Die Rolle der Sozialen Ökonomie bei der Rekonstruktion Lokaler Ökonomien

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Dr. Karl Birkhölzer, Technische Universität Berlin, Interdisziplinäre Forschungsgruppe Lokale Ökonomie - Sekr. FR 4-8, Franklinstr. 28-29, 10587 Berlin, Tel. 314-26740 - im Technologie-Netzwerk Berlin e. V.; eMail: karl.birkhoelzer@tu-berlin.de; Homepage: http://www.tu-berlin.de/fb2/medho/lokoek1.html

(Hintergrundtext zum Vortrag "Lokale Ökonomie und Soziale Stadt" bei der Jahrestagung Stadtteilarbeit 2006 in Hannover)


Einführung: Global Denken – Lokal Handeln

Der Begriff "Lokale Ökonomie" wurde meines Wissens erstmals Anfang/Mitte der 80er Jahre in Großbritannien geprägt und zwar im Zusammenhang der Entwicklung eigenständiger wirtschaftspolitischer Strategien auf kommunaler Ebene ("local economic strategies"), getragen von den Stadträten ("Metropolitan Councils") englischer Großstädte (Greater London, Manchester, Merseyside, South and West Yorkshire, West Midlands) als Reaktion auf die zunehmende Arbeitslosigkeit, Verarmung und den Verfall der Innenstädte im Gefolge einer extrem neoliberalen bzw. marktradikalen Wirtschaftspolitik der Thatcher-Ära. Dabei war das nach wie vor flächenmäßig größte und gleichzeitig erfolgreichste lokalökonomische Experiment das Programm "Jobs for a Change" des Greater London Council zwischen 1981 und 1986, welches traurige Berühmtheit vor allem dadurch erlangte, dass die nationale Regierung diesen Experimenten mit der Auflösung der Metropolitan Councils und damit verbunden der Amtsenthebung der aktiven Stadträte den politischen Boden entzog (vgl. Greater London Council 1985; TU Berlin 1986; Lorenz 1995).

In der Konsequenz dieses ziemlich beispiellosen Eingriffs in die Selbstverwaltungsrechte von Gebietskörperschaften ist auch das Thema "Lokale Ökonomie" zumindest von der offiziellen wirtschaftspolitischen Agenda wieder abgesetzt und von der kommunalpolitischen Ebene in den Bereich der Zivilgesellschaft abgedrängt worden. Damit ist das Thema zwar für einige Zeit aus dem Bewußtsein der Öffentlichkeit verschwunden, hat sich aber in der Praxis in einer breiten Vielfalt von Bürger- und Gemeinweseninitiativen für ökonomische Selbsthilfe kontinuierlich weiterentwickelt, über nationale und internationale Netzwerke verbreitet und nicht zuletzt unter dem Titel "lokale Beschäftigungsinitiativen" Eingang in die Beschäftigungsstrategie der Europäischen Union gefunden (Europäische Kommission 1993, 1995 und 1996).

In der Bundesrepublik Deutschland wurde das Thema "Lokale Ökonomie" über viele Jahre wenig beachtet. In dieser Situation war es das Verdienst der Technischen Universität Berlin, durch ein mehrjähriges interdisziplinäres Forschungsprojekt "Lokale Ökonomie: Exploration und Evaluierung lokaler Strategien in Krisenregionen" (1988-1992) ermöglicht zu haben, dieses Thema für die deutsche Öffentlichkeit aufzuschließen und bekannt zu machen (vgl. IFP Lokale Ökonomie 1990,1991). Die Abschlusskonferenz unter dem Titel "In Europa voneinander lernen" (Ende 1992) versammelte mit Unterstützung der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit und Frauen bereits damals über 600 Vertreter aus lokalökonomisch orientierten Initiativen aus West- und Osteuropa (vgl. Zukunft im Zentrum / Technische Universität Berlin 1993,1994).

Noch unter dem unmittelbaren Eindruck der dramatischen Ereignisse in den Neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung war dieser Kongress von einer Aufbruchstimmung getragen sowie von der Bereitschaft, nach neuen Lösungen zu suchen und sich dabei von den Erfahrungen anderer anregen zu lassen. So wurde der Erfahrungsaustausch bereits mit der These eröffnet: "In den verschiedenen lokalen Strategien ökonomischer Selbsthilfe aus europäischen Krisenregionen entwickeln sich die Umrisse eines neuen oder dritten Wirtschaftssektors, der sich von traditioneller marktwirtschaftlicher ebenso wie von staatlich gelenkter Wirtschaftsweise unterscheidet" (Birkhölzer 1994, 9f.). Mit zunehmender Normalisierung der Verhältnisse ist leider auch das Interesse am Thema wieder erlahmt, wenngleich die zugrunde liegenden Probleme sich keineswegs verflüchtigt, sondern eher noch zugespitzt haben. Es ist deshalb – aus meiner Sicht – kein Zufall, dass das Thema "Lokale Ökonomie" im Rahmen des Programms "Soziale Stadt", d.h. demjenigen Programm, welches sich explizit mit den Folgen von Arbeitslosigkeit, Armut und sozialer Ausgrenzung für die Entwicklung der Städte und Gemeinden befasst, zu einem der zentralen Handlungsfelder erklärt wurde. Andererseits bereitet das Thema in der praktischen Umsetzung noch erhebliche Probleme, weshalb es mir sinnvoll erscheint, das Thema "Lokale Ökonomie" in seiner historischen und aktuellen Bedeutung als Einführung zu meinem eigentlichen Beitrag zum Teil-Sektor der "Sozialen Ökonomie" etwas ausführlicher zu erläutern.


