zu entwickeln.

 

4     Methoden und Arbeitsweisen der Gemeinwesenarbeit[3]

Gemeinwesenarbeit ist ein anspruchsvolles Aufgabengebiet der Sozialen Arbeit und beinhaltet Beziehungs- und Bildungsarbeit sowie Managementaufgaben. Verschiedene Methoden werden angewendet, um Entwicklungen im Stadtteil im Sinne der dort lebenden Menschen zu verbessern. Hierbei werden sowohl Methoden der Einzelfallhilfe, der Gruppenarbeit sowie der Struktur- und Stadtteilentwicklung angewendet. Es gibt nicht „die“ Methode für GWA, sondern sie entwickelt sich aus den Bedarfen der Menschen vor Ort. Die Arbeitsweise der Gemeinwesenarbeit ist maßgeblich geprägt durch

·         - Niedrigschwelligkeit

·         - Präventive Arbeit

·         - Komm- und Gehstruktur.

In Bezug auf Migration und Diversität wurden insbesondere gute Erfahrungen mit folgenden methodischen Ansätzen gemacht:

     Bei der Aktivierenden Befragung werden im direkten Gespräch aktuelle Themen und Probleme in den Nachbarschaften eruiert mit der Zielsetzung
     der gemeinschaftlichen Erarbeitung von Lösungen.

·    Schaffung und Ausgestaltung niederschwelliger Begegnungsorte zur Information, zum Austausch, der Begleitung selbstorganisierter Gruppen und
     Beratung.

·    Gemeinwesenarbeit gestaltet Lernsettings für Partizipations- und Empowermentprozesse und ermöglicht dadurch lebensnahe (Erwachsenen)
     Bildung.

·    Sozialraum- und Netzwerkanalyse/ Netzwerkarbeit–  Bestandsaufnahme sozialdemographischer Daten und Bündelung von individuellen wie
      institutionellen Ressourcen im Sozialraum; Kooperation und Vernetzung von Akteuren im Stadtteil.

·     Initiierung von (regelmäßigen) Dialogveranstaltungen und -settings, um Veränderungsprozesse zu reflektieren und gemeinsam Lösungen
      zu entwickeln.

·    Soziokulturelle Arbeitin Gestalt von z.B. Theater, Fotografie, Musik mit unterschiedlichen Menschen im Stadtteil, wodurch Vielfalt erlebbar
     und Kultur auch an z.bildungsferne Menschen vermittelt wird.

·    Arbeit mit kleinen und großen Gruppen, Förderung der Selbstorganisation - zielgruppenspezifische (Frauen, Familien etc.) oder
      themenbezogen (Wohnen, Verkehr, Grünfläche etc.) Gruppenarbeit.

·    Aufbau von heterogenen Gremien der bisherigen und neuen Bewohnerschaft in den Sozialräumen, um alle Seiten in eine strategische
    Weiterentwicklung des Gebietes einzubeziehen (Nachbarschaftsrat).

·   Ausbildung von Peer-Helpern (z.B. Stadtteilmütter oder Jugendliche), die als Multiplikator*innen Informationen an Menschen in ähnlichen
     Lebenslagen vermitteln.

·   Soziale Inszenierung z.B. durch gemeinschaftliche Koch- oder Backaktionen zur sozialen Kontaktaufnahme, um ungezwungenes Miteinander und
    Begegnung zu ermöglichen

·   Moderationvon Prozessen, z.B. Zukunftskonferenzen, um gemeinsame Zukunftsvorstellungen zu entwickeln und ihre Realisierung voran zu bringen.

·   Mediationzur produktiven Bewältigung von Konflikten in der Nachbarschaft, auch interkultureller Konflikte.

·   Aufbau von vertrauensvollen Beziehungen und demokratischen Strukturen mit dem Ziel des gemeinschaftlichen Handelns, im Sinne des politisches
    Empowerment und des Community Organizing.

·    Aufsuchende Gemeinwesenarbeit, die auf Menschen zugeht und nicht in den Räumen verharrt.

