Hull House (Chicago)

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Ein Projekt außergewöhnlicher Frauen – Die Settlement Bewegung dehnt sich auf Nordamerika aus


Was war Hull House?

1889 gründete » Jane Addams gemeinsam mit ihrer Freundin und engsten Mitstreiterin » Ellen Gates Starr das erste Settlement-House in Chicago. Das nach seinem Vorbesitzer und Erbauer » Charles J. Hull benannte Haus gehört damit zu den ersten Versuchen, die Idee der Londoner Toynbee Hall auf Nordamerika zu übertragen.
» Hull House kann als sozial-, kultur- und bildungspolitische Einrichtung verstanden werden, die neben diversen offenen Kurs-, Weiterbildungs- und Beschäftigungsangeboten auch immer an einer wissenschaftlichen Durchdringung der in unmittelbarer Nachbarschaft auftretenden sozialen Probleme interessiert war. Charakteristisch für dieses Projekt ist die Ernsthaftigkeit und Weitsicht, mit der die » Frauen um Jane Addams an der politischen Veränderung der Ursachen von Armut und Unterdrückung arbeiteten.

Idee

1881 verließ Jane Addams das » Rockford College, um ein Studium der Medizin aufzunehmen, das sie jedoch aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen wenig später wieder aufgeben musste. Auf einer Europareise wurde sie nach dem Besuch der » Toynbee Hall in ihrem Vorsatz bestätigt, dass ihr Leben eine ähnliche Bestimmung erfahren sollte wie das der » Barnetts in London.
Angeregt und inspiriert von der Idee – ein offenes Haus in einer von Armut und Elend geprägten Nachbarschaft zu eröffnen – beschloss Jane Addams, die bereits zu diesem Zeitpunkt durch ihr Erbe finanziell abgesichert war, sich in Chicago niederzulassen. Die Besonderheit und zugleich auch Einschränkung, die das Chicagoer Nachbarschaftshaus aufwies, bestand in der Absicht, dass es vor allem junge Frauen und Mädchen sein sollten, welche die Aktivitäten organisierten und später durchführten. Jungen Frauen, die in der Mehrzahl angehende Akademikerinnen aus wohlhabenden gutbürgerlichen Familien waren, sollte auf diese Weise die Möglichkeit gegeben werden, in der konkreten Arbeit einen Ausgleich zu ihrem theoretischen Studium zu finden. Ebenso galt es „durch das Leben des Lebens Nöte kennen zu lernen“ (Jane Addams zitiert in Müller, 1991, S. 62) und mit der dadurch gewonnenen Erkenntnis der eigenen Bestimmung gewiss(er) zu werden.
Mit der Fokussierung auf weibliche Bewohnerinnen im Hull House entstand zugleich eines der ersten geschlechtsspezifischen Konzepte in der Sozialarbeit. Die Ursachen, die zur Entstehung dieses Paradigmas führten, sind, neben Addams´ eigener Biographie, letztlich in dem Umstand begründet, dass es jungen College-Absolventinnen zu dieser Zeit nicht möglich war, durch ihre erworbenen Kenntnisse und Abschlüsse ein Leben unabhängig von ihren Ehemännern und Familien zu führen bzw. einen einflussreichen Beruf auszuüben.
Neben den angestrebten Vorteilen, welche die Unterhaltung eines Settlements für die Frauen, die sich dort niederließen, mit sich bringen sollte, unterstrich Jane Addams aber auch immer die Bereicherung und Hilfe, die von solch einer Einrichtung für die Nachbarschaft ausging (Eberhart, 1995, S. 25).