Soziale Ökonomie als Teil-System der Lokalen Ökonomie

"Lokale Ökonomie" ist eine Reaktion auf die Herausbildung einer globalisierten Ökonomie, welche sich auszeichnet durch:

  • eine zunehmende ökonomische Spaltung in Reichtums- und Krisenregionen, in Arbeit Habende und Arbeitslose, in sozial Integrierte und Ausgegrenzte;
  • den zunehmenden Verlust nationalstaatlicher Kontrolle über das Wirtschaftsgeschehen und damit verbunden den Niedergang des Konzepts der Nationalökonomie;
  • die zunehmende Verlagerung von Entscheidungen über lokale oder regionale Probleme auf supranationale Institutionen bzw. exterritoriale Konglomerate;
  • und nicht zuletzt die Konzentration von Macht und Ressourcen auf eine schrumpfende Zahl von "global players" und mit ihnen verbundenen Territorien.

"Lokale Ökonomie" unternimmt dagegen den Versuch, die Entscheidungsfähigkeit auf der lokalen Ebene zurückzugewinnen, durch:

  • die Stärkung bzw. Wiederherstellung lokaler Wirtschaftskreisläufe;
  • die Schaffung von Arbeit und Einkommen am Ort und für die Bedürfnisse des Ortes;
  • die Mobilisierung der endogenen Potentiale, insbesondere der unbeschäftigten Ressourcen sowie der brachliegenden Fähigkeiten und Kenntnisse in der Bevölkerung – nicht zuletzt unter den Arbeitslosen oder aus sonstigen Gründen für überflüssig Erklärten.

In diesem Konzept der Rekonstruktion "Lokaler Ökonomien" nimmt das Konzept der "Sozialen Ökonomie" eine Schlüsselrolle ein: Während – insbesondere in Krisengebieten – die traditionell vorherrschenden Sektoren der Ökonomie, d.h. der erste (private, gewinnorientierte) Sektor sowie der zweite (staatliche bzw. öffentliche) Sektor, in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung abnehmen, weil sie nicht nur immer weniger Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten zur Verfügung stellen, sondern sich zunehmend auch aus dem Angebot notwendiger Güter und Dienstleistungen zurückziehen, bleiben wichtige Bereiche der Versorgung der Bevölkerung der Eigeninitiative der Betroffenen überlassen oder werden in die Schattenökonomie (als 4. Teilsystem der Lokalen Ökonomie) abgedrängt (vgl. Birkhölzer 2000 u. 2001).

Überall in Europa ist derzeit ein Rückzug aus der sozialen Verantwortung zu beobachten, wobei in Deutschland ausgerechnet eine rot-grüne Regierung die sogenannte "Reform" des Sozialstaates nicht nur mit den (inzwischen gescheiterten) Instrumenten thatcheristischer Wirtschafts- und Sozialpolitik zu betreiben versuchte, sondern auch zu deren Legitimation mit der Thatcher-Parole: "There is no alternative", oder kurz "TINA" hausieren ging, wobei es den Anschein hat, dass die neue schwarz-rote Koalition diesen Kurs ungebrochen fortsetzt. So muss TINA inzwischen für alles herhalten, von der Kürzung der Renten und der Arbeitslosenunterstützung bis zur Lockerung des Kündigungsschutzes, der Schließung von Bibliotheken, Schwimmbädern und anderen öffentlichen Einrichtungen.


Definitionen und Abgrenzungen

Die Diskussion in unserem Handlungsfeld wird zusätzlich dadurch erschwert, daß sie von einer verwirrenden Vielfalt sich teils überschneidender, teils widersprechender Begriffe beherrscht wird, wie z.B. Dritter Sektor und Drittes System, Soziale und Solidarische Ökonomie, Gemeinwesenökonomie, Stadtteil- und Nachbarschaftsökonomie und ähnliches mehr. Das hat seine Ursache darin, daß die entsprechenden Konzepte in der Regel nicht am Schreibtisch entstanden sind, sondern in der Praxis von sozialen Bewegungen mit unterschiedlichen Ausgangspunkten geprägt wurden. Die Begriffe unterscheiden sich daher häufig nur nach dem zentralen Anliegen der Akteure, je nach dem ob sie z.B. das Gemeinwesen, den Stadtteil oder die Nachbarschaft, bestimmte soziale Zielsetzungen bzw. –gruppen oder allgemein die Solidarität in den Mittelpunkt stellen. Für eine wissenschaftliche Analyse oder systematische Bestandsaufnahme sind solche Zuordnungen allerdings keineswegs ausreichend. Wir haben deshalb im Rahmen einer Bestandsaufnahme des "Dritten Sektors" im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung die folgenden Abgrenzungen vorgenommen (vgl. Birkhölzer/Kistler/Mutz 2004, S. 10ff und 102ff):

  • Der Begriff "Dritter Sektor" wird als der umfassendere angesehen, der alle, sowohl wirtschaftlich handelnde als auch nicht-wirtschaftlich handelnde Non-Profit-Organisationen (NPO’s) umfasst.
  • Unter den Begriffen "Drittes System" bzw. "Soziale Ökonomie" werden nur die explizit wirtschaftlich handelnden Teile des "Dritten Sektors" verstanden, wobei auch Mischformen zwischen dem Ersten und dem Dritten Sektor (wie z.B. im Genossenschaftsbereich) sowie dem Dritten und dem Zweiten Sektor (wie z.B. im Bereich der Wohlfahrtsorganisationen) einbezogen sind.
  • Mit dem Begriff der "Sozialen Unternehmung" sollen die einzelnen Wirtschaftseinheiten erfasst werden, aus denen sich das Dritte System bzw. die Soziale Ökonomie zusammensetzen.
  • Entsprechend soll mit dem Begriff "Soziale Unternehmenskultur" die besondere Art und Weise des Wirtschaftens in Sozialen Unternehmungen, einschließlich ihres Umfeldes aus Fördereinrichtungen, intermediären Strukturen und Rahmenbedingungen erfasst werden.