·    Beratung und Information für alle Bewohner*innen (Komm-Struktur) bzw. (begleitete) Weitervermittlung an andere Beratungseinrichtungen.

 

5     Gemeinwesenarbeit von Anfang an

In der öffentlichen Diskussion steht derzeit das Aufeinandertreffen  von „Einheimischen“ und  „ Geflüchteten“ im Fokus, doch auch diese vermeintlich homogenen Gruppen sind jeweils durch eine große Bandbreite an Vielfalt gekennzeichnet. Zudem leben schon in der Erstaufnahme Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft, Lebensvorstellungen, Schichten, Milieus, auf engstem Raum mit minimalen eigenen Entscheidungsmöglichkeiten zusammen. Wie sie das Gemeinwesen erleben, innerhalb der Einrichtungen wie im Kontakt nach außen, wird ihr Bild des Zusammenlebens in den aufnehmenden Ländern  für lange Zeit prägen.

Wir brauchen deshalb partizipative, sozialraumbezogene Angebote der Gemeinwesenarbeit von Anfang an:

In den Erstunterkünften, in denen Geflüchtete oft über sehr lange Zeit bleiben, müssen die Bewohner*innen  z.B. durch einen Bewohner*innenrat in die Gestaltung des Alltags einbezogen werden. Kontakte zwischen den Menschen und Gruppen sowie dem sozialen Umfeld gilt es herzustellen, Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen um Berührungsängste abzubauen und Konflikte produktiv zu bewältigen.

Bei den Containersiedlungen und Folgeunterkünften steht die Entwicklung guter, lebendiger Nachbarschaft mit dem umliegenden Stadtteil im Vordergrund.
Hierbei erscheint ein Beginn der Gemeinwesenarbeit bereits vor dem Einzug von geflüchteten Menschen in diese (Container-) Siedlungen sinnvoll, um vorab
bereits mit den Interessen und Bedürfnissen der angestammten Bewohnerschaft zu arbeiten.

Die Erweiterung bestehender und der Aufbau neuer Wohnungen und Siedlungen muss im partizipativen Prozess mit Angehörigen aller Seiten geplant werden,
von der Planung bis zur Umsetzung.

Wo viele verschiedene Menschen und Gruppen in einem Sozialraum zusammen leben, braucht es langjährige Vermittlerinnen zwischen den Welten, Bildungs- und Ermutigungsarbeit vulnerabler Personengruppen und eine strukturelle Begleitung beim Abbau sozialer Ungerechtigkeiten.

 

6     Notwendige Ressourcen der Gemeinwesenarbeit

       1. Professionelle Gemeinwesenarbeiter*innen

Um Veränderungsprozesse im Sozialraum zu begleiten,  braucht es ein professionelles, interkulturelles Team aus Gemeinwesenarbeiter*innen mit Festanstellung und langfristiger Perspektive. Die anspruchsvollen Aufgaben im Sozialraum –  von Management Aktivitäten über Beziehungs-, Bildungs- und Partizipationsprozesse – erfordern eine umfassende Auseinandersetzung mit theoretischen Inhalten (Inklusion- und Integrationskonzepten, Diversität, Empowerment, Soziales Kapital, Sozialraumorientierung, Raumtheorien ) und methodischem Handwerkszeug . 

        2. Lokale Räume

Um lokal vor Ort arbeiten zu können benötigten die Gemeinwesenarbeiter*innen einladende, zentral gelegene und barrierefreie Räume. Diese sollten am besten an einem zentralen Platz oder Markt gelegen sein, wobei mehrere Räume für die verschiedenen Nutzungen benötigt werden. In einigen Gebieten gibt es bereits
Stadtteilzentren und Nachbarschaftshäuser mit bereits etablierten Strukturen, in denen Begegnungen stattfinden. Diese gilt es ggf. für weitere Nutzer*innen zu
öffnen und um weitere dezentrale Nachbarschaftstreffpunkte zu ergänzen. Im Bereich und Umfeld von Einrichtungen zur Unterbringung,  sowie in Quartieren, in
denen Geflüchteten neu hinzu ziehen, ist der Aufbau neuer Nachbarschaftstreffpunkte erforderlich. So können sich die neuen Nachbar*innen auf neutralem Boden
begegnen und kennenlernen.