Gesellschaftliche Situation

Im ausgehenden 19. Jahrhundert wandelten sich die Vereinigten Staaten von einem Agrar- zu einem Industriestaat. Bedingt durch die damit einhergehenden strukturellen Veränderungen im Bereich der Wirtschaft sowie durch die fehlenden Einwanderungsbeschränkungen wuchs die Einwohnerzahl jährlich um eine Million Menschen, von denen wiederum die Hälfte » Immigranten waren (Eberhart, 1995, S. 49). Noch 1833 war Chicago ein Dorf mit etwas mehr als 2000 Einwohnern. Durch die einsetzende Industrialisierung, die Erschließung des Westens, die Vertreibung und Ermordung der Indianer sowie durch den Bau der Eisenbahn entwickelte sich die Stadt zu einem beispiellosen Schmelztiegel der Kulturen und zu einer wahren „Boom Town“. 1890 überschritt die Einwohnerzahl bereits die Millionengrenze. Dass die dafür benötigte Infrastruktur nicht annähernd so schnell wuchs, liegt auf der Hand.
Das Stadtviertel Chicagos, in dem sich Hull House befand, wurde bestimmt durch eine » Vielzahl verschiedener ethnischer Gruppen, die sich stark voneinander abgrenzten und teilweise unter katastrophalen Zuständen zusammenlebten. Die ungebremste Industrialisierung mündete – ähnlich wie in England – in einem zügellosen Kapitalismus, der die bestehenden Gegensätze zwischen Besitzenden und Besitzlosen, zwischen Arm und Reich, deutlicher denn je erscheinen ließ. Kinderarbeit und extreme Ausbeutung der Arbeiter waren ebenso an der Tagesordnung wie erbärmliche und unhygienische Wohnverhältnisse. Zudem kam es mit wachsender Einwohnerzahl zu einer Gettoisierung der Immigranten samt ihrer Familien.
Ein anderer wichtiger Aspekt, der nicht unwesentlich zur Spannung in den Chicagoer Slums beitrug, war, dass sich unter den Immigranten aus Europa auch zahlreiche Anarchisten und Marxisten befanden, die entweder schon Erfahrungen mir revolutionären Umwälzungen besaßen oder zumindest um den theoretischen Klassenkampf wussten. Im Unterschied zum Londoner Stadtteil Whitechapel, wo mehr als die Hälfte der Bevölkerung nicht einmal die Möglichkeit hatte, in Arbeit zu kommen, „bestand die Nachbarschaft von Hull House im wesentlichen aus qualifizierten europäischen Arbeitern, ihren Familien und intellektuellen politischen Flüchtlingen, die arbeiten wollten und auch Arbeit fanden – allerdings zu den unmenschlichen Bedingungen des nordamerikanischen Kapitalismus“ (Müller, 1991, S. 84).
Die immer unhaltbarer werdende Situation endete deshalb nicht selten in » gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der sich » formierenden Arbeiterbewegung und der Polizei.
Kernpunkte der Klassenauseinandersetzungen waren:

  • geregelte Arbeitszeit mit einem 8 Stundentag
  • erträgliche Arbeitsbedingungen und Arbeitschutz
  • Verbot/Einschränkung von Kinderarbeit
  • » Fabrikgesetze
  • angemessene Löhne
  • Organisations- und Streikrecht

Auf der anderen Seite forderten Geschäftsleute, Fabrikanten, kleinere Unternehmer und andere Teile des Bürgertums härteste Strafen – bis hin zur Todesstrafe – bereits für den Versuch der anarchistischen Beeinflussung. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass sich die wohlhabenderen Kreise Chicagos, die mitunter auch zu den Sponsoren von Hull House gehörten, in erster Linie eine Befriedung und Klassenversöhnung von Chicagos ersten Nachbarschaftshaus erwarteten.