Im Vordergrund unserer Untersuchungen stand in erster Linie der explizit wirtschaftlich handelnde Teil des "Dritten Sektors", da die innovativen Potentiale des Sektors gerade in seinem wirtschaftlichen Handeln zu suchen sind. Dieser "Dritte (Wirtschafts-) Sektor" lässt sich vom "Ersten Sektor" – der privaten gewinnorientierten Wirtschaft – und vom "Zweiten Sektor" – der staatlich bzw. öffentlich verfassten Wirtschaft – durch folgende Kriterien abgrenzen:

  • Es handelt sich um privatrechtlich verfasste Wirtschaftsunternehmen zur Realisierung sozialer und/oder gemeinwesenbezogener Zielsetzungen.
  • Sie entstehen aus Formen der Selbstorganisation bzw. Selbsthilfe von Bürgern, die sich von Risiken in der sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Situation und/oder Mängeln in der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen betroffen fühlen.
  • Ihr wirtschaftliches Handeln ist den sozialen und/oder gemeinwesenbezogenen Zwecken untergeordnet (oder zumindest gleichgestellt) und folgt dem Prinzip des "not-for-private-profit-distributing".
  • Das unternehmerische Handeln geht von einer gemeinschaftlichen, kollektiven oder kooperativen Basis aus.

Kennzeichnende Merkmale des Sektors sind dementsprechend folgende Eckpunkte:

  • Vorrang sozialer und/oder gemeinwesenbezogener Zielsetzungen,
  • Bürgerschaftliches unternehmerisches Engagement,
  • Gemeinwirtschaftliche Gewinnverwendung und
  • Kooperative Organisationsformen.

Dabei wurde ein Verfahren der Abgrenzung des Sektors gewählt, welches sich nicht mehr an institutionellen Kriterien oder Rechtsformen orientiert, wie es noch bis vor kurzem in der Europäischen Kommission üblich war. Die dort gebräuchliche Einteilung des "Dritten Systems" bzw. der "Sozialen Ökonomie" in die vier Säulen der Genossenschaften (coopératifs), Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit (mutualités), Vereinigungen (associations) und Stiftungen (fondations), kurz: CMAF, hat sich als wenig hilfreich erwiesen, da die entsprechenden institutionellen Regelungen und Rechtsvorschriften in den einzelnen Ländern der Europäischen Union ganz erheblich voneinander abweichen. Um eine Vergleichbarkeit auf europäischer Ebene herzustellen, war es deshalb erforderlich, Kriterien zu identifizieren, welche sich unabhängig von den politischen, rechtlichen und kulturellen Besonderheiten in den einzelnen Ländern anwenden lassen. Das Verfahren hat andererseits den Nachteil, dass sich die entsprechenden Kriterien nicht ohne weiteres in den amtlichen Statistiken wiederfinden, weshalb quantitative Analysen und Vergleiche derzeit noch außerordentlich schwierig sind.


Soziale Ökonomie als Wachstumssektor

Trotz dieser Einschränkungen lässt sich aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse bereits heute feststellen, dass es sich um einen Sektor mit überdurchschnittlichem Wachstum handelt und zwar sowohl hinsichtlich der Zahl der Unternehmungen als auch der der Arbeitsplätze. Dies ist durch eine Reihe international vergleichender empirischer Untersuchungen für die Europäische Union und darüber hinaus belegt (neben Salamon/Anheier 1999 und CIRIEC 2000 vgl. auch Borzaga/Santuari 1998, Birkhölzer u.a. 1999, Spear u.a. 2001) und wird durch unsere eigene Bestandsaufnahme für die Bundesrepublik Deutschland bestätigt. Darüber hinaus kamen die Untersuchungen im Rahmen der EU-Gemeinschaftsinitiative "Third System and Employment" übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass das Beschäftigungs- und Entwicklungspotential im Dritten System bei weitem nicht ausgeschöpft ist, sondern von einer Vielzahl hemmender Faktoren in seiner Entfaltung behindert wird (vgl. Campbell 1999a und 1999b).

Nach Schätzungen der Europäischen Union im Rahmen der Gemeinschaftsinitiative "Third System and Employment" umfasst der Sektor in Europa ca. 8,88 Millionen Vollzeitarbeitsplätze, davon in Deutschland ca. 1,86 Millionen (CIRIEC 2000). Unsere Bestandsaufnahme auf der Grundlage des Betriebspanels des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ergab eine Zahl von mindestens 1,9 Millionen Vollzeitarbeitsplätzen; werden Teilzeitkräfte berücksichtigt, erhöht sich die Zahl der Beschäftigten auf 2,5 Millionen. Die Zahl der freiwilligen oder ehrenamtlichen Mitarbeiter beträgt das 2-3-fache der hauptamtlichen Beschäftigten, ohne dass deren Arbeitsleistung bzw. Beitrag zur Wertschöpfung Berücksichtigung findet.

Soziale Unternehmungen sind eng verknüpft mit dem Entstehen und der Entwicklung sozialer Bewegungen, die sich aufgrund unversorgter Bedürfnisse und/oder unbewältigter Konflikte herausbilden. Der Sektor hat insofern eine inzwischen mehr als 150jährige Geschichte, wobei neue Krisenerscheinungen, Konflikte oder unversorgte Bedürfnisse auch immer wieder neue Typen von Sozialen Unternehmensformen hervorgebracht haben.

Auf dieser Grundlage konnte sowohl eine Chronologie als auch eine Typologie der Sozialen Unternehmenskultur in Deutschland (und darüber hinaus) erstellt werden, welche nach unserer Meinung am besten geeignet ist, den Charakter, die Entwicklung und die Perspektiven dieses Sektors angemessen zu erfassen.