       3. Langfristige statt kurzfristige Finanzierung

Veränderungsprozesse im Stadtteil zu begleiten und umzusetzen erfordert Zeit und auch der Aufbau vertrauensvoller Beziehungen in heterogenen Nachbarschaften muss wachsen. Daher ist für heterogene oder/und sich verändernde Gebiete eine langfristige Finanzierung und Planungssicherheit wichtig, statt einer kurzfristigen, projektbezogenen Finanzierung.   

       4. Budget für Veranstaltungen und Material

Für die Arbeit im Sozialraum muss eine angemessene Ausstattung der Nachbarschaftsräume gewährleistet werden. Weiterhin wird ein unbürokratisch zu verwaltendes Budget benötigt, um kreative und innovative Prozesse und Begegnungen zu ermöglichen.

       5. Träger

Mögliche Träger von inklusiver Gemeinwesenarbeit sind Vereine, Migrant*innenorganisationen, freie Träger, Städte, Baugenossenschaften, kooperative Trägerstrukturen oder hochschulnahe Institute.

       6. Kooperation und Forschungsprojekte

Der fachliche Austausch der Akteur*innen in den neuen Nachbarschaften soll durch Netzwerkstrukturen  und  Tagungen verstärkt gefördert werden. Zur
Begleitung der sozialräumlichen Veränderungsprozesse müssen Forschungsprojekte zwischen Hochschulen und Praxis zeitnah auf den Weg gebracht werden.

 

7    Fazit

Um die gesellschaftliche Entwicklungen hin zu einer inklusiven und nachhaltigen Gesellschaft zu fördern und gleichzeitig die sozialräumliche Integration der Geflüchteten zu ermöglichen, muss der Prozess des Zusammenwachsens von Nachbarschaften entsprechend begleitet, Konkurrenzen und Probleme aufgegriffen und bearbeitet werden. Die Gemeinwesenarbeit, die sowohl Ressourcen und Akteure im Sozialraum managt, als auch auf der Beziehungs- und Bildungsebene mit besonders vulnerablen Personen arbeitet, verfügt hierbei über geeignetes und langjährig erprobtes Handwerkszeug. Gemeinwesenarbeit ist dabei auch als intermediäre Mittlerin zwischen Bewohner*innen und Verwaltungsebene tätig, aber gleichzeitig wird maßgeblich an Beziehungs- und Bildungsprozessen im Stadtteil gearbeitet und der Aufbau sozialen Kapitals gefördert.  Die Investitionen in Empowermentprozesse der Menschen werden sich mittelfristig in Kostenersparnissen an anderer Stelle niederschlagen. Um zu lebendigen, vielfältigen, zukunftsfähigen Nachbarschaften zu gelangen, unter Einbeziehung auch der ökonomisch und/oder sozial benachteiligten Bevölkerung, gilt es das Konzept der Gemeinwesenarbeit zu (re-)aktivieren und systematisch auszubauen.



[1]Stövesand, S.; Stoik, Ch. (2013) Gemeinwesenarbeit als Konzept Sozialer Arbeit – Eine Einleitung. In: Stövesand, S.; Stoik, Ch.; Troxler, U. (2013) Handbuch Gemeinwesenarbeit S. 21

[2]Erweiterte Zusammenstellung aufbauend auf den Prinzipien von Lüttringhaus (2011) Zusammenfassender Überblick: Leitstandards der Gemeinwesenarbeit. In: Hinte, W.; Lüttringhaus, M.; Oelschlägel, D. (2011) Grundlagen und Standards der Gemeinwesenarbeit. Juventa Verlag Weinheim

[3] Erweiterte Darstellung aufbauend auf Sabine Stövesand, Christoph Stoik, Ueli Troxler (Hrsg.), 2013: Handbuch Gemeinwesenarbeit, Kap. 5