Stadtteilarbeit und Wohnraumspekulation - Wie lässt sich Widerstand organisieren?

Zusammenfassung

Der Beitrag beschreibt den seit Jahren beobachtbaren Prozess der Übernahme umfangreicher

Wohnungsbestände durch Immobilienkonzerne, sogenannte Heuschrecken. Am Beispiel des

Wohnquartiers Brüningheide im Stadtteil Münster-Kinderhaus wird dieser Vorgang dokumentiert

und gezeigt, wie durch eine strategische Öffentlichkeitsarbeit Widerstand gestaltet werden kann.

Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit einer anwaltlichen Orientierung in der Stadtteilarbeit und

nimmt auch Bezug zur aktuellen Fachdiskussion in der Stadtteil- beziehungsweise

Gemeinwesenarbeit. Im dritten Abschnitt werden Folgen sozialräumlicher Ausgrenzung

beschrieben, die vornehmlich in der Erosion sozialen Kapitals bestehen. Abschließend werden

Hinweise zu notwendigen Arbeitsperspektiven gegeben.

1. Einleitung

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Großwohnsiedlung Brüningheide im münsterschen Stadtteil

Kinderhaus und den Folgen intensiver Tätigkeit von sogenannten „Immobilien-Heuschrecken". Es

lassen sich exemplarisch Auswirkungen von Wohnmissständen sowohl auf die soziale Infrastruktur

als auch auf das soziale Milieu und damit auch auf die Stadtteilarbeit nachweisen. Erhebliche

negative Auswirkungen traten insbesondere nach Verkäufen von Wohnungsbeständen in den

Jahren 2005 und 2006 ein. Dieses ist insofern für aktuelle Entwicklungstendenzen von Bedeutung,

weil in den Folgejahren 2007 und 2008 in Deutschland in sehr hohem Ausmaß

Wohnungsbestände an Immobilienkonzerne veräußert wurden und die fatalen Auswirkungen

dieser Verkäufe schon in Ansätzen andernorts spürbar werden.

In der Wohnsiedlung Brüningheide in Münster-Kinderhaus sind knapp drei Viertel des

Wohnungsbestandes durch vielfältige Wohnungsmissstände gekennzeichnet, die bis zur

gesundheitlichen Gefährdung reichen. Hauptwohnungsbesitzer im Quartier ist mit 630 Wohnungen

nach mehrfachem Besitzerwechsel nunmehr die australische Investmentfirma B.+B. mit dem

europäischen Sitz in Luxemburg. Der Firma N. Real Estate Group mit dem Hauptsitz in Berlin

gehören 55 Wohnungen. Diese Firmen lassen ihren Wohnungsbestand systematisch verkommen.

Die hierdurch wesentlich mitbedingten negativen Auswirkungen auf die Wohnqualität

beeinträchtigen in hohem Maße die jahrzehntelangen Anstrengungen der dort etablierten

Gemeinwesenarbeit sowie der Stadtteilarbeit. Die Auswirkungen sind am Wegzug von Mieterinnen

und Mietern, Leerstand, an der Imagebeeinträchtigung und einer Konzentration problembelasteter

Personenkreise im Hochhausgebiet mit seinen zirka 3 500 Bewohnerinnen und Bewohnern zu

erkennen.

Dies geschieht in einer Stadt, die im internationalen Wettbewerb als „lebenswerteste Stadt der

Welt" ausgezeichnet wurde. Durch die Polarisierung verstärkt sich der Prozess sozialer Exklusion,

trotz Einbindung der Großwohnsiedlung in das Bund-Länder-Programm Soziale Stadt. Damit treten

gegenläufige Prozesse auf, die sowohl politisch-administrativer Vorsorge zuzurechnen sind als

auch wohnungswirtschaftlicher Verantwortungslosigkeit unterliegen. Obwohl weitere drei

Wohnbaugesellschaften mit insgesamt 370 Wohnungen als Akteure im Wohnquartier zum Beispiel

durch kontinuierliche Haus- und Mieterbetreuung Verantwortung zeigen, werden diese ebenfalls

von der Abwärtsspirale negativ berührt.

Im ersten Teil unseres Beitrags werden anschließend an die Darstellung der Großwohnsiedlung

und ihrer Problemgeschichte die Aktivitäten der Stadtteilarbeit kurz skizziert. Im zweiten Abschnitt

wird das Selbstverständnis der Sozialen Arbeit im Stadtteil in seiner anwaltlichen Orientierung

erläutert, mit konkreten Hinweisen zu einer nachhaltigen strategischen Öffentlichkeitsarbeit. Im

dritten Teil wird die Erosion sozialen Kapitals, also die Beeinträchtigung sozialer Fähigkeiten in

schwierigen Lebenslagen der Bewohnerinnen und Bewohner analysiert. Schließlich werden erste

Perspektiven zur Verbesserung der örtlichen Wohn- und Lebenssituation aufgezeigt.