So können wir differenzieren zwischen einer älteren sozialwirtschaftlichen Bewegung aus

  • Genossenschaften,
  • Wohlfahrtsorganisationen,
  • Stiftungen und
  • ideellen Vereinigungen,

deren Ursprünge in die Frühzeit der Industriegesellschaft zurückreicht und die im Verlauf von deren Entwicklung auch mehrfach ihren Charakter verändert hat – und einer jüngeren sozialwirtschaftlichen Bewegung, welche sich seit den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts (in anderen europäischen Ländern zumeist schon früher) an den Krisenerscheinungen des Transformationsprozesses zu einer "nachindustriellen Gesellschaft" entzündet hat, von den

  • Integrationsunternehmen benachteiligter Gruppen,
  • Freiwilligendiensten und –agenturen,
  • Unternehmungen der Alternativ-, Frauen- und Umweltbewegung,
  • Unternehmungen der Selbsthilfebewegung,
  • sozio-kulturellen Zentren,
  • Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften,
  • Tauschsystemen auf Gegenseitigkeit bis zu den
  • Nachbarschafts- und Gemeinwesenökonomieinitiativen.

Diese knüpfen zum Teil an Traditionen der älteren sozialwirtschaftlichen Bewegung an und haben wesentlich zu deren Wiederbelebung bzw. Modernisierung beigetragen. Dabei lassen sich bei der Neugründung Sozialer Unternehmungen grob drei Entwicklungslinien unterscheiden, die in gewisser Weise zeitlich aufeinander folgen:

  • Soziale Unternehmungen als praktizierte Gesellschaftskritik,
  • Soziale Unternehmungen als Antwort auf die Massenarbeitslosigkeit,
  • Soziale Unternehmungen als Instrument lokaler Entwicklung.

Soziale Ökonomie als Hoffnungsträger für die Integration Benachteiligter

In diesem Zusammenhang ist die Soziale Ökonomie – zumindest auf der Ebene der Europäischen Union und in einigen Mitgliedsstaaten wie z.B. in Belgien, Frankreich, Italien, Irland, Schweden, Spanien und jüngst in Großbritannien (vgl. "Social Enterprise Strategy", DTI 2002 und 2003) – zu einem Hoffnungsträger geworden als Instrument für

  • die Integration sozial ausgegrenzter oder benachteiligter Personen,
  • die Schaffung neuer und zusätzlicher Arbeitsplätze sowie
  • die Mobilisierung bürgerschaftlichen Engagements durch Partizipation und Empowerment.

Bevor wir allerdings zu der Frage kommen, ob diese Hoffnungen berechtigt sind bzw. wie und warum die Soziale Ökonomie als Strategie sozialer und ökonomischer Integration eingesetzt werden kann, erscheint es sinnvoll, sich die Ursachen von Benachteiligung und Desintegration noch einmal in Erinnerung zu rufen. Schließlich können die besten Integrationsstrategien nichts nützen, sofern sie von falschen Voraussetzungen ausgehen.

  • Ausgangspunkt von Benachteiligung und Desintegration ist in erster Linie der Mangel an existenzsichernden und zukunftsfähigen Arbeitsplätzen im Allgemeinen, wodurch zwangsläufig eine Selektion bei der Verteilung der vorhandenen Arbeitsplätze in Gang gesetzt wird. Davon besonders betroffen sind zwangsläufig alle ökonomisch und sozial Schwächeren, die sog. "Problem- oder Zielgruppen" des Arbeitsmarktes.
  • Die Verteilung der verbleibenden Arbeitschancen bzw. der Arbeitslosigkeit wird zunehmend gesteuert durch einen Prozess der sozialen und ökonomischen Segregation; d.h. Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Ausgrenzung verteilen sich nicht gleichmäßig, sondern konzentrieren sich sozial wie räumlich in bestimmten Regionen oder Gemeinden, Stadtquartieren oder Nachbarschaften, wodurch der Wohnort zu einem entscheidenden Benachteiligungsfaktor wird. Dies setzt wiederum eine Wanderungsbewegung in Gang, an deren Ende die in den benachteiligten Quartieren Zurückbleibenden einem verschärften Selektionsdruck unterliegen.
  • Der ungleichen Verteilung der Arbeitschancen entspricht auf der subjektiven Ebene eine Polarisierung der Entfaltungsmöglichkeiten bzw. Lebenschancen im allgemeinen; trotz allen Geredes vom "Ende der Arbeitsgesellschaft" entscheidet der Zugang zur Erwerbsarbeit nach wie vor über die Möglichkeiten zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Während einer Minderheit schier unbegrenzte Entfaltungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stehen scheinen, wächst die Zahl derjenigen, die unter einem empfindlichen Mangel an Gestaltungsmöglichkeiten und Sinnstiftung leiden.

Strategien der Integration solcher benachteiligter Menschen müssen deshalb nach meiner Ansicht eine praktische Antwort auf die genannten Probleme finden. Eine solche Strategie hätte die folgenden Bedingungen zu erfüllen:

  • Unter den gegebenen Bedingungen hat die Integration in existenzsichernde und zukunftsfähige (Erwerbs-) Arbeit absoluten Vorrang. Dieses Ziel ist nur erreichbar, wenn den Betroffenen neue, zusätzliche und dauerhafte Arbeitsplätze (d.h. nicht nur vorübergehende Arbeitsgelegenheiten) angeboten werden.
  • Dabei kann es nicht darum gehen nur "irgendwelche" Arbeit anzubieten; nachhaltige Integration wird nur erreichbar sein, wenn der Zugang zu Erwerbsarbeit mit konkreter Sinnstiftung verknüpft wird, d.h. die Erfahrung einschließt, dass die geleistete Arbeit einen konkreten Nutzen stiftet. Soziale und/oder gemeinwesenbezogene Arbeit zur Befriedigung unversorgter Bedürfnisse im lokalen Umfeld bietet dafür die besten Voraussetzungen. An solcher "gesellschaftlich notwendiger" Arbeit herrscht gerade in benachteiligten Regionen und Quartieren kein Mangel. Das Problem besteht darin, dass dies gegenwärtig als nicht finanzierbar erscheint, weshalb hierfür innovative unternehmerische bzw. ökonomische Lösungen gefunden werden müssen.
  • Die Betroffenen sollten in die Suche nach solchen Lösungen aktiv einbezogen werden. Dazu bedarf es der Mobilisierung von Eigenmotivation, Eigenverantwortung und Selbstorganisation, nicht etwa aus moralischen, sondern in erster Linie aus ökonomischen Gründen, weil die Nachhaltigkeit bzw. langfristige Tragfähigkeit solcher Initiativen von der aktiven Beteiligung der Mitarbeiter abhängig ist, was in unseren Fallstudien immer wieder bestätigt wurde (vgl. Birkhölzer/Kistler/Mutz, S. 161 ff).
  • Die Fähigkeit zu ökonomischer Selbsthilfe kann insbesondere bei benachteiligten Gruppen nicht einfach vorausgesetzt werden; es bedarf einer systematischen Entfaltung, Förderung und Unterstützung solcher Fähigkeiten, oder mit anderen Worten des "Empowerment". Leider hat dieser aus der Gemeinwesenarbeit stammende Begriff (vgl. Alinsky 1984) durch inflationären Gebrauch viel von seiner ursprünglichen Bedeutung verloren. "Empowerment" lässt sich insbesondere nicht herbeireden, sondern bedarf des Aufbaus konkreter Unterstützungsstrukturen, welche den Betroffenen Zugang zu Ressourcen, Weiterbildung, Kommunikation und Kooperation ermöglichen, z.B. nach dem Vorbild der "community resource and development centres" der "local partnerships" und ähnlicher Einrichtungen (vgl. Geddes/Benington 2001, Chanan 1999, Twelvetrees 1998).
  • Empowerment ebenso wie ökonomische Selbsthilfe lassen sich nicht über traditionelle Lehr- und Lernformen "vermitteln"; sie erfordern einen anderen, emanzipatorischen arbeitspädagogischen Ansatz, welcher in der Literatur auch als "Lernen im sozialen Umfeld" oder "Lernen im Prozess der Arbeit" bezeichnet wird. Dabei steht nicht die Form des intentionalen Lernens über definierte Lehr- und Lerninhalte im Vordergrund, sondern die Gestaltung von Lernräumen bzw. des Lernumfeldes, innerhalb dessen sich die Lernenden ihre eigenen Ziele setzen und diese selbständig und selbsttätig verfolgen (vgl. dazu das Programm "Lernen im sozialen Umfeld" der Arbeitsgemeinschaft für Betriebliche Weiterbildungsforschung e.V. /ABWF).

Soziale Unternehmen wirtschaften anders

Das Modellprojekt Berliner Entwicklungsagentur für Soziale Unternehmen und Stadtteilökonomie /BEST hatte sich zum Ziel gesetzt, die Integration benachteiligter Menschen entsprechend dem vorgestellten Konzept durch Integration in den Aufbau Sozialer Unternehmen und stadtteilökonomischer Strukturen in benachteiligten Stadtquartieren Berlins zu erproben. Das Konzept, die Vorgehensweise und die Ergebnisse werden in einem späteren Workshop vorgestellt, weshalb ich mich hier darauf beschränken kann zu erläutern, warum Soziale Unternehmen für die gestellte Aufgabe besonders geeignet erscheinen. Dabei beziehe ich mich auf die bereits erwähnte Bestandsaufnahme zur sozialen Unternehmenskultur in Deutschland, in der wir in einer Reihe von Fallstudien der Frage nach der besonderen Art und Weise des Wirtschaftens in Sozialen Unternehmungen nachgegangen sind (Birkhölzer/Kistler/Mutz 2004, S. 21ff und S. 149ff).

Soziale Unternehmungen entstehen, wie bereits gesagt, als Ergebnis eines zivilgesellschaftlichen und solidarischen Engagements von Bürgern aufgrund eines oder mehrerer als kritikwürdig oder unerträglich empfundener Mängel in der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen. Waren dies in der Vergangenheit eher Mängel im Bereich der sozialen und kulturellen Dienstleistungen, so sind in den vergangenen Dekaden auch ökologische Problemstellungen, die Folgen der Arbeitslosigkeit und regionaler Ungleichentwicklungen – wie z.B. die Entstehung von Problemquartieren und Krisenregionen – hinzugekommen.

Soziale Unternehmungen sind deshalb überwiegend ortsgebunden bzw. in ihrer Zielsetzung wie in ihrem Angebot auf die lokalen bzw. regionalen Märkte orientiert. Dabei sind vor allem zwei Entwicklungshemmnisse zu überwinden: auf der Nachfrageseite der Mangel an Kaufkraft bei den betroffenen Gruppen bzw. Gebieten sowie auf der Angebotsseite der Mangel an Eigenkapital bzw. Zugang zu Ressourcen.

Unter diesen Bedingungen beruht der Erfolg Sozialer Unternehmungen auf sowohl eigenständigen wie innovativen betriebwirtschaftlichen Strategien, vor allem in den Bereichen Management und Personalentwicklung, Einsatz Sozialen Kapitals, soziales Marketing und Finanzierung:

Partizipatives Management

Soziale Unternehmen sind sowohl in ihrem Aufbau als auch in ihrem Betrieb in hohem Maße von der Motivation und dem Engagement ihrer Mitarbeiter/innen abhängig, was ein hohes Maß an innerbetrieblicher Demokratie voraussetzt. Das wird am besten dadurch gewährleistet, dass die Mitarbeiter/innen auch als Mitunternehmer/innen (wie z.B. in den italienischen Sozialgenossenschaften) behandelt werden oder zumindest an den wirtschaftlichen Entscheidungen des Unternehmens konstitutiv beteiligt sind. Das gilt nach unserer Ansicht bereits für den Gründungsprozess, da der Aufbau eines Sozialen Unternehmens insbesondere in wirtschaftlich "schwachen" Gebieten ein Risiko darstellt, welches in der Regel nicht von einem Einzelunternehmer getragen werden kann. Insofern steht nicht der einzelne "social entrepreneur" im Vordergrund, sondern ein gemeinschaftlicher bzw. kollektiver Gründungsprozess, d.h. "social entrepreneurship". Das bedeutet allerdings nicht, dass innerhalb dieses Prozesses nicht auch Einzelpersönlichkeiten als treibende Kräfte oder "key persons" gebraucht werden. Langfristig entscheidend ist jedoch, dass alle, die das Risiko mitgetragen haben auch an den Entscheidungen und am Erfolg beteiligt sind, worauf nicht zuletzt der historische Erfolg der Genossenschaftsbewegung beruht. Nebenbei bemerkt, das Genossenschaftsprinzip setzt nicht zwangsläufig die Rechtsform einer Genossenschaft voraus, das entsprechende Solidarprinzip kann auch in anderen Rechtsformen, z.B. in einer GmbH oder einem Verein verankert werden.

Entfaltung Sozialen Kapitals

Unter "Sozialem Kapital" verstehen wir – unter Bezug auf eine Arbeitsdefinition, die in dem transnationalen Forschungsprojekt "The Contribution of Social Capital in the Social Economy to Local Economic Development in Western Europe / CONSCISE" (www.conscise.info ) entwickelt wurde – einen Set von Ressourcen, die sich aus dem Zusammenwirken von Personen in einem Gemeinwesen bzw. einer Organisation ergeben. Indikatoren sind das Vorhandensein, das Ausmaß und die Qualität von

  • Vertrauen in der Mitarbeiterschaft untereinander sowie zu den Gremien und Institutionen innerhalb wie außerhalb des Gemeinwesens bzw. der Organisation;
  • Gegenseitigkeitsbeziehungen formeller und informeller Art, von geregelten Austauschbeziehungen bis zu "selbstverständlichen" Hilfeleistungen untereinander;
  • allgemein akzeptierten Verhaltensnormen im Umgang mit den Mitgliedern des Gemeinwesens bzw. der Organisation wie mit bzw. gegenüber Außenstehenden;
  • Identität mit und Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwesen bzw. die Organisation;
  • sozialen Netzwerken formeller und informeller Art und
  • allgemein zugänglichen Informationsmöglichkeiten innerhalb und außerhalb des Gemeinwesens bzw. der Organisation.

Die Entwicklung und der Einsatz Sozialen Kapitals spielt in Sozialen Unternehmungen eine herausragende Rolle. Das betrifft insbesondere die Bedeutung von Vertrauen, sowohl zwischen den Mitarbeiter/innen untereinander als auch zwischen diesen und der Geschäftsführung, sowie als Geschäftsgrundlage in den Beziehungen zu Klienten, Kunden, öffentlichen Einrichtungen und anderen lokalen Akteuren. So konnten wir sowohl im Rahmen des CONSCISE-Projektes als auch in unseren Fallstudien viele empirische Belege dafür finden, dass Soziales Kapital – wie anderes Kapital auch – produktiv verwertet und eingesetzt werden kann. Es ist sogar in der Lage, den Mangel an physischem und Finanzkapital – zumindest teilweise – zu kompensieren. Es gibt vielfältige Beispiele von Initiativen, welche es ohne jedes Finanzkapital, aber mit der Investition von reichlich Sozialkapital geschafft haben, nicht nur Unternehmen zu gründen, sondern auch Güter und Dienstleistungen zu erbringen und schließlich das Ergebnis in Lohn und Einkommen zu verwandeln. Dieser Prozess könnte auch als "nachholende Akkumulation" bezeichnet werden. Soziales Kapital ist jedenfalls eine Ressource oder Produktivkraft, die auch denjenigen zur Verfügung steht, die nicht bereits mit reichlich physischem oder Finanzkapital gesegnet sind.

Soziales Marketing

Soziale Unternehmen beruhen auf einer gemeinschaftlichen Organisationsform, die neben den Mitarbeiter/innen auch andere lokale Akteure bzw. "Stakeholder" einbezieht. Sie produzieren von ihrer Entstehungsgeschichte her in der Regel nicht (oder zumindest nicht in erster Linie) für einen "anonymen Markt", sondern richten sich mit ihren Produkten und Dienstleistungen an einen Personenkreis, dessen (unversorgte) Bedürfnisse den Akteuren wohl bekannt sind, weil sie selbst oder ihre Angehörigen bzw. Mitstreiter zu dem gleichen Personenkreis gehören (wie z.B. in Kinderläden, Dorfladengenossenschaften, Stadtteilbetrieben, Selbsthilfeunternehmen von Arbeitslosen oder Integrationsfirmen benachteiligter Gruppen). Das gilt zumindest für diejenigen, für die das Kerngebot der Leistungen in erster Linie bestimmt ist. Hinzu kommen Leistungen für "Dritte", die oft nur deshalb getätigt werden, um die primären Leistungen zu unterstützen bzw. zu finanzieren. In manchen Fällen sind Produzenten und Konsumenten identisch, in anderen Fällen treten nicht-produzierende Nutznießer (z.B. Nichterwerbsfähige oder aus anderen Gründen Begünstigte) und nicht-konsumierende Produzenten (externe Unterstützer oder Spezialisten) hinzu. Wir haben es dabei mit sogenannten "Multi-Stakeholder-Unternehmen" zu tun, deren Austauschbeziehungen sich nicht mehr einfach mit den Kategorien Produzent und Konsument, Anbieter und Kunde oder Dienstleister und Klient beschreiben lassen. Vielmehr nehmen die Beteiligten eine Vielfalt unterschiedlicher Rollen ein, wobei die Beziehungen zwischen ihnen nicht mehr allein durch den Marktmechanismus, sondern auch durch nicht-marktförmige Austauschformen geregelt werden. Letzteres gilt insbesondere für unentgeltliche Arbeitsleistungen oder Investitionen, die auf der Basis nicht-monetärer Gegenseitigkeitsbeziehungen beruhen, wie z.B. dem Erhalt des eigenen Arbeitsplatzes, der unmittelbaren Teilhabe an der Nutzung der Produkte bzw. Dienstleistungen oder der Verbesserung der Lebensqualität. So gesehen kann soziales Marketing ebenso wie der Einsatz Sozialen Kapitals zum Ausgleich wirtschaftlicher Benachteiligungen eingesetzt werden. Dabei wird die lokale Verankerung in Gemeinwesen, d.h. der Aufbau, die Entwicklung und die Pflege kontinuierlicher Austauschbeziehungen zwischen den Sozialen Unternehmen und dem Gemeinwesen zu einer wesentlichen Erfolgsbedingung.