Ziele

Bei der Betrachtung der Zielstellung von Hull House, muss zunächst zwischen der noch etwas diffus wirkendenden Motivation, die 1889 zur Gründung führte, und dem reiferen Konzept der späteren Jahre unterschieden werden. War es anfangs in erster Linie das Ziel, junge Akademikerinnen mit dem „wahren Leben“ bekannt zu machen und ihnen auf diese Weise die Chance zu geben, eine sinnerfüllte, selbstbestimmte und ideell gewinnbringende Tätigkeit auszuüben, so verschoben sich schon bald die Prioritäten in Richtung Nachbarschaftshilfe. Neben den konkreten und praktischen Hilfen stand die Mobilisierung der Selbsthilfekräfte – ähnlich wie bei Toynbee Hall – sowie wie die politische Emanzipation der Bewohner im Mittelpunkt der Arbeit.
Um soziale Fortschritte und Frieden zu erzielen – so die Annahme von Jane Addams – brauchen demokratische Systeme einen regen Austausch der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen sowie intensive zwischenmenschliche Beziehungen. Die Basis dafür ist Kommunikation und gemeinsames Erleben. Ziel des Settlements müsste es daher sein, diesen Austausch in Form von Bildungs- und Kulturangeboten sowie Kommunikationsmöglichkeiten zu forcieren.
Die vom Hull House ausgehenden » wissenschaftlichen und politischen Untersuchungen verfolgten wiederum das Ziel, Veränderungen in der Arbeitswelt der Bewohner zu erstreiten und zu sichern. Das gewonnenen Daten dienten nicht zuletzt als Argumentationsmaterial für die Arbeiterbewegung und die Gewerkschaften.
Die Integration der Immigranten – wobei darunter ausdrücklich nicht nur » Assimilierung zu verstehen war – gehörte ferner zu den Kernanliegen des Chicagoer Settlements. Die Frauen um Jane Addams „erkannten den Schaden an der Identität, den eine Verdrängung der Sprache und Tradition der Herkunftskultur verursacht“ (Eberhard, 1995, S. 180). Die Einwanderer verloren ihre gewohnten Umgangsweisen, ohne jedoch an der amerikanischen Kultur im gleichen Maße teilhaben zu können. Die Settler traten daher für einen kulturbewahrenden Ansatz in den von ihnen konzipierten Aktivitäten ein.

Leitbilder

Ebenso wie die Barnetts gingen auch Jane Addams und die anderen » Residents davon aus, dass die Selbsthilfekräfte der Bevölkerung mit organisatorischen Impulsen bzw. dauerhafter logistischer Unterstützung zu wecken seien. Dagegen waren die beliebigen und noch dazu abhängig machenden milden Gaben der Wohlfahrtsorganisationen im besten Falle kontraproduktiv.
Aufgrund der gesammelten Erfahrungen und der zunehmenden Reife, der Protagonistinnen, änderte sich jedoch im weiteren Verlauf der Entwicklung von Hull House der ursprüngliche Ansatz ganz wesentlich. Während zu Beginn – wohl durch das Vorbild der Toynbee Hall begründet – noch davon ausgegangen wurde, dass die jungen gebildeten Frauen den Nachbarn Kultur nahe bringen sollten, sah man bald ein, dass die Einwanderer bereits über eine eigene und zudem ausgeprägte Kultur verfügten. Es kam also vielmehr darauf an, Podium und Forum für die verschiedenen Talente, Interessen und Fähigkeiten der Umgebung zu sein. Der Vorsatz des wechselseitigen Lernens, wie ihn die Vertreter der Settlement-Bewegung propagierten, wurde an dieser Stelle vortrefflichst auf die Probe gestellt. Die daraus resultierende Forderung lautet: Settlements sollten nicht die Kolonialisierung des Stadtteils sowie die Missionierung der Bewohner betreiben, sondern vielmehr an der Bereitstellung und Unterstützung von Ressourcen arbeiten, die dann im Sinne einer Plattform von den Bewohnern genutzt werden können.
In einem anderen Punkt führten die Erfahrungen im Hull House zu einer tiefgründigen und weitreichenden Einsicht. Das bis dato vertretene » Dogma „vom individuellen Versagen der Armen gegenüber den Anforderungen des Lebens und der Welt“ (Müller, 1991, S. 85) war vor dem Hintergrund und dem Wissen um kapitalistische Grundprinzipien und angesichts der beachtlichen Qualifikationen der Immigranten sowie einer Massenarmut in der arbeitenden Bevölkerung unhaltbar geworden. Denn das Problem bestand in Nordamerika – im Unterschied zur Situation in England – nicht etwa in einem Mangel an Arbeitsmöglichkeiten, sondern es waren vielmehr die Bedingungen, unter denen die Arbeit verrichtet werden musste, die als äußerst problematisch und armutsfördernd gelten konnten. Diese Einsicht verstärkte letztlich die Überzeugung, dass die einzige und letztlich auch die erfolgreichste Möglichkeit zur nachhaltigen Verbesserung der Lebensbedingungen der Bewohner in einer Veränderung ihrer Arbeitsbedingungen bestehe (Müller, 1991, S. 85). Nicht zuletzt deshalb waren die meisten sozialpolitischen Aktivitäten der Hull House-Bewohner auf eine direkte oder indirekte Verbesserung der Arbeitwirklichkeit ihrer Nachbarn ausgerichtet.


Umsetzung

Mit dem Geld aus ihrer Erbschaft suchten Jane Addams und Ellen Star Gates nach einem geeigneten Ort für die Umsetzung ihres experimentellen Vorhabens. Besonders passend fanden sie das Haus des verstorbenen Grundstücksmaklers Charles J. Hull im 19. Bezirk von Chicago. Nachdem sie anfangs nur einen Teil des Hauses anmieteten, wurden sie ein Jahr später durch eine Schenkung Alleinbesitzer des Hull House. Später umfasste das Settlement 13 Gebäude mit einer großen Anzahl von pädagogischen, kulturellen und politischen Angeboten.

Pädagogik / Sozialarbeit

Im Unterschied zu England jener Jahre mit seinen staatlichen Armengesetzen war die Armenhilfe in Nordamerika ausschließlich privat organisiert. Unterstützung in Form von Sach- oder Geldspenden wurde nach religiösen und weltanschaulichen Aspekten vergeben. Um die Bedürftigkeit des jeweiligen „Antragstellers“ zu überprüfen, schickten die leistungsfähigeren Wohlfahrtsorganisationen ihre „charity worker“ ins Feld (in England wurde zur selben Zeit von „friendly visitors“ gesprochen). Diese „mildtätigen Besucherinnen“ sollten die Wohn- und finanziellen Verhältnisse vor Ort erkunden und anschließend ein Votum zur Hilfebedürftigkeit gegenüber dem zuständigen „Hilfskomitee“ abgeben. Addams kritisierte des öfteren die Entscheidungen des Komitees mit dem Argument, dass die bourgeoisen Wertvorstellungen der „charity worker“ nichts mit den Wertvorstellungen und der Kultur der Hilfeempfänger gemein hätten und dass sie ferner selten zu der Not der Menschen passten (Eberhard, 1995, S. 123).
Das Selbstverständnis des Settlements ließ sich mit der bisher praktizierten Wohltätigkeit nicht erklären. Der Armutsbegriff, der für die Frauen um Jane Addams leitend war, ging von einem unverschuldeten, sozialökonomischen Missstand aus, den man ursächlich bekämpfen müsse, damit er erst gar nicht entstehen kann. In dem angebrochenen Industriezeitalter könne schließlich jeder infolge von Krankheit, Alter oder Arbeitslosigkeit unter die Armutsgrenze rutschen. Auffallend ist, dass im Chicagoer Settlement deutlich mehr differenziert wurde, was die Einteilung der „Armen“ in bestimmte Zielgruppen anging, als beispielsweise in der Toynbee Hall. So waren die Aktivitäten im Hull House gezielt auf Immigranten, Kinder, arbeitstätige Frauen oder Erwachsene ausgerichtet. Für jede Gruppe gab es speziell zugeschnittene Angebote, die meisten davon in Form der informellen » Clubs.
Während die vielen verschiedenen » Immigranten – Clubs sich in der Mehrzahl mit musikalischen, künstlerischen, philosophischen oder handwerklichen Themen befassten – die einen direkten oder indirekten Bezug zu der jeweiligen Herkunftskultur erlaubten – spiegelten die Clubs für Jugendliche eher die reformpädagogischen Auffassungen von Jane Addams und ihren Bekannten » John Dewey und » George Herbert Mead wider. Sie hofften, durch das breite Spektrum » kindgerechter Angebote die jungen Leute an Hull House zu binden und gleichzeitig mögliche Defizite von Schule und Arbeitsplatz auf diese Weise auszugleichen (Alexander in Lindner, 1997, S.67ff.).
Aber auch der » Erwachsenenbildung kam von Beginn an eine zentrale Bedeutung zu. Die Settler erkannten die Notwendigkeit, den Menschen Zugang zu den sozialen und ökonomischen Errungenschaften ihrer Zeit zu ermöglichen. Die Hemmnisse, die es zu überwinden galt, bestanden in den mangelnden Kommunikationsmöglichkeiten, fehlenden Sprachkenntnissen oder/und in unzureichender Allgemeinbildung. Die Methode, mit der durch die Interpretation und Reflexion des aktuellen Zeitgeschehens stärker auf das kollektive Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten abgezielt wurde, als auf die pure Vermittlung von Informationen, sollte im Ergebnis zu einem demokratischen Vorgehen gegen soziale Missstände führen. Andere Unterstützungsangebote, wie z.B. eine » Volksküche, die besonders nahrhaftes Essen zubereitete oder ein Caféhaus, in dem kein Alkohol ausgeschenkt wurde und das als Alternative zu den damals gut besuchten Saloons etabliert werden sollte, fanden dagegen kaum Zuspruch in der Nachbarschaft.
Betrachtet man jedoch die » Fülle künstlerischer Aktivitäten im Hull House, so wird die exponierte Stellung, welche der Kunst in dem Gesamtkonzept des Settlements eingeräumt wurde deutlich. Jane Addams und im besonderen Ellen Starr gingen davon aus, dass es eine starke wechselseitige Wirkung von Kunst und sozialem Umfeld gebe. Jeder Mensch, gleich welcher Herkunft und welchem Bildungsstand, besitze ein angeborenes Empfinden für Schönheit und Ästhetik. Kunst sollte daher die entscheidenden Lebensbereiche Arbeit und Freizeit miteinander verbinden und so dem tristen Leben einen neuen Sinn geben (Alexander in Lindner, 1997, S. 67). Der Einsatz und Umgang mit Literatur und Kunst hatte für die Arbeit mit den Immigranten noch eine andere Bedeutung. Durch die gezielte und aktive Auseinandersetzung mit dem Medium sollten diese an die für sie neue Gesellschaft gewöhnt und gebunden werden. Gleichzeitig riss so der Kontakt zur heimatlichen Gesellschaft und deren Traditionen, zum Beispiel durch die Beschäftigung mit europäischer Malerei und Literatur, nicht vollständig ab. Gerade an diesem methodischen Ansatz wird deutlich, dass Integration für die Settler kein linearer und einseitiger Prozess war. Vielmehr mussten Wechselwirkungen und gegenseitiger Austausch geschickt initiiert und organisiert werden, damit es zu einem beiderseitigen Lernprozess kam, der wiederum tatsächliche Integration erst möglich machte. Kunst wurde somit als methodisches Instrument verstanden und dementsprechend eingesetzt.
Eine weitere handlungsleitende Prämisse der sozialpädagogischen Arbeit war zudem, die Schwierigkeiten eines Menschen nie losgelöst von seinen Erfahrungen und seiner Lebensgeschichte zu betrachten. Der isolierte Blick auf ein Problem oder auf eine Episode führe mit hoher Wahrscheinlichkeit zu falschen Diagnosen und Fehleinschätzungen, so die Bewertung von Jane Addams (Eberhard, 1995, S.124). Um dem vorzubeugen, aber auch um der Verpflichtung sozialer Arbeit gerecht zu werden, kam der Analyse der Lebenssituation der Menschen eine gehobene Bedeutung zu. Damit gehörten Jane Addams und ihre Mitstreiterinnen zu den ersten, die eine – zugegebener Maßen noch vage –Vorstellung vom erst später entwickelten Case-Work-Ansatz formulierten.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der sozialpädagogische Auftrag des Hull House darin bestand, die Nachbarschaft untereinander in Beziehung zu setzen und sie gleichzeitig mit einer breiteren Kultur in Verbindung zu bringen. Das Resultat sollte in einer stärkeren Handlungsfähigkeit der Bewohner bestehen. Die ganzheitliche Betrachtung der Lebenssituation sowie der ökonomische Hintergrund des Einzelnen waren hierfür die Grundlage.

Sozialpolitik

Durch das breite fachliche Wissenspektrum der Residents, aber auch durch deren ganz persönliche Interessenlage, kam es in mehreren Zweigen der Sozial- und Kommunalpolitik zu hoffnungsvollen Ansätzen und Vorstößen. Das Leitmotiv in den Überlegungen war immer, die beobachteten Missstände im Stadtteil sowie in anderen Teilen der nordamerikanischen Gesellschaft möglichst ursächlich zu bekämpfen. Um eine Verbesserung der Arbeits- respektive Lebensbedingungen herbeizuführen bzw. um überhaupt politische Macht aufbauen zu können, brauche es:

  1. gewerkschaftlich organisierte Arbeiter
  2. » Fabrikgesetze, welche Ausbeutung und Kinderarbeit eindämmen und Arbeitsschutz festschreiben
  3. das » Frauenwahlrecht zur generellen Beteiligung von Frauen an politischen Entscheidungsprozessen

Besonderen Erfolg konnten Jane Addams und ihre Mitstreiterinnen in den beiden ersten Punkten verbuchen. Bereits drei Jahre nach der Gründung von Hull House unternahmen die Bewohnerinnen einige Anstrengungen, um die weiblichen Kleidermacherinnen und ihre gewerkschaftlich organisierten Kollegen zu einem gemeinsamen Vorgehen gegenüber den Arbeitgebern der Textilbranche zu motivieren. Addams selbst wurde 1903 Vizepräsidentin der NATIONAL WOMEN´S TRADE UNION LEAGUE (Nationale Liga der Frauengewerkschaften). Aber auch zahlreiche » andere Gewerkschaften hielten ihre Versammlungen innerhalb des Hull House ab. Als es 1894 zum großen » Pullman Streik kam, wurde Jane Addams, als Vertreterin der Settlement-Bewegung und geschätzte Sozialpolitikerin, in die Schlichtungskommission berufen. Zu dieser Zeit spricht sie zum ersten Mal explizit von den Schwierigkeiten, die mit der Vermittler-Funktion zwischen Arbeiterbewegung und Kapitalisten verbunden sind: „Dass das Settlement die Kommunikation mit beiden Seiten aufrechterhalten konnte, schien lediglich die Bitterkeit und Spaltung an den Klassenfronten erkennen zu lassen“ (Addams zitiert in Eberhard, 1995, S. 165). Trotz der Hindernisse, die auf dem Weg der Vermittlung lagen, war die Sozialpolitikerin Jane Addams der Überzeugung, dass sich gesellschaftliche Fortschritte einschließlich Reformen nur mit dem wohlwollenden Einverständnis aller an diesen Prozessen beteiligten Gruppen erzielen lassen. Die Bedingung für einen Fortschritt, der durch Konsens zustande kommt, ist aber vor allem ein Einsehen der Mächtigen, dass es zu „ihrem Vorteil ist, ihre Macht mit allen Gesellschaftsmitgliedern zu teilen“ (Eberhard, 1995, S. 166). Der Weg, um zu dieser Einsicht zu gelangen, konnte in Addams´ Vision nur im Aufbau vielfältiger zwischenmenschlicher Beziehungen und in gegenseitiger Aufklärung bestehen. Wie jedoch so weitreichende individuelle und gesellschaftliche Entwicklungen konkret gestaltet werden sollten, blieb offen. Eine Möglichkeit, die Schnittstelle zwischen den mitunter verfeindeten Akteuren zu besetzen und vermittelnd einzugreifen, war sicherlich die aktive Umsetzung des Settlement-Konzepts. Die Bestrebungen der Settlement-Frauen zur Eindämmung der Kinderarbeit mündeten 1893 in der Verabschiedung der Fabrikgesetze und ein paar Jahre später gar in der Einführung der » Schulpflicht für Kinder unter 14 Jahren sowie in einem Verbot der Nachtarbeit für Kinder unter 14 Jahren (Alexander in Lindner, 1997, S. 65f.).
Nach der Qualität und Intensität des sozialpolitischen Engagements der Bewohnerinnen von Hull House zu urteilen, erkannten diese bereits sehr zeitig, dass es nicht genügt, den Bewohnern allein direkte Hilfestellungen, z.B. in Form einer Volksküche oder kultureller Veranstaltungen zu geben. Vielmehr bedurfte es auch eines kontinuierlichen und vehementen politischen Handelns und Eingreifens, um deren Lebens- und Arbeitsbedingungen nachhaltig zu verbessern. Dieses Engagement spiegelte sich selbstverständlich auch auf der Ebene der Kommunalpolitik wider. 1895 bekam Addams das » Amt der städtischen Müllinspektorin zugesprochen. Die katastrophalen hygienischen Zustände in der Nachbarschaft von Hull House und im gesamten 19. Chicagoer Bezirk machten diesen Schritt aus den Augen der Bewohnerinnen dringend erforderlich. Eine andere Kampagne zielte darauf ab, einen zuverlässigen und loyalen » Bürgermeisterkandidaten gegen den mächtigen und korrupten Amtsinhaber im 19. Bezirk aufzustellen. Die Frauen des Hull House führten den Wahlkampf (obwohl sie selbst kein Wahlrecht besaßen), in dem der von ihnen unterstützte Kandidat jedoch letztlich unterlagen. Dennoch, die Kandidatur eines Reformers wurde allgemein als Achtungszeichen und Signal wahrgenommen.
1912 gründete Jane Addams unter anderem mit dem ehemaligen Präsidenten Theodore Roosevelt die » Progressive Party. Sie war federführend bei der Erarbeitung des Wahlprogramms, in dem sowohl das Verbot der Kinderarbeit als auch die Forderung eines 8 Stundentages sowie einer 6-Tage-Woche ebenso festgeschrieben war, wie die Wohnviertelsanierung, das Frauenwahlrecht und die Schaffung einer Sozialversicherung (Eberhard, 1995, S. 170f.). Die Beziehungen zu den Politikern und deren Wahlprogrammen war jedoch stets durch Pragmatismus gekennzeichnet. Waren sie für Addams eigene Reformvorhaben förderlich, dann wurden sie unterstützt; dauerhafte Loyalitäten entwickelten sich jedoch auf diese Weise nie.


Historische Bedeutung

Soll eine grundsätzliche historische Bedeutung von Hull House bestimmt werden, so ist zuerst einmal anzumerken, dass ohne die vor allem weiblichen Settler die Geschichte der Sozialarbeit in den USA, aber auch in Europa, nicht geschrieben werden kann. Von der anfänglich diffus wirkenden Motivation, etwas Gutes tun zu wollen und dabei gleichzeitig zu lernen, entwickelte sich Hull House zu einem regelrechten Reform-Labor für pädagogische, sozialpolitische und wissenschaftliche Fragestellungen.
Die meisten von Hull House initiierten und durchgeführten Tätigkeiten hatten eine Verbesserung der Lebensbedingungen ihrer Nachbarn zum Ziel. Der hergestellte Bezug zwischen den Arbeits- und Lebensbedingungen und die vorwiegend politische und pädagogische Einflussnahme auf selbige, bleibt der große Verdienst der Frauen um Jane Addams. Dass die Formulierung der Ursachen von Armut und Elend schärfer und kritischer erfolgen kann – als beispielsweise bei Toynbee Hall – gehört ebenso zu ihren Errungenschaften wie die Idee der Armutsprävention. Die von den Bewohnerinnen von Hull House entwickelten Ansätze zur Integration, als ein gegenseitiger Akt des Geben und Nehmens verstanden, können auch heute noch als idealtypisch gelten.
Eine von Addams nicht beabsichtigte Wirkung der Settlement-Arbeit war die Professionalisierung des Sozialarbeiterberufes (Eberhard, 1995, S. 182). Allerdings lehnte sie noch zu Lebzeiten die damit einhergehende Spezialisierung, Individualisierung und vor allen Dingen auch Entpolitisierung der sozialen Arbeit vehement ab. Hull House galt, aufgrund der dort modellhaft praktizierten Gemeinwesenarbeit, für nicht wenige Konzepte, Einrichtungen und Projekten als geistiger Pate und Orientierungshilfe. Exemplarisch seien hier die » Soziale Arbeitgemeinschaft Ost und die in der heutigen Zeit aktuelle » Gemeinwesenökonomie genannt.

Grafik zur Umsetzung der Programmatik

Grafik: Götze, 2003


Fragen zu Hull House:

  • Stellen Sie die verschiedenen Zielrichtungen in Jane Addams Gründungsidee gegenüber. Bewerten anschließend Sie deren Gewichtung.
  • Charakterisieren sie die Besonderheiten im Umfeld von Hull House – in Abgrenzung zu dem der Toynbee Hall.
  • Welchen Einfluss hatte die aufkommenden Klassenauseinandersetzungen für das Zustandekommen und die Entwicklung von Hull House?
  • Welches Menschenbild war für die Bewohner des Hull House leitend?
  • Beschreiben Sie die grundlegendsten Gesichtspunkte des im Hull House konzipierten Integrations-Modells, und skizzieren Sie kurz dessen konkrete Umsetzung. Stellen Sie Bezüge zu der heutigen Integrationspolitik in der BRD her.
  • Eine zentrale Rolle in der Hull House-Philosophie nahm die Aktivierung der Selbsthilfepotentiale der umwohnenden Bevölkerung ein. Machen Sie deutlich, wie nach Ansicht von Jane Addams die zu erbringende Hilfe beschaffen sein musste, damit es tatsächlich zu einer nachhaltigen Verbesserung der Lebensbedingungen kommen konnte. Warum kann dieser Ansatz ohne Übertreibung für die damalige Zeit als revolutionär bezeichnet werden?
  • Beschreiben Sie die nordamerikanische System der Armenhilfe und stellen sie demgegenüber die Definition des Armutsbegriffes wie er für die Residents im Hull House bindend war.
  • Führen Sie insgesamt drei Bespiele aus dem Bereich der Jugend- und Erwachsenenarbeit an und erläutern diese kurz.
  • Für die Frauen um Jane Addams hatte die sozialpolitische Betätigung und Intervention immer eine herausgehobene Bedeutung. Welche Annahmen liegen diesem Aspekt zugrunde. Belegen Sie ihre Aussagen mit zwei Beispielen.