Aktivierende Befragung

Kontakt:

Hille Richers, Beraterin für Organisationsentwicklung (SG), Roncallistraße 40, 52351 Düren, Tel: 02421- 54214, Fax: 02421- 40 62 81, Email: hille.richers@t-online.de

Tobias Habermann, Stadtteilmoderator Leipziger Westen, URBAN-KompetenzZentrum, Lindenauer Markt / Rietschelstraße 2, 04177 Leipzig, Telefon: (03 41) 870 59 38, Telefax: (03 41) 870 59 31, qm@leipziger-westen.de


Hauptsache Aktivierung ...! ?

Das Wort "Aktivierung" hat derzeit Hochkonjunktur, und wird, gerade im Zusammenhang mit Hartz IV, in zunehmend fragwürdigen Zusammenhängen gebraucht..
Deshalb möchten wir unser Verständnis von Aktivierung im Rahmen der "Aktivierenden Befragung" klarstellen:

  1. Wir gehen davon aus, dass auch die Menschen, an die sich eine "Aktivierende Befragung" richtet, in der Regel bereits aktiv sind: Gewerbetreibende und Geschäftsleute sind beruflich aktiv und auch die BewohnerInnen, gerade in benachteiligten Quartieren, sind in der Regel bereits sehr aktiv. Aktiv im Sinne von: sie bewältigen und managen ihren Alltag, oft wohnen sie mit vielen Personen auf engstem Raum; wenn sie Arbeit haben, arbeiten sie oft unter schweren, körperlich belastenden Bedingungen und zu ungünstigen Zeiten; sie müssen mit wenig Geld wirtschaften und den Alltag einer komplexen Familie organisiert kriegen.
    Hier geht es also zunächst einmal um Respekt gegenüber dem, was die Menschen bereits leisten.
  2. Und wir sehen die Menschen, mit denen Gespräche geführt werden, als wichtige Fachleute für ihren Alltag, ihr Quartier an: sie kennen sich aus in zentralen Fragen die das Stadtviertel angehen. Sie kennen die Preisunterschiede zwischen verschiedenen Einkaufsmöglichkeiten, wissen über die informellen Jugendtreffpunkte und haben eine eigene Erfahrungen mit Ärgernissen und Konfliktthemen und wissen wo "der Schuh drückt".
    Aktivierung, erklärtes Ziel von Stadtteilmanagement und GWA soll ermöglichen, dass gerade die Menschen, die sich bisher noch nicht an den notwendigen Veränderungsprozessen beteiligt haben bzw. beteiligt wurden, eine aktive Rolle einnehmen können. Es sollen möglichst neue Strukturen aufgebaut werden, geeignete neue Akteure identifiziert und neue Akteure aufgebaut werden ( » Alisch, Monika 2003: Philosophie und Ansatz von Quartiersmanagement - 12 Thesen als Versuch ein Konzept der Realität anzupassen sowie » Schaaf, Hermann J. 2002: Wie werden Bewohnerschaften zu handlungsfähigen Akteuren und welchen Beitrag können sie im Rahmen des Erneuerungsprozesses leisten?).

Aktivierung: So nicht!

In der gegenwärtigen Diskussion ist oft dann die Rede von Aktivierung, wenn es gleichzeitig um den Abbau von Rechten geht; vor allem dort, wo soziale Problemlagen individualisiert und dem unangemessenen persönlichen Verhalten Einzelner zugeschrieben werden.
Aktivierung ist kein "pädagogischer Trick" um Menschen dahin zu bringen, wo andere sie haben wollen (Mieter sollen mal dazu aktiviert werden den Müllbereich besser sauber halten...) Deshalb ist es wichtig, dass es bei der "Aktivierenden Befragung" nicht vordergründig um "Methodik" sondern vor allem um eine respektvolle, professionelle, (innere) Haltung in der Zusammenarbeit mit BewohnerInnen (benachteiligter) Stadtteile geht, die aber auch auf andere Zusammenhänge übertragen werden kann.

Aktivierung ist Erforschung von Erfahrungshintergründen, von Motivation und von Interessen

Bei Aktivierung geht es zunächst vor allem um das Erforschen von Erfahrungshintergründen, von Motivation und von Interessen. Es geht um einen Prozess, bei dem die Beteiligten sich über ihre eigenen und über gemeinsame Interessen klarer werden können, um sie dann auch organisieren und effektiv einbringen zu können. Wichtig ist dabei, dass das Erkennen nicht im Kopf bleibt, sondern dass sich im Prozess des Erkennens neue Möglichkeiten gemeinsamen Handelns auftun. Aktivierende Befragungen werden meist in Vierteln gemacht, in denen verbreitete Ohnmachtsgefühle herrschen. Da bedeutet Aktivierung ein Erleben von gemeinsamer "Handlungsmächtigkeit". "Wir können gemeinsam etwas bewirken und sind (der Politik, unserem Vermieter......) nicht nur hilflos ausgeliefert!"
Aber Aktivierung kann auch dort stattfinden, wo bereits Menschen engagiert sind und es darum geht, herauszufinden, wie die vorhandenen Potenziale und Ressourcen besser entfaltet und entwickelt werden können.

Offene Fragen und Gespräche

Aktivierung geschieht zunächst durch offene Fragen und Gespräche. (Wie, was...) Wichtig ist ein Fragen, das nicht zu schnell versteht und nicht bewertet sondern nachfragt um die individuelle Sichtweise, Motivation und den Erfahrungshintergrund zu verstehen (..."schlechte Nachbarschaft, wie meinen Sie das? Was genau ist schlecht?"...)
Als entscheidende Faktoren für Aktivierung zur Überwindung von Ohnmachtsgefühlen gelten Zweifel, Neugier und Entrüstung (Richard und Hephzibah Hauser: Die kommende Gesellschaft, München 1971,S. 297ff). Zweifel daran, ob denn alles so bleiben muss, wie es ist; ob es richtig ist, wie es ist und ob es gerecht ist. Neugier und Wissbegierde in Bezug darauf, wie es denn anders sein könnte, wie die Rechtslage ist, wie es an anderen Orten gehandhabt wird und was man denn noch anderes als bisher machen könnte. Zweifel und Neugier gibt es häufig. Sie enden meist in interessanten Gedanken oder Gesprächen ohne Taten. Zur Aktivierung kommt es in der Regel erst dann, wenn Entrüstung, Wut oder Ärger dabei ist, also ein drängender Wunsch, dass sich wirklich etwas ändern soll.
Gespräche sind in der Regel dann "aktivierend" wenn das Gegenüber in einen neuen Prozess des Nachdenkens über die eigene Situation, über das, was sie ärgert und was sie verändert haben möchte gerät und wenn sie erkennt, dass sie mit ihrer Sicht nicht alleine da steht.

Versammlung der Befragten und weitere Zusammenarbeit

Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung für die Aktivierung, dass es einen gemeinsamen Ort (Versammlung, persönliches Zusammentreffen) gibt, bei dem die Befragten mit anderen interessierten Menschen/BewohnerInnen zusammenkommen können und bei dem sie ihren Ärger und ihre Veränderungswünsche äußern können. Dafür muss es im wahrsten Sinne Luft und Raum geben. Wenn man sich nicht wirklich über etwas ärgert oder wirklich etwas verändern will, wird man auch keine Zeit und Energie dafür aufwenden, dass sich etwas verändert! Wenn dann Gemeinsamkeiten in den Interessen entdeckt werden, können auch weitere gemeinsame Handlungsschritte( Arbeitsgruppen, Aktionen..) verabredet werden.

Aktivierung = Eigeninteresse + persönliche Beziehungen

Aus dem Community Organizing ( » Mohrlok, Marion: die Politik beginnt bei den Leuten) kommt die Erkenntnis , dass zwei Faktoren für Aktivierung entscheidend sind:

  1. das Erkennen und Anknüpfen an den Eigeninteressen der beteiligten Personen sowie
  2. der bewusst gestaltete Aufbau tragfähiger, persönlicher, "öffentlicher" Beziehungen.
  • Eine Person wird sich nur dann für etwas engagieren, wenn es in ihrem eigenen Interesse liegt. Dies steht nicht im Gegensatz zu Interessen die dem Gemeinwohl dienen, sondern beinhaltet sie in der Regel. Die Orientierung am Eigeninteresse ist der gesunde Mittelweg zwischen egoistischem und selbstlosen Denken und Handeln.
  • Jede/r kennt es aus eigener Erfahrung: man geht eher zu einer Veranstaltung hin, wenn man persönlich von jemand angesprochen wurde. Noch wahrscheinlicher ist es, wenn man diese Person und ihre Motive kennt und wertschätzt. Es geht also nicht um private Freundschaften sondern um persönlich geprägte Beziehungen in denen vor allem die Verbindung zu gemeinsamen, öffentlichen bzw. Gemeinwohl orientierten, Anliegen hergestellt wird. (Häcker, Walter: Power durch Community Organizing in Ley, Astrid/ Weitz, Ludwig: Praxis Bürgerbeteiligung, Bonn 2003)

Was ist eine aktivierende Befragung- und was nicht?

Die Aktivierende Befragung ist eine Methode um in einem begrenzten Gebiet die Sichtweisen, Interessen und Bedürfnisse der dort lebenden Menschen zu erfahren. Im Unterschied zu anderen Untersuchungs- und Befragungsmethoden ist eine Aktivierende Befragung ein offener methodischer Ansatz aus der Akitonsforschung (Hinte/Karas 1982:42). Sie ist gleichzeitig der thematisch völlig offene Beginn von Initiativen für Veränderungen im Sinne der und durch die dort lebenden betroffenen Menschen. Damit ist sie keine kurzfristige Befragungsaktion, sondern der Beginn eines längerfristigen, offenen, demokratischen Prozesses, der in der Regel weiterer professioneller Begleitung bedarf. Es werden meist nur 2-3 Fragen als Einstieg in die aktivierenden Gespräche gewählt: z.B.

  • Wie gefällt Ihnen das Wohnen hier im Quartier?
  • Was gefällt Ihnen nicht?
  • Was würden Sie ändern, wenn Sie hier was zu sagen hätten ?

Somit ist die Aktivierende Befragung in keiner Weise mit einer repräsentativen, statistischen Befragung zu verwechseln. Sie ist auch kein Patentrezept für jedes Quartier- sondern der Einsatz sollte gut vorbereitet, das Quartier bewußt gewählt und mit den längerfristigen Konsequenzen vorbedacht werden. Allerdings können Elemente der Aktivierenden Befragung auch in vielen anderen Bezügen Anwendung finden. (Lüttringhaus, Maria; Richers, Hille: Handbuch Aktivierende Befragung, Bonn,2003)


Wann macht eine Aktivierende Befragung Sinn?

Eine Aktivierende Befragung macht nur in einem Quartier Sinn, wenn diese drei Faktoren zusammenkommen:

  1. Es gibt Veränderungsbedarf, Ärger, Empörung oder sonst Gründe, etwas Neues Tun zu wollen um Veränderungen zu bewirken.
  2. Es gibt persönliche Ressourcen bzw. sie können vermutet werden wie z.B. ausreichend Menschen in deren Eigeninteresse es liegt, etwas zu verändern. Diese Ressourcen zeigen sich oft erst in den "aktivierenden Befragungsgesprächen". Deshalb ist es notwendig in Voruntersuchungen dazu zumindest Anhaltspunkte zu finden. Ressourcen können sein: Zeit, Arbeitslosigkeit/ Rente, Kontakte, PC Kenntnisse, Wunsch nach sinnstiftender Tätigkeit, Interesse bestehender Organisationen....
  3. Es gibt (finanzielle) Ressourcen und die professionelle Kompetenz um die "Aktivierten" nach der Befragungsphase weiter zu begleiten. Wenn die Weiterarbeit mit den "Aktivierten" im Voraus fraglich ist, oder beim Auftraggeber keine Ergebnisoffenheit für diesen Prozess besteht sollte besser keine Aktivierende Befragung durchgeführt werden..

Die Phasen einer Aktivierenden Befragung mit einigen exemplarischen Fragen, die jeweils zu klären sind (ausführlicher in Lüttringhaus, Maria; Richers, Hille: Handbuch Aktivierende Befragung, Bonn 2003):

     1. Phase: Formulierung eines Vorhabens

  • Warum wollen wir dieses Gebiet- oder dieses Thema genauer untersuchen ?
  • Wie ist die Finanzierung für die aus der Aktivierenden Befragung entstehenden Aktivitäten und deren weitere Begleitung abgesichert ?
  • .....

     2. Phase: Voruntersuchung, Analyse und Auswertung

  • Was beobachten wir selber im Stadtteil (teilnehmende Beobachtung); Was erfahren wir bei der Befragung bzw. in Gesprächen mit ausgewählten einzelnen
         a. Betroffenen (BewohnerInnen des Stadtteils)
         b. ExpertInnen (KioskbesitzerIn, PfarrerIn, PolizistIn, Schulleitung, KommunalpolitikerIn)
  • Was sagt die Statistik ? (BewohnerInnen nach Alter, Nationalität, Wohngeldbezug, Sozialhilfe ?)
  • ....

     3. Phase: Bewertung und Entscheidung, Konsequenzen aus der Auswertung

  • Reicht das Potential an Veränderungswillen und- Empörung für eine Aktivierung ?
  • Was ist ein sinnvoll zugeschnittenes Aktivierungsquartier ?
  • 2 Möglichkeiten der Entscheidung:
    a) Abbruch
    b) Weiterarbeit
  • .......

     4. Phase: Training und Vorbereitung der BefragerInnen/ AktiviererInnen

  • Wie und von wem soll befragt werden ? (Gesprächsleitfaden, Auswahl der GesprächspartnerInnen, Auswahl der Orte für die Gespräche)
  • Wie ist die innere Haltung der AktiviererInnen (wie soll sie sein ?)
  • ....

     5. Phase: Hauptuntersuchung

  • Wer und wie viele sollen befragt werden (primär Betroffene oder auch ExpertInnen)?
  • ....

     6. Phase: Auswertung der Befragung

  • Was sind unsere Auswertungskriterien?
  • (Wie) werden die Betroffenen in die Auswertung mit einbezogen ?
  • ....

     7. Phase: Versammlung der Interessierten- Bildung von Aktionsgruppen

  • Wer wird eingeladen und von wem ?
  • Wie kann erreicht werden, dass möglichst viele kommen?
  • .....

     8. Phase: Beratung und Begleitung der entstandenen Gruppen/ Organisationen

  • Was ist ihr Programm- was sind ihre Ziele? (realistisch?, gewinnbar?)
  • Was sind die passenden Aktions-, Arbeits- und Organisationsformen?
  • .....

Ein aktuelles Beispiel aus dem Leipziger Westen

Das Quartiersmanagement (QM) im Leipziger Westen besteht aus 4 Stadtteilen mit ca. 32.000 Einwohnern auf ca. 8 km² und wurde im Rahmen des europäischen Förderprogramms Urban II initiiert.

Wie wurde dort im Rahmen des QM vorgegangen?

Die Aktivierende Befragung wurde im Rahmen eines Projektseminars an der HTWK Leipzig von zwei Mitarbeitern des QM und sieben Studentinnen im Wintersemester 2003/2004 durchgeführt.
Zuerst wurden Voruntersuchungen von Seiten des QM vorgenommen. Im Rahmen des Förderprogramms Urban II gab es schon einige Aktivitäten in dem Gesamtgebiet. Zuallererst wurde deshalb überlegt, wo eine Aktivierende Befragung überhaupt sinnvoll ist. Ausgewählt wurde ein Viertel, das am westlichen Rand des Gesamtgebietes liegt und durch eine Eisenbahnlinie und zwei Hauptstraßen stark abgegrenzt ist. Dieses Gebiet war vor der Befragung zum einen eine Art weißer Fleck im Gesamtgebiet (kein Bürgerverein, keine Vereine die nach außen wirken, keine Urban II Projekte…). Zum anderen gibt es in diesem Gebiet kein öffentliches Grün, kaum soziale Einrichtungen, großer Gebäudeleerstand usw.
Dann wurde untersucht, ob und welche Erfahrungen die BewohnerInnen mit Befragungen in dem Gebiet gemacht haben (Welche Ergebnisse gab es und wie war der Umgang damit?). Es wurden alte Analysen, Statistiken und Befragungsergebnisse durchgegangen um schon mal vorab Tendenzen einschätzen zu können was die Bewohnerschaft bewegt und ob man mit den Schwerpunkten arbeiten kann/möchte. Es wurde untersucht wie die Bewohnerstruktur aussieht, ob man vielleicht Unterstützung von Übersetzern braucht oder ob einer Gruppe besonderes Interesse entgegengebracht werden muss. Zum Beispiel sollte man Kinder und Jugendliche nicht an der Haustür befragen - dafür sollte man ein anderes Setting auswählen (Schule, Treff, Kindergarten usw.). In diesem Fall haben wir uns für eine reine Bewohnerbefragung an der Haustür entschieden. – das heißt, es wurden nur Menschen befragt, die in dem Gebiet wohnen. Wenn die BewohnerInnen Hauseigentümer waren oder ein Gewerbe vor Ort betrieben haben, war das kein Hindernis – aber auch kein Auswahlkriterium.
Bevor die endgültige Entscheidung für die Befragung gefällt wurde, wurden die eigenen Ressourcen überprüft. Haben wir zeitliche Kapazitäten auch nach der Befragung? Können und wollen wir mögliche neue Bürgergruppen unterstützen? Sind wir selber und auch der Auftraggeber offen für die Ergebnisse der Befragung?
Erst nach dieser positiven Prüfung hatte das Projektseminar mit den Studierenden begonnen. Nach einer Einführung in Theorie und praktischen Übungen wurde die Befragung nach Vorankündigung durch Presse, Plakate und Flyer durchgeführt. Fünf Teams haben jeweils an drei verschiedenen Tagen (in einem Zeitraum von zwei Wochen Ende November) zu verschiedenen Uhrzeiten insgesamt 167 Personen befragt. Befragungsort war die Haustür/Wohnungstür oder in der Wohnung der Befragten.
Es gab nur drei Fragen: Was gefällt Ihnen in Ihrem Stadtteil? Was nicht? Haben Sie Ideen zur Verbesserung? Wenn ja, wären Sie bereit selbst etwas zu tun?
Die daraus folgenden Gespräche waren, je nach Bereitschaft und Interesse der Befragten unterschiedlich lang.
Es ergaben sich verschiedene Schwerpunkte:

  • Verkehrssituation
  • Einkaufsmöglichkeiten/ Ärzte
  • Freizeitmöglichkeiten/ Kultur
  • Situation Kinder/ Jugendliche
  • Gemeinschaftsleben
  • Kriminalität/ Sicherheit
  • Ordnung und Sauberkeit
  • Wohnen und Wohnumfeld

die zum Teil verschiedene räumliche Schwerpunkte in dem Gebiet hatten.
Zum Abschluss der Gespräche erhielten die BewohnerInnen bei Interesse sogleich eine Einladung zur Bewohnerversammlung, bei der die Ergebnisse vorgestellt werden würden. Die Versammlung wurde vom Quartiersmangement moderiert,. Dabei gaben wir einen Überblick über die genannten Themen und Schwerpunkte und gaben BewohnerInnen Gelegenheit diese Ergebnisse zu kommentieren bzw. zu ergänzen. Bei der Versammlung wurde von Seiten des QM aber auch klargestellt, dass nicht wir die einzelnen Themen für die BewohnerInnen bearbeiten wollen, sondern das wir die BewohnerInnen nur dabei unterstützen können wenn sie selbst aktiv werden.
Ergebnis der Versammlung war, das sich jeweils eine Gruppe von BürgerInnen dazu bereiterklärt hat, an den Themen Ordnung und Sauberkeit sowie Wohnen und Wohnumfeld weiter zu arbeiten.

Konsequenzen für die weitere Arbeit – was hat sich ergeben?

Es haben sich 2 Arbeitsgruppen gebildet.
Eine davon arbeitet an dem Problem Ordnung und Sauberkeit weiter. Bei einem weiteren Treffen wurden verschiedene Arbeitsschwerpunkte erarbeitet, an denen die BewohnerInnen weiterarbeiten wollten. So wurden unter anderem Recherchen durchgeführt, z.B. wie mit dem Problem in anderen deutschen Städten und im Ausland umgegangen wird; die Kosten für Hundekotautomaten ermittelt; festgestellt, dass in dem Gebiet die Straßenreinigungssatzung nicht eingehalten wird (es wird weniger gereinigt als vorgeschrieben); wohin der Kot entsorgt werden kann; ein Schreiben mit Bitte um Stellungnahme vom Stadtrat erarbeitet usw.
Aktuell wurde ein Pilotprojektantrag an die Stadt gestellt, bei dem Bewohner gemeinsam mit SchülerInnen im Stadtteil aktiv werden wollen.
Zum Thema Wohnen und Wohnumfeld gab es weitere Treffen und eine Bewohnerversammlung. Hier hat sich in einigen Bereichen – zwar ausgehend von der Befragung – aber vor allem durch Aktivitäten der Stadtverwaltung und von einigen Privateigentümern einiges zur Verbesserung der Situation im Quartier entwickelt oder ist in Planung.

Was würden wir das nächste Mal anders machen?

Wir würden bei der Befragung den Bewohnern nicht nur eine Einladung zur Bewohnerversammlung in die Hand geben, sondern zusätzlich – wenn gewünscht – uns die Adresse geben lassen, um die BewohnerInnen zeitnah zum Termin noch zusätzlich persönlich ein zu laden. Erfahrungen haben ergeben, dass man so mehr BewohnerInnen dazu motivieren kann zur Bewohnerversammlung zu kommen.
Des weiteren würden wir zur Versammlung keine weiteren Personen ( z.B. aus Verwaltung und Politik) außer den BewohnerInnenn zur Bewohnerversammlung einladen, sondern die Leute selber entscheiden lassen wie mit Ihren Ergebnissen umgegangen werden soll.
Im Folgenden greifen wir einige Fragen aus der Diskussion in der Arbeitsgruppe auf:

Ist so eine Aktivierende Befragung nicht viel zu aufwändig?

Was kostet sie?
Die Kosten einer Aktivierenden Befragung kann man nicht pauschal benennen, da es abhängig von der "Befragungsgröße" ist (Gebiet, Anzahl der Befragten und damit Zeit)
In Leipzig Lindenau wurde die Befragung im Rahmen eines Projektseminars in Zusammenarbeit mit der HTWK durchgeführt. In dem Seminar wurde den 7 Studentinnen die Theorie und die Methodik gelehrt, es wurden Befragungen theoretisch geübt, die Befragung durchgeführt, eine Auswertung, vorgenommen und die Bewohnerversammlung vorbereitet, durchgeführt und nachbereitet. Dafür gab es insgesamt 14 Veranstaltungen á 3 Zeitstunden. Da das Seminar bereits zum zweiten mal durchgeführt wurde reichte ca. 1 Std. für Vorbereitung und Nachbereitung von jedem Seminar. Die Zeit für die Voruntersuchungen ist schwer abzuschätzen, da wir bereits seit längerer Zeit in dem gesamten Urban II Gebiet aktiv waren und auch Kontakte zu vielen anderen Akteuren in dem Gebiet hatten.
Wichtig sind vor allem aber die Zeitkapazitäten nach der Bewohnerversammlung, in der man die Aktivierten bei ihrer Selbstorganisation unterstützt, damit sie weiter, effektiv an ihren selbst gestellten Aufgaben arbeiten können.

Wann "lohnt es sich" ?

Die Frage danach, wann sich diese zeitaufwändige Methode lohnt, ist abhängig vom Ziel und den Interessen des Auftraggebers bzw. der Menschen die diese Frage stellen zu reflektieren:
Dort, wo es nur darum geht neue Themen und Probleme im Stadtteil zu identifizieren, um sie dann selber mit der eigenen Organisation besser und effektiver bearbeiten zu können, dort braucht man keine "aktivierende" Befragung". Der Aufwand für die Aktivierende Befragung lohnt sich nur dort, wenn nachher auch Interesse an und Freiraum für selbst organisierte neue Aktivitäten besteht und gleichzeitig personelle Kapazitäten da sind, diese neu entstehenden Aktivitäten und Strukturen bei Bedarf zu begleiten.

Wie zeigen sich die Effekte einer Aktivierenden Befragung?

Die Qualität der Ergebnisse einer Aktivierenden Befragung beziehen sich auf verschiedene Ebenen und nur eine davon sind die "aufschreibbaren", direkten Befragungsergebnisse (Themen und Probleme die genannt werden sowie die auf den ersten Blick erkennbaren, interessierten Menschen).
Eine weitere Ebene sind die Bewohnerinitiativen, Arbeitsgruppen und Kreise, die sich, angeregt durch die Befragung und die Bewohnerversammlung, neu verabreden und längerfristig zusammenarbeiten.
Die dritte Ebene sind die daraus entstehenden längerfristigen, eigenständigen Strukturen in der Bewohnerschaft. Sie können entstehen, wenn die Menschen entdecken, dass sie eigene Interessen haben, dass sie gemeinsam mit einer (gewählten) Interessenvertretung etwas erreichen und wirkungsvolle Akteure gegenüber Politik und Verwaltung sein können. Damit ist dann ein "Demokratisierungsprozess in der Bewohnerschaft initiiert, der insbesondere dort wichtig ist, wo Politkverdrossenheit und Ohnmacht verbreitet sind.
Eine weitere Ebene sind die ganz persönlichen und individuell verschiedenen Erfahrungen der neu aktiv gewordenen Personen. Sie erarbeiten sich über diese Zusammenarbeit oft ein völlig neues Repertoire an Kenntnissen, Handwerkszeug, persönlichen Kontakten und Selbstbewusstsein, dass sie auch in anderen Lebenszusammenhängen gut gebrauchen können (Familie, Beruf, Jobsuche....)

Macht die Aktiverende Befragung Sinn innerhalb von QM?

Aus dem oben Skizzierten könnte man ableiten, dass eine Aktivierende Befragung eigentlich nur dort Sinn macht, wo Professionelle den ausdrücklichen Auftrag haben für langfristige Strukturen der Selbstorganisation von BewohnerInnen zu sorgen. Sicherlich läßt sich dort am Meisten daraus machen (siehe auch die Arbeitsgruppe "Selbstorganisation von BürgerInnen" auf dieser Tagung).
Aber wir möchten am Beispiel aus dem QM Leipziger Westen aufzeigen, dass sich auch mit sehr begrenzten Arbeitskapazitäten und so vielfältigen Aufgabenfeldern wie im QM eine Aktivierende Befragung "lohnen" kann.
Wir möchten diese vielschichtigen Effekte am Beispiel des in der Befragung so oft geäußerten Problems: Ordnung und Sauberkeit darlegen:
Auch wenn das Thema Ordnung und Sauberkeit vielleicht vorher bereits bekannt war, zumal es erfahrungsgemäß in allen "Soziale Stadt Quartieren" ein Ärgernis darstellt, wurde hier eine neue "Leipziger Westen-spezifische" Qualität im Umgang mit dem Problem entwickelt, die andere Auswirkungen zeigt, als wenn der Quartiersmanager allein mit einem Sachbearbeiter der Verwaltung das Problem besprochen und hätte lösen wollen:

  • Bei der Versammlung wird aus diesem vermeintlich privaten Ärgernis ein Öffentliches! Man kann sehen und hören, wer sich darüber aufregt.
  • BewohnerInnen des Quartiers arbeiten zusammen und recherchieren selber (Neue Aktive, neue Form der Zusammenarbeit)
  • Sie entdecken Leipzig-spezifische Unterschiede zwischen den verschieden Stadtteilen, (Problemsicht verändert sich von "allgemein zu spezifisch" es wird handhabbar: den satzungsgemäßen Reiningungsrythmus der Stadt kann man einfordern). Zusätzlich werden Lösungsideen gemeinsam mit anderen Personen (Schule) aus dem Stadtteil entwickelt, die speziell zu diesem Stadtteil passen)
  • Das Recherchieren über die Stadtgrenzen hinaus eröffnet neue Blickwinkel: es geht auch anders! Da gibt es kommunalpolitischen Gestaltungsspielraum!
  • Eine Arbeitsgruppe mit aktiven BewohnerInnen des Stadtteils wird gegenüber Politik und Verwaltung sichtbar und hörbar. Sie sind nicht mehr nur Objekte sondern eigenständige Akteure und ein Gegenüber für die Politik/ Verwaltung.
  • Die beteiligten Menschen machen neue Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit anderen BewohnerInnen und erfahren, dass sie nicht ohnmächtig sind, sondern selber Gestaltungsmöglichkeiten haben in ihrem Stadtteil etwas zu verändern. Diese wichtigen individuellen Erfahrungen können sie auch übertragen auf andere Lebensbereiche(Familie Gesundheit, Beruf, Jobsuche)

Für die Mitarbeitenden des QM zeigten sich Effekte in der Arbeit in

  • einem vertieften Verständnis über die Lebenssituation der Menschen in diesem Quartier
  • sehr vielen neuen persönlichen Kontakten, an denen zu anderen Gelegenheiten angeknüpft werden kann
  • erhöhte Sensibilität gegenüber den Sichtweisen und den Eigeninteressen der BewohnerInnen
  • der Erfahrung, dass man auch bei "aussichtslosen" Problemen etwas bewegen kann, wenn BewohnerInnen ihre Ideen einbringen

In dieser Tabelle sind die verschiedenen Ebenen sowie die Unterschiede zwischen kurzfristigen und langfristigen Effekten nach einer Aktivierenden Befragung stichwortartig zusammengefasst:

Ebenen der Aktivierung

Kurzfristig

Bei längerfristiger Weiterarbeit

"aufschreibbare" Daten/ Ergebnisse der Befragung

Themen und Probleme werden genannt

Die BewohnerInnen entwickeln ihr eigenes "Bürgerprogramm" mit den Themen und Problemen, die aus ihrer Sicht für den Stadtteil relevant sind. Sie werden damit ein ernst zunehmendes Gegenüber auf Augenhöhe bei der Zusammenstellung und Bearbeitung der "Tagesordnung für das Quartier".

Zusammenkommen von interessierten, neugierigen BewohnerInnen

(Versammlung, Arbeitsgruppe)

BürgerInnen tauschen sich aus über Ihre Erfahrungen und beschaffen sich eigene, neue Informationen

Es können neue Lösungswege entwickelt werden, die sich konkret am Bedarf und an den Besonderheiten dieses Quartiers orientieren. Keine "Lösungen von der Stange", sondern spezifisch ausgerichtet und mit Menschen vor Ort entwickelt!

Neue Beziehungen werden entwickelt

Menschen, kommen zusammen und können sehen und hören, wer ähnliche Meinungen wie sie hat. Im anonymen Stadtteil werden konkrete Personen erkennbar.

Es entsteht ein Netzt von Kontakten und Beziehungen von Einzelpersonen und Organisationen. Durch die Zusammenarbeit zu konkreten Themen und Anlässen entstehen tragfähige Arbeitsbeziehungen mit, je nach Wunsch, persönlich/ privatem Hintergrund bei der Vertrauen wächst und die Zusammenarbeit effektiv ist und Spaß macht.

Demokratisierungs-prozess

Die Meinungen von BewohnerInnen werden wahrgenommen

BewohnerInnen bringen über ihre eigenen Strukturen (Interessenvertretungen , Vereine o.ä.) ihre Belange und Interessen vor und können auf Augenhöhe mit anderen Beteiligten (Politik, Verwaltung, Wirtschaft) agieren und verhandeln.

Das hat doch was mit Gesundheitsförderung und Prävention zu tun !

Hier wurde aus der Arbeitsgruppe heraus der Bezug zur Salutogenese (die Suche nach den Ressourcen die Gesundsein ermöglichen bzw. das Gesundsein fördern) hergestellt: Zu den entscheidenden Faktoren der Salutogenese gehört nach Aaron Antonovsky( 1923-1994) das Gefühl von Handhabbarkeit von Problemen ( im Gegensatz zu Ohnmacht), außerdem das Gefühl von Verstehbarkeit ( hier: eigenes Wissen und Hintergründe heraus finden) sowie Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit (hier: die Chance ,dass BewohnerInnen selber bestimmen, welche Probleme und Themen sie bearbeitet wissen wollen).

Die " Aktivierende Befragung" als innere Haltung

In der Diskussion wurde heraus gearbeitet, dass die Aktivierende Befragung nicht nur eine sinnvolle Methodik für Gemeinwesenarbeit und Quartiersmanagement ist. Vielmehr enthält sie Essentials einer professionellen inneren Haltung die sich auch in anderen Feldern sozialer oder politischer Arbeit bewährt (zur Bedeutung von Einzelgesprächen im Community Organizing, siehe den Beitrag von Paul Allan Cromwell auf dieser Tagung).
Ohne hier genauer darauf eingehen zu können, ist dabei u.a. zu denken an Beratungskontakte im Rahmen sozialraumorientierter Einzelfallhilfe, an präventive Arbeit im Rahmen von Gesundheitsförderung, an die Beratung und Reaktivierung von "altgewordenen" Organisationen( z.B. Vereinen oder Kirchengemeinden) oder auch an das Vorgehen im Fundraising.

Zusammengefasst geht es um

  • Respekt vor dem Fachwissen meines Gegenübers/ den anderen Beteiligten
  • Wirkliche Offenheit um die Sichtweisen und das Eigeninteresse meines Gegenübers herauszufinden und daran anknüpfen zu können
  • Gestaltung von "öffentlichen Beziehungen" im Wissen um die Werte und Visionen meines Gegenübers und mit Blick auf das Erreichen gemeinsamer Ziele.