Not-for-private-profit bzw. gemeinwirtschaftliche Gewinnverwendung

Eines der häufigsten Missverständnisse besteht in der Verwechslung von sozialwirtschaftlichem Handeln mit dem juristischen Begriff der Gemeinnützigkeit. Letzterer ist traditionell geprägt von der Abwesenheit wirtschaftlicher Interessen, wobei diese mehr oder weniger automatisch mit dem Streben nach Gewinn, genauer: privater Gewinnaneignung in eins gesetzt werden. Soziale Unternehmen wollen demgegenüber zwar ebenfalls Gewinne (im Sinne von Überschüssen) erwirtschaften, verzichten aber ganz (oder überwiegend ) auf die private Ausschüttung dieser Gewinne. Entscheidend ist also nicht die Gewinnerzielungsabsicht an sich, sondern die Gewinnverwendung. In der Konsequenz ergibt sich daraus aber eine wesentliche Veränderung der wirtschaftlichen Zielsetzung und daran anschließend der betriebswirtschaftlichen Handlungsstrategien. Im Vordergrund sozialwirtschaftlichen Handelns steht folglich nicht die Rentabilität des eingesetzten Kapitals, sondern eine effiziente Kostendeckung der angestrebten sozialen und/oder gemeinwesenbezogenen Zielsetzungen. Dieser Perspektivwechsel ermöglicht Sozialen Unternehmungen das Wirtschaften in nicht-profitablen Bereichen sowie auf lokal bzw. sozial begrenzten Märkten.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Was ist eigentlich Wirtschaft? bzw. was ist eine wirtschaftliche Unternehmung? Entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis besteht Wirtschaften nicht in erster Linie im privaten Gewinnstreben; letzteres ist allenfalls ein Motiv für wirtschaftliches Handeln, nicht aber dessen Endziel. Letztlich geht es um die Befriedigung konkreter Bedürfnisse durch die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, und zwar auf möglichst effiziente Weise, d.h. durch bestmögliche Allokation der vorhandenen Ressourcen bzw. Produktionsfaktoren. Dazu gehört – unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit – selbstverständlich auch die Reproduktion dieser Ressourcen und Produktionsfaktoren, ein Bereich, in dem auch viele Soziale Unternehmen angesiedelt sind.

Mischfinanzierung

Wie aber können Soziale Unternehmen in wirtschaftlich "schwachen" Gebieten und auf lokal bzw. sozial begrenzten Märkten überhaupt zu einer Kostendeckung gelangen? Aufgrund unserer Untersuchungen beruht der Erfolg auf einer spezifischen Strategie der Mischfinanzierung aus

  • Einnahmen aus wirtschaftlicher Tätigkeit am Markt,
  • Einnahmen aus öffentlichen Mitteln, sofern öffentliche Aufgaben oder Aufgaben, die im öffentlichen Interesse liegen, übernommen werden und
  • Zuwendungen in Arbeitszeit und/oder Geld durch Dritte.

Der Schlüssel liegt offenbar in einem ausgewogenen Verhältnis der verschiedenen Einkommensarten, wodurch eine einseitige Abhängigkeit vom Markt, von der öffentlichen Hand oder von Sponsoren vermieden werden kann. Andererseits bestehen derzeit eine ganze Reihe von juristischen und/oder verwaltungstechnischen Hindernissen, die verschiedenen Einkommensarten in einem Unternehmen ohne allzu bürokratischen Aufwand zu vereinen. Dabei ist insbesondere das Verhältnis von Sozialen Unternehmen und öffentlicher Finanzierung reformbedürftig. Dabei geht es nicht um Subventionen oder Zuwendungen, sondern um modernisierte Leistungsverträge und eine Form der Auftragsvergabe, welche die spezifische Form der "Gemeinnützigkeit" Sozialer Unternehmen angemessen berücksichtigt.

Darüber hinaus ist freiwillige unbezahlte Arbeit für alle Soziale Unternehmungen eine unverzichtbare Ressource, nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern vor allem auch als Verbindung zwischen den Unternehmen und dem Gemeinwesen, in dem bzw. für das es arbeitet. Allerdings ist das klassische Verständnis vom "Ehrenamt" nicht mehr zeitgemäß und vor allem für Arbeitslose oder sonstwie Benachteiligte keine ernsthafte oder zumutbare Alternative zur Erwerbsarbeit. Dennoch kann die Aufnahme freiwilliger unbezahlter Arbeit in bzw. zum Aufbau Sozialer Unternehmen ein Weg sein, wie sich Arbeitslose bzw. sozial Benachteiligte durch Investition von freiwilliger unbezahlter Arbeit in die eigene Zukunft eine neue Lebensperspektive und schließlich einen existenzsichernden, sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz erarbeiten können. Einen solchen Weg aufzuzeigen, war Ziel unseres Modellprojekts BEST.

Darüber hinaus sollte Freiwilligenarbeit künftig mehr auf der Basis von Gegenseitigkeit "entlohnt" werden, d.h. auf der Grundlage eines klar definierten Nutzens für den Freiwilligen wie z.B.

  • auf der Grundlage eines Arbeitszeittausches nach dem Vorbild der Tauschringe und Seniorengenossenschaften,
  • eines Nutzungsrechts zur Inanspruchnahme von Leistungen
  • oder einer sogenannten "sozialen Dividente", d.h. eines Gewinns an unmittelbarer Lebensqualität.

Erkenntnisse aus dem Modellprojekt BEST

Abschließend möchte ich noch einmal auf die Frage zurückkommen, ob und inwiefern der Aufbau Sozialer Unternehmen eine Strategie zur sozialen und ökonomischen Integration benachteiligter (nicht nur junger) Menschen sein kann und dazu einige Erkenntnisse bzw. Erfahrungen aus dem Modellprojekt BEST zusammenfassen:

  • Es ist möglich, mit der von BEST angewandten Methode der Aktivierung von sozial Benachteiligten ökonomische Initiativen zur Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung in benachteiligten Quartieren zu entwickeln: Der bewirkte Mobilisierungsgrad ist relativ hoch, wobei die wirklich Betroffenen tatsächlich erreicht wurden.
  • Das Konzept der Gründung "Sozialer" Unternehmen wird von den Betroffenen angenommen und bietet die Chance gemeinschaftlicher Existenzgründungen von und mit Personen bzw. Personengruppen, die sonst nicht als "Unternehmer" tätig geworden wären. Einige Gründungsinitiativen haben bereits den Schritt in die unternehmerische Selbständigkeit mit formellen Unternehmensgründungen – zunächst als Vereine – unternommen; andere Gründungsinitiativen befinden sich im Entwicklungsstadium, d.h. das Potential ist weit größer
  • Die Entwicklung einer tragfähigen Sozialen Unternehmenskultur bzw. Stadtteilökonomie ist von zwei wesentlichen Voraussetzungen abhängig:
    • der Stärkung bzw. Bildung Sozialen Kapitals auf breiter Basis, sowohl horizontal unter den Bewohnern, Initiativen und anderen lokalen Akteuren, als auch vertikal zwischen den Bewohnern und politischen Instanzen, Ämtern, Behörden und anderen öffentlichen Einrichtungen - der unterschiedlichen Entwicklungsstand in den betreuten Gebieten belegt eindeutig, in welchem Ausmaß der Erfolg von diesen Faktoren abhängig ist;
    • dem Aufbau eines prozessbegleitenden und –unterstützenden Milieus; ohne die entsprechenden Leistungen der Agentur würden die Initiativen sich nicht auf dem erreichten Stand befinden oder gar nicht vorhanden sein; dabei beruht der Erfolg nicht in erster Linie auf der Förderung von Einzelprojekten, sondern in der Entwicklung des Milieus bzw. Gestaltung des Projektumfeldes: Kooperationen, Partnerschaften, Arbeitskreise, Foren, Beratungs- und Qualifizierungsangebote etc.
  • Der Aufbau und Betrieb Sozialer Unternehmen wird immer wieder an den Kriterien für den Aufbau und Betrieb kommerzieller Unternehmensgründungen gemessen und unterliegt deshalb einer Reihe von Missverständnissen: Wir haben eine ganze Reihe empirischer Belege aus dem In- und Ausland dafür, dass Soziale Unternehmen nicht nur anders wirtschaften, sondern auch auf andere Weise entstehen als traditionelle Existenzgründungen.
    Der Hauptgrund liegt in dem Umstand, dass traditionelle Unternehmungen
    • auf den entsprechenden Geschäftsfeldern,
    • in den entsprechenden Gebieten und
    • mit dem entsprechenden Personenkreis nicht zustande kommen.
  • Daher müssen Soziale Unternehmen beim Aufbau und Betrieb andere innovative Wege beschreiten, insbesondere
    • im Management: kein Einzelunternehmer als Hauptverantwortlicher, sondern alle Beteiligten sind an den Entscheidungen – aber auch am Risiko zu beteiligen;
    • im Marketing: keine Produktion für "anonyme" Märkte, sondern Kunden, Klienten etc. sind in die Gestaltung der Produkte und Dienstleistungen einbezogen, sei es als Mitunternehmer, Mitarbeiter oder sonstiger Stakeholder;
    • in der Finanzierung: keine existentielle Abhängigkeit von Fremdkapital und Krediten, sondern Entfaltung der Geschäftstätigkeit im Rahmen eines kostendeckenden Finanzierungsmix aus Einnahmen am Markt, öffentlichen Aufträgen (nicht Subventionen) und Zuwendungen von Arbeitskraft und/oder Geld durch Dritte.
  • Daraus folgt, der Business- oder Entwicklungsplan eines Sozialen Unternehmens zielt nicht in erster Linie auf die Erlangung der Kreditwürdigkeit bei Geschäftsbanken, sondern auf die Entfaltung der Geschäftstätigkeit im Rahmen der zu akquirierenden Möglichkeiten: We build the road as we travel – Motto der Mondragon-Gruppe, eines der erfolgreichsten Genossenschaftsmodelle in Europa (vgl. Morrison 1991).

Literatur

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  • IFP Lokale Ökonomie (Interdisziplinäres Forschungsprojekt Lokale Ökonomie an der Technischen Universität Berlin) (1991): Exploration und Evaluierung lokaler Strategien in Krisenregionen. Band II. Initiativen von Gemeinwesen und Kommunen zur (Wieder-)Herstellung lokaler Ökonomien in Großbritannien. Berlin
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  • Zukunft im Zentrum / Technische Universität Berlin, IFP Lokale Ökonomie (Hg.) (1993): Global denken – lokal handeln. In: Europa voneinander lernen. Beschäftigungs- und Strukturpolitik in Krisenregionen. Berlin
  • Zukunft im Zentrum / Technische Universität Berlin, IFP Lokale Ökonomie (Hg.) (1994): Lokale Ökonomie. Beschäftigungs- und Strukturpolitik in Krisenregionen. Ein internationales Symposion. Berlin

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