2. Die Großwohnsiedlung Brüningheide als Praxisfeld der Gemeinwesenarbeit

2.1 Die mieterfeindliche Übernahme durch Immobilienkonzerne

Die monofunktionale Großwohnsiedlung Brüningheide, gebaut 1971 bis 1974, war in ihrer Historie

unterschiedlichen Entwicklungen ausgesetzt. Die anfängliche Belegung zu zirka 70 Prozent mit

Angestellten und Beamten verkehrte sich schon bis 1985 ins Gegenteil: Der Anteil der

Bewohnerschaft, die von finanziellen Transferleistungen abhängig war, erhöhte sich auf 70

Prozent. Die Leerstandsquoten ähnelten Wellenbewegungen. So war 1986 ein Leerstand in Höhe

von 20 Prozent auffällig. Durch Maßnahmen zur städtebaulichen Nachbesserung sowie den

vermehrten Zuzug von Menschen mit Migrationshintergrund tendierten die Leerstände bereits

Ende 1987 wieder gegen Null. Während des Zuzugs russlanddeutscher Bevölkerung in das größte

Münsteraner Sozialwohnungsgebiet gab es sogar Wartelisten für die Wohnungen in diesem

Quartier. Im Januar 2010 lag die Leerstandsquote allerdings wieder bei zirka 15 Prozent.

Viele Wohnungseigentümer versäumten es, die Bestände grundlegend zu sanieren und damit

einen akzeptablen Wohnungsstandard zu erhalten. So auch die Wohnungsgesellschaft M., die bis

2005 mit einem Bestand von 630 Wohnungen der größte Eigentümer im Gebiet war. So stiegen

seit etwa 2000 die Fluktuations- und Leerstandsraten wieder an, und nach dem Verkauf von 630

Wohnungen der WGM Münster an den australischen Investor B.+ B. wurde dieser seinerzeit

bereits umstrittene Kaufvorgang von der Wirtschaftsförderung der Stadt Münster mit den Worten

begrüßt: „Nun ist Münster auch für australische Rentenfonds attraktiv geworden." Weitere 55

Wohnungen wechselten 2006 den Besitzer und gingen an den Immobilienspekulanten N. (Dervom 3.8.2009). Der letztgenannte Wohnungsbestand der N. Real Estate Group ging

Spiegel

allerdings im August 2009 in eine vom Amtsgericht Münster eingeleitete Zwangsverwaltung

(Münstersche Zeitung vom 21.8.09) über.

„Markenzeichen" der insgesamt 685 Wohnungen sind gravierende Missstände, die weiter unten

detailliert dargestellt werden. Der Sanierungsstau wird auf zirka 20 Millionen Euro geschätzt. Auf

öffentlichen Druck hin plante B.+ B. erstmals 2009, Investitionen in Höhe von 1,5 Millionen Euro

vorzunehmen. Dieses soll über die H.-Gruppe realisiert werden, die nach der Insolvenz von B.+ B.

seit Juli 2009 für die Immobilien zuständig ist. Die eigentlichen Eigentumsverhältnisse vermag kein

Manager zu erläutern. Es wird von Aktionären in Australien gesprochen, die dann investieren

wollen, wenn die Leerstandsquote sinkt. Ein Argument, das in der Wohnungswirtschaft immer

dann benutzt wird, wenn keine Investitionen getätigt und stattdessen nur die Mieten„kassiert"

werden. Diese Zustände im Wohnungsbestand wirken sich nachhaltig negativ auf die

Belegungsstrukturen und das Umfeld des Wohngebiets aus, wobei die freien und insbesondere die

kirchlichen Träger Sozialer Arbeit im Stadtteil seit Jahren auf die menschenunwürdigen

Verhältnisse hinweisen. Die Konzentration der baulichen Wohnmissstände trifft dabei auf die

soziale Konzentration einer problembelasteten und benachteiligten Klientel in der

Großwohnsiedlung. Die auf Integration ausgerichtete Stadtteilarbeit wird seit mehr als 20 Jahren

durch Vereine, Initiativen und eine Vielzahl ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer gestützt.

2.2 Das Wohngebiet in Zahlen

Der im Nordwesten der Stadt Münster gelegene Stadtteil Münster-Kinderhaus umfasst insgesamt

zirka 15 500 Einwohner und Einwohnerinnen. Die Infrastruktur mit Kindertagesstätten und allen

Schulformen sowie Einkaufsmöglichkeiten, öffentlichen Einrichtungen bis hin zu einem Bürgerhaus

mit Stadtbücherei und Hallenbad wie auch optimaler Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr ist

gut. Die jeweiligen Wohngebiete besitzen allerdings sehr unterschiedliche Haus- und

Wohnqualitäten. Das Wohngebiet Brüningheide in Münster-Kinderhaus ist das größte und am

dichtesten besiedelte Sozialwohnungsgebiet in Münster (Einwohnerdichte 177 Einwohner je

Hektar – Münster neun Einwohner je Hektar). In dem Gebiet wohnen zirka 3 500 Personen in bis

zu zehngeschossigen Gebäuden.

Die drei prägenden Sozialindikatoren mit hohen Anteilen von Migranten und Migrantinnen, Kindern

und Jugendlichen sowie arbeitsloser und finanzschwacher Bewohnerschaft kennzeichnen dieses

Quartier. Zur Bevölkerung zählen etwa 65 Prozent Migrantinnen und Migranten aus einer Vielzahl

von Herkunftsländern. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren beträgt 32,3

Prozent (Münster:15,6 Prozent), über 65 Jahre alt sind 7,8 Prozent (Münster: 17,4 Prozent). Die

Jugendhilfebedarfszahlen sind steigend und etwa 75 Prozent der Bewohner und Bewohnerinnen

sind von Transferleistungen abhängig (alle Daten vergleiche Stadt Münster 2008a:

Kontextdatenmonitor vom 31.12.2007 Stadtzelle 631 – Kerngebiet der Sozialen Stadt). Die

durchschnittliche Wohndauer beträgt 7,4 Jahre (Münster: 13,7 Jahre). 2007 betrug der

Wanderungsverlust 90 Personen, weitere 120 Personen verließen das Quartier 2008 (in der

Stadtzelle 631). Die Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2009 betrug 13 Prozent (Münster: 50

Prozent). Positiv ist zu vermerken, dass extreme Parteien kaum gewählt werden.

Weniger als 25 Prozent der Wohnbevölkerung im Quartier sind in der Lage, die Kostenmiete ohne

Unterstützung durch das Sozial- beziehungsweise Wohnungsamt selbst zu tragen. Die

Verschuldung der privaten Haushalte weist in Münster-Nord im Vergleich mit dem gesamten

Stadtgebiet die höchsten Quoten auf. Die Ursache hierfür ist sicherlich darin zu sehen, dass das

Arbeitslosengeld II kaum noch die Grundversorgung der meisten Familien sicherstellen kann,

zumal selbst für Mietnebenkosten und Kautionen für die Vermieter oft zusätzliche Ratenzahlungen

anfallen. Der Verein FRÜZ e.V. sichert über Spendengelder das Frühstück vieler Kinder in der

Grund- oder Hauptschule ab; das Sozialbüro der Kirchen und die Münster-Tafel werden stark

frequentiert.

2.3 Die akuten Probleme

Zurzeit liegt die Fluktuation im Quartier bei zirka 25 Prozent, während die Leerstandsquote etwa 15

Prozent erreicht. Bei den sogenannten Wohnungsheuschrecken steigen die Leerstände sogar auf

18 Prozent beziehungsweise 45 Prozent bei der Firma N. an. In zirka 370 Wohnungen von drei

münsterländer Wohnungsunternehmen sind nahezu keine Leerstände zu verzeichnen. Der Preis

für eine damit in Verbindung stehende angemessene Wohnqualität ist allerdings eine hohe

Kaltmiete (bis zu 6,15 Euro pro Quadratmeter). In den immerhin 685 sanierungsbedürftigen

Wohnungen hat sich in vielen Jahren ein Investitionsbedarf in Höhe von zirka 20 Millionen Euro

aufgestaut. Hier sind die folgenden Problemlagen auffällig:

• veraltete Heizungssysteme und damit verbunden hohe Nebenkosten;

• ungepflegte und vernachlässigte Hauseingangsbereiche (defekte Briefkästen, Klingeln,

Gegensprechanlagen etc.);

• bröckelnder Beton, ungedämmte Flachdächer, asbesthaltige Außenfassaden mit ebenfalls

unzureichender Dämmung;

• Schimmelbildung in den Wohnungen, Gesundheitsgefahren durch Ungeziefer und

Taubenkot auf Balkonen bis in leer stehende Wohnungen hinein;

• fehlende feste Ansprechpersonen für die Mieterinnen und Mieter, teilweise defekte Aufzüge

(zuletzt fünf Wochen in einem Neun-Etagen-Bereich);

• keine sozialverträgliche Belegung, zum Teil Belegung mit Drogen-Wohngemeinschaften,

um Leerstandsquoten zu senken, Entsorgungsprobleme.

Einhergehend mit den Verarmungstendenzen im Wohngebiet sind zudem vielfach Probleme wie

fehlende Teilhabe, Kinderarmut, Perspektivlosigkeit, Suchtverhalten, Verschuldung und

Vandalismus zu beobachten. Ebenfalls häufen sich spektakuläre Delinquenzfälle, teilweise im

Zusammenhang mit erhöhter Gewaltbereitschaft. Die Jugendeinrichtung des Begegnungszentrums

(BGZ) weist in ihrer Besucherstruktur überwiegend Jugendliche aus Förderschulen und

Jugendhilfemaßnahmen auf. Vor fünf Jahren war der Anteil der Haupt- und Realschüler noch

deutlich höher.

2.4 Das Handlungsfeld der Stadtteilarbeit

Das Begegnungszentrum Sprickmannstrasse (Sprickmannplatz 7, 48159 Münster) mit

angeschlossener Beratungswohnung (Killingstraße 15, 48159 Münster) wird wöchentlich von etwa

1000 Bewohnerinnen und Bewohnern aller Altersgruppen besucht. Schwerpunkte im Jugendsalon

sind die offene Kinder- und Jugendarbeit, Jugendberufshilfe und Jugendsozialarbeit (zirka 400

Besuche wöchentlich). Außerdem gibt es Veranstaltungen zu aktuellen Themen und

Problemstellungen, offene Beratungs-, Freizeit- und Bildungsangebote (unter anderem

Sprachkurse), Feste und interkulturelle Programme für die unterschiedlichen Zielgruppen im

Stadtteil sowie kirchliche Angebote wie Gottesdienste und Gesprächskreise (auch islamische und

buddhistische Treffen), die teilweise darüber hinaus auch im Begegnungszentrum stattfinden. Aktiv

beteiligt sich das BGZ, begleitet von mehreren internen und übergreifenden Arbeitsbeziehungsweise

Lenkungsgruppen, an der Umsetzung des Programms „Soziale Stadt" mit

Schwerpunkten in den Handlungsfeldern Integration und soziale Sicherung. Integrationsarbeit vor

Ort ist dabei ein Schlüsselprojekt des BGZ, an dessen erfolgreicher Umsetzung eine

russlanddeutsche Mitarbeiterin und ein türkischer hauptamtlicher Mitarbeiter arbeiten.

Neben der verstetigten Stadtteilarbeit des Trägers gibt es eine Vielzahl aktueller Projekte: von der

interkulturellen Bildungsarbeit mit Migrantinnen, der Jugendarbeit mit gewaltpräventiven Ansätzen

bis hin zu vielfältigen Sozialberatungsangeboten. Da eine Auflistung in diesem Beitrag den

Rahmen sprengen würde, sei auf die Internetseite www.bgz-kinderhaus.de verwiesen. Die

Angebote der Stadtteileinrichtung vor Ort tragen aktuellen Entwicklungen aktiv Rechnung, dennoch

reichen die bisherigen Handlungsansätze nicht aus, um insbesondere im Bereich „Wohnen"

nachhaltige Verbesserungen zu erreichen. Deshalb ist eine durchgehende anwaltliche

Orientierung in der Stadtteilarbeit erforderlich, um Widerstand zu organisieren.

3. Aktive anwaltliche Orientierung

Trotz der genannten Problemlagen gibt es Menschen im Quartier, die gerne dort leben und

wohnen. Durch zum Teil langjährige Wohndauer sind sie in soziale Netzwerke eingebunden oder

innerhalb solcher Netze erreichbar. Diese Netzwerke arbeiten aktiv an der Verbesserung der

Wohn- und Lebensverhältnisse. Sie setzen sich gemeinsam mit engagierten Trägern für

grundsätzliche, aber auch für kleinteilige Verbesserungen ein. Dieses geschieht oft im Kontext des

Programms „Soziale Stadt". Neben den geschilderten Feldern klassischer Stadtteilarbeit

beziehungsweise Gemeinwesenarbeit ist es aber unabdingbar, in ausgegrenzten Quartieren mit

einem sich verstetigendem Problemdruck gemeinsam mit den Betroffenen Stellung zu beziehen

und sich auch öffentlich aktiv für die Verbesserung der Wohn- und damit der Lebenssituation

einzusetzen. Mit diesem professionellen Selbstverständnis bleiben „Stadtteilarbeiter" authentisch

und glaubwürdig. Dies ist die Voraussetzung einer wirksamen Praxis und nur so lassen sich die

Bedürfnisse und Interessen der Bewohner und Bewohnerinnen feststellen und dokumentieren.

Dieser sensible Vorgang gemeinsamer Artikulation, der sich immer vor einer Entmündigung der

Betroffenen hüten muss, hat vom Ansatz her eine sehr starke sozialpolitische und auf die

Öffentlichkeit zugehende Akzentuierung. Im Rahmen eines solchen „Mandats" ergeben sich auch

Aktivitäten und Kampagnen, in denen für die Bewohnerschaft stellvertretend artikuliert und

gehandelt wird. Dies erfordert, dass die Legitimationsfrage nie von der Tagesordnung

verschwindet und die strategischen Schritte sowie die dazugehörigen inhaltlichen Aussagen

koordiniert und verifiziert sind.

Im Einzelnen haben sich in der Arbeit des Begegnungszentrums Sprickmannstraße in Münster-

Kinderhaus folgende, gemeinsam mit der Mieterschaft abgestimmte Schritte bewährt, um

anwaltliche Stadtteilarbeit, strategische Öffentlichkeitsarbeit und

Widerstand zu organisieren:

• wöchentliche Treffs mit Mietern und Mieterinnen, Abstimmung der gemeinsamen

Vorgehensweise, Austausch von Informationen, Erstellen von Plakaten und Handzetteln;

• Verifizierung der Missstände durch schriftlich und bildliche Dokumentation,

Mieterfragebögen;

• Unterschriftenlisten gegen Wohnungsmissstände;

• Kooperationen mit Mietervereinen, Hinführung zu weitergehenden Beratungsangeboten;

• Pressearbeit mit (über-)regionalen Medien über verifizierte Mängel, desgleichen

Medienarbeit mit Rundfunk und Fernsehen;

• regelmäßige Thematisierung in Arbeitskreisen des Stadtteils, in städtischen und

überregionalen Gremien;

• Einbindung der politischen Parteien durch Begehungen und Dokumentationen;

• monatliche Stadtteilrundgänge im Quartier für interessierte Bürgerinnen und Bürger aus

Münster;

• fachlicher Austausch mit betroffenen Quartieren zum Teil identischer Eigentümer;

• Aufbau (über-)regionaler Netzwerke zum Thema „Wohnungsheuschrecken", Projekte,

gemeinsame Workshops und wechselseitige Besuche von Mietern und Mieterinnen sowie

Stadtteilarbeitern und -arbeiterinnen;

• Verarbeitung des Themas in öffentlich sichtbaren Schauräumen, Beispiel „Skulptur

Wohnungsheuschrecken";

• transparente Vorgehensweise durch Austausch der Ergebnisse mit den Mietern und

Mieterinnen, dem Netzwerk der Einrichtung sowie des Quartiers und natürlich der

Sozialverwaltung;

• Ausgabe von kostenlosen Mieterberatungsscheinen in Kooperation mit der

Sozialverwaltung;

• Schaffung von Transparenz durch Aufbau und Pflege einer Website zum Thema;

• aber auch Behebung kleinerer Missstände durch gemeinsames bewohnerschaftliches

Engagement und Nachbarschaftshilfe sowie Beteiligung an vielfältigen Stadtteilaktivitäten

zur Stärkung des Quartiers und zur Verbesserung des Images des Stadtteils.

So werden zum Beispiel mit Mietern, Mieterinnen und den Autoren monatliche, gut besuchte

Rundgänge im Quartier durchgeführt (sogenannte „AnStadt-Reisen = die Andere Stadt

kennenlernen"), bei denen nicht nur die offensichtlichen Negativwohnbeispiele, sondern auch gute,

akzeptable Wohnbedingungen und bürgerschaftliches Engagement Thema sind. Dieses eröffnet

im Stadtteil Münster-Kinderhaus mit seinem deutlichen Sozialgefälle neue Perspektiven der

Stärken für die Schwachen, das heißt, man lernt die Situation kennen, um sich einzubringen und

an den Verhältnissen gemeinsam etwas zu verändern, sei es durch ehrenamtliches oder

sozialpolitisches Engagement. Ebenfalls wurden Unterschriftenlisten mit mittlerweile mehreren

hundert Unterschriften zur Beseitigung von Wohnmissständen auf den Weg gebracht. Mit dem

Eigentümerwechsel 2009 wurden die Münsteraner Medien verstärkt auf die unhaltbaren

Wohnverhältnisse aufmerksam und es gab von März bis Mai 2009, teilweise inhaltlich-fachlich

begleitet von Mieterinnen und Mietern, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie

Vorstandsmitgliedern des BGZ, etwa 50 größere Presseartikel zur Wohnsituation in Kinderhaus.

Ebenfalls berichteten das WDR-Fernsehen sowie der Sender Kabel 1 mehrfach über die

Missstände. Mit Veröffentlichungen kann Wirkung erzielt werden, weil sich heute alles im World

Wide Web wiederfindet. Wenn sich zum Beispiel die Aktiengesellschaft als Wohnungseigentümerin

beim größten Suchprogramm Google mit ihrer eigenen Website auf Position 1 präsentiert, aber

bereits in den folgenden Positionen Negativmeldungen aus unterschiedlichen

Wohnungsbeständen Deutschlands zu finden sind, schadet das dem Renommee und damit der

Aktie und lässt zumindest kritisch aufhorchen.

Gezielt wurden alle politischen Parteien zum Besuch des Wohngebiets Brüningheide eingeladen.

Sie hatten 2005 beim Verkauf der WGM an Babcock und Brown eine gemeinsame Ratsresolution

verfasst, laut der der Verfall des Quartiers nicht zugelassen werden sollte. Sie befinden sich also

zumindest auf dem Papier weiterhin in der politischen Verantwortung. Auch die Münsteraner

Ratsfraktionen machten teilweise mehrfach von den Besuchsoptionen und dem Austausch vor Ort

Gebrauch und bestätigten den Handlungsbedarf. Da im Gesundheitsbereich noch keine Abhilfe

durch grundlegende Sanierungen geschaffen wurde, bekamen mit einem vom BGZ entwickelten

und dem Amt für Wohnungswesen Münster abgestimmten dreisprachigen Fragebogen alle 800

Mieter und Mieterinnen im Quartier die Möglichkeit, Probleme im Wohnungsbereich zu

benennen.Von dieser Option machten die Mieterinnen und Mieter bis Ende August 2009 bereits

regen Gebrauch, so dass verifiziert und nach Wohneinheiten gestaffelt Missstände, aber auch

positive Beispiele genannt werden können. Die Auswertung der ersten 100 Bögen zeigt, dass von

70 Prozent der Befragten Schimmelbildung als Dauerproblem benannt wurde, sehr oft als Folge

des nachgewiesenen Sanierungsstaus und nicht etwa von falschem Lüftungsverhalten. Sicherlich

angeregt durch diese Aktion befragte im September 2009 der größte Vermieter, die Firma H., dann

sogleich seine Mieter und Mieterinnen ebenfalls mit einem ähnlich gestalteten Fragebogen zu

Wohnungsmängeln. Da in Einzelfällen weitere Gefährdungssituationen im Quartier aufgetreten

waren, richtete das BGZ zudem über die Sprechstunden hinaus einen wöchentlichen Mietertreff

ein, der fachlich begleitet durch Mietervereine den Bewohnern und Bewohnerinnen Hilfestellungen

vermittelt, aber auch in Notsituationen Handlungsdruck auf verantwortliche Stellen ausüben kann.

Ab September 2009 ist nunmehr das Begegnungszentrum seitens der Sozialverwaltung

bevollmächtigt, Mieterberatungsscheine direkt vor Ort an betroffene Mieterinnen und Mieter

auszugeben; ein weiterer Schritt zur Verbesserung der konkreten Hilfen.

In der Praxis zeigt sich, dass eine solche Ausrichtung des Arbeitsfeldes Konflikte auslöst, wobei

der eigentliche primäre Kontrahent, „die Heuschrecke", im Dickicht globalisierter Finanzmärkte

unsichtbar bleibt. Diese, wenn man so will, sekundären Konflikte bestehen in der Brüningheide mit

einzelnen Vertretern und Vertreterinnen aus Politik, Verwaltung und Wohnbaugesellschaften. Sie

befürchten aufgrund der durchgeführten öffentlichen Kampagnen einen Imageschaden für den

gesamten Stadtteil Kinderhaus, insbesondere durch Berichterstattungen der Presse und des

Fernsehens, Unterschriftensammlungen und die Initiierung thematisch einschlägiger

Bürgerversammlungen. Ihnen erscheinen solche Aktivitäten verfehlt und Einzelfallhilfe, kulturelle

Aktivitäten und positiv auffallende Projekte als angemessen. Skandalisierung ist nicht erwünscht,

obwohl die Verhältnisse der eigentliche Skandal sind und nicht die Berichterstattung über sie.

Dennoch: Aufgrund des ständig und öffentlich signalisierten Handlungsdrucks forderte der Rat der

Stadt Münster am 29.Mai 2009 die Verwaltung mit einer entsprechenden Vorlage auf, unter

anderem ein Handlungskonzept für das Hochbaugebiet zu entwickeln.

Aber auch hier zeigt die Erfahrung, dass, solange die Wohnungsbaugesellschaften keine oder nur

geringe Bereitschaft zur Verbesserung zeigen, die Entwicklung des Wohngebietes auf der Stelle

tritt. Maßnahmen nach dem Wohnungsaufsichtsrecht Nordrhein-Westfalens werden noch nicht in

Erwägung gezogen. Einzig wird seitens der Wohnbaugesellschaften auf bauordnungsamtliche

Verfügungen reagiert, das heißt, dass schwere Mängel beseitigt werden. Es muss letztlich klar

gesehen werden, dass das politisch-administrative System auf lokaler Ebene wenige

Handlungsoptionen besitzt. Deshalb, und weil die Brüningheide kein Einzelfall ist, hat die gesamte

Problematik eine gesellschaftspolitische Dimension, die nicht nur durch an sich lobenswerte

Programme wie die „Soziale Stadt" aufgefangen werden kann. Die bekannte alte Problematik

sozialer Brennpunkte, die gegenwärtig begrifflich besser gefasst als soziale Exklusion bezeichnet

wird, bekommt durch die Heuschreckenstrategien eben eine neue Qualität, die auch neue

politische Gegenstrategien erforderlich macht.

Das bereits erwähnte Programm „Soziale Stadt", gesellschaftspolitisch als zeitlich begrenzte und

sogenannte Exit-Strategie in die Praxis umgesetzt, kann angesichts der beschriebenen Situation

schnell flügellahm werden. Beispielhaft seien in diesem Kontext die Quartiere Köln-Chorweiler und

Bremen-Tenever genannt. Während bislang in Köln vor dem Hintergrund der jahrzehntelangen

Stigmatisierung dieses Quartiers mit 2 600 Wohnungen mit erheblichen Sanierungsbedarfen

bislang eher vorsichtig agiert wurde, werden im Stadtstaat Bremen in Tenever bei 180 maroden

Wohnungen (von insgesamt 2 200) die dortigen Verhältnisse gemeinsam mit den Mieterinnen und

Mietern skandalisiert – immer mit dem Hinweis darauf, dass ohne öffentlichen Druck kaum etwas

zu erreichen sei.

Der Erfolg gibt den Akteuren in Bremen Recht, denn über 90 Prozent des dortigen

Wohnungsbestandes wurden in den letzten Jahren vorbildlich saniert beziehungsweise teilweise

abgerissen. Vor dem Hintergrund der unzumutbaren Verhältnisse und mit dem einhergehenden

Handlungsdruck deutet sich nun auch in Köln-Chorweiler eine offensivere Vorgehensweise an.

Endlich gibt es Signale der dortigen Verwaltung und Politik, gemeinsame Lösungsstrategien zu

entwickeln. Es zeigt sich in diesem Kontext allerdings als zwingend notwendig, dass in Quartieren

mit erheblichen Problemlagen ein aktives Quartiersmanagement beziehungsweise die

Gebietsmoderation die Anwaltsfunktion für die betroffenen Menschen mit übernehmen muss.

Hierzu wäre es notwendig, gerade auch dieser Organisationsform eine relative Unabhängigkeit

zuzugestehen. In der Praxis steht allerdings in Münster die eindeutige Wohnungswirtschafts- und

Verwaltungsdominanz in der Gebietsmoderation und die Besetzung von sechs

handlungsfeldverantwortlichen Positionen ausschließlich mit städtischen Mitarbeitern und

Mitarbeiterinnen kreativ-kritischen Lösungsansätzen teilweise im Wege. So ist der Trend zur

Harmonisierung und das Verstecken hinter einem positiv besetzten Imagebegriff für ein teilweise

marodes Gebiet bei Teilen der Verwaltung und Wohnungswirtschaft weiterhin nicht zu übersehen.

Dennoch deutet sich in Münster vor dem Hintergrund der nachgewiesenen, dokumentierten und

skandalisierten Wohnmissstände nunmehr ein Umsteuern an.

Bezieht man diese Situation auf die aktuelle Fachdiskussion im Bereich der Gemeinwesenarbeit,

des Quartiersmanagements und der Sozialraumorientierung, scheiden sich schnell die Geister. So

schreibt Werner Schönig (2008,S.118f.) beispielsweise, dass sich in der Gemeinwesenarbeit ein

Konsensmodell etabliert habe und die Variante der aggressiven Gemeinwesenarbeit in den

Hintergrund getreten sei. Ganz anders argumentieren Kammann und Schaaf (2004, S.184), die in

ihrem Aufsatz von strategischer Gemeinwesenarbeit sprechen, die unter anderem auch die

Steigerung des Konfliktpegels vorsieht, wenn gar kein Erfolg sichtbar wird. Dabei ist der

Begriffswechsel von „aggressiv" zu „strategisch" sicherlich eine gute Wahl. Auch Krummacher u.a.

(2003) machen darauf aufmerksam, dass jenseits von Programmlyrik über die Verbesserung von

Wohn- und Lebensverhältnissen Konflikte vorhanden sind, die nicht durch „Management mit

Charme" (Hinte u.a. 2007) zu lösen sind (Krummacher u.a. 2003, S. 208).

Generell ist zu dieser fachlichen Kontroverse festzustellen, dass die aktuelle Theorie-und

Praxisentwicklung in der Gemeinwesenarbeit und auch im Quartiersmanagement nicht versäumen

sollte, sich einiger ihrer Wurzeln zu erinnern, in diesem Fall besonders an Harry Specht und Saul. Deren Konzepte mit der daraus abgeleiteten Praxis sind heute nicht mehr übertragbar,

Alinsky

aber der Hinweis auf diese Arbeitsformen erscheint notwendig. Die Gemeinwesenarbeit muss

aufpassen, dass die modernen, wichtigen und handlungsleitenden Konzeptbegriffe wie

Sozialraumanalyse, Sozialraumorientierung oder Quartiersmanagement nicht den Rückblick auf

Handlungsformen verstellen, die keineswegs im Arsenal historischer Betrachtungen verschwinden

dürfen. Unseres Erachtens hat auch heute noch Spechts Konzept der Interruption (beispielsweise

einer Unterbrechung im Sinne eines Streiks) reale Chancen auf Durchsetzung menschenwürdiger

Wohnverhältnisse gegenüber einer menschenverachtenden Heuschreckenmentalität. Schon weil

soziale Gerechtigkeit als Grundlage der Profession Sozialer Arbeit notwendigerweise immer mehr

an Bedeutung gewinnt, sind in der heutigen Stadtteilarbeit Fachkräfte gefragt, die

Managementkompetenz mit einem hohen Engagement zur Veränderung sozialer Missstände

verbinden. Hierzu gehört es dann aber auch, Konfliktoptionen ins Handlungsspektrum

aufzunehmen und entstehende Konflikte zu bewältigen.

4. Soziales Kapital im Erosionsprozess

Analysiert man die Abwärtsspirale der Brüningheide, werden gegenwärtig vor allem folgende

Merkmale augenfällig:

• Wohnungs-und Hausverfall bedingt durch Verantwortungslosigkeit der genannten

Wohnungsbaugesellschaften;

• Defizite im ökologischen Bereich (Dämmung, Mülltrennung);

• Qualitätsverlust des Wohngebietes, damit einhergehendes Negativimage;

• Abwanderung kaufkräftiger Schichten – Zuzug von Armutsverdrängten;

• Konzentration von mehrfach belasteten Familien;

• Wegzug der Bewohner und Bewohnerinnen (Leerstand, Fluktuation);

• Wegzug als Konfliktvermeidung wegen belasteter Nachbarschaften;

• Jugendarbeitslosigkeit;

• Erosion sozialer Netze.

Diesen Prozess nennen wir Erosion des sozialen Kapitals, weil vorhandene Fähigkeiten,

Kompetenzen und Kenntnisse der Bewohnerinnen und Bewohner durch deren Wegzug für das

Wohnquartier verloren gehen, vorher gegebene soziale Nähe nicht mehr vorhanden ist und soziale

Netze im Wohnumfeld aufgerieben werden. Diese Erosion betrifft aber auch die Stadtteilarbeit

selbst, die durch „Gegensteuerung" gerade Nachbarschaft und kleine Netze aufbaut und stärkt.

Oder anders formuliert: Die Gemeinwesen- und Stadtteilarbeit versucht eine erfahrbare

Lebenswelt zu entwickeln, in der Behinderungen vermieden und Möglichkeiten gefunden werden

können (dazu Oelschlägel 2002). Diese gegenläufigen Prozesse von Wohnungsbewirtschaftung

und Stadtteilarbeit führen dazu, dass der letztgenannte Handlungsansatz vielfach auf der Stelle

tritt, seine Wirkung jedenfalls sehr beeinträchtigt ist.

Kronauer

Angebote als unbedingt notwendige Ressourcen in solchen ausgegrenzten Wohngebieten. Die

beiden Soziologen machen aber noch auf einen anderen Tatbestand aufmerksam, der auf eine

gesellschaftliche Dimension verweist. Denn gute Wohnverhältnisse und unterstützende

Einrichtungen vor Ort verbessern die ohnehin schlechte materielle und soziale Lage in den unteren

Gesellschaftsschichten (ebd., S. 237). Oder anders gesagt: Zur Einkommensarmut, verbunden mit

Bildungsferne und Chancenlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt, kommen belastete Wohnverhältnisse

und geringe Teilhabechancen am öffentlichen Leben. Gerade die Nichtteilhabe am Arbeitsmarkt

führt dabei zur Aufgabe einer Lebensweise, die um den Arbeitsplatz herum organisiert ist. Auch

hier wird soziales Kapital, nämlich die Fähigkeit des Menschen, seinen Arbeitsplatz zu gestalten,

zerstört. Insofern ist bei der Analyse ausgegrenzter Wohngebiete immer die genannte doppelte

Benachteiligung im Auge zu behalten.

Die Wahl des Begriffs soziales Kapital entfaltet für das Wohnquartier Brüningheide zwei

Analyseebenen. Versteht man darunter „Vertrauen, Gegenseitigkeit, soziale Netzwerke,

gemeinsame Verhaltensnormen, Engagement und Zugehörigkeitsgefühl" (Runge 2007, S. 27), so

ist dieses Kapital sowohl im genannten Wohnquartier, wenn auch in reduzierter Form, als auch im

gesamten Stadtteil Kinderhaus zu finden. Mehr noch: Das „überschießende" soziale Kapital des

Stadtteils, insbesondere das Engagement von Bürgerinnen und Bürgern, Kirchen und Vereinen,

bildet eine starke Brücke zur Brüningheide. Runge stellt seine Masterarbeit unter den Titel „Der

Aufbau von Brücken bildendem sozialen Kapital" (ebd.) und fordert Ressourcenaktivierung auch in

benachbarten Wohnquartieren und angrenzenden sozialen Räumen, eben den jeweiligen

städtischen Umgebungsgebieten. Diesbezüglich ist aber der Stadtteil Kinderhaus bereits ein

Brückenraum mit „starken Schultern"– ein beachtliches Markenzeichen und eine unverzichtbare

Ressource!

Hilfreich bei der Erfassung des gesamten Problemspektrums ausgegrenzter Wohngebiete ist das

Analyseraster von Häußermann u.a. (2004). Dort werden Ursachen von Armut,Ausgrenzungund

Problemkonzentrationen in sozialen Räumen untersucht:

• Dazu gehört das bereits genannte Verschwinden einfacher Arbeitsplätze, wobei für Münster

gilt, dass die Zahl einfacher Arbeitsplätze in dieser Stadt, die am Dienstleistungssektor

ausgerichtet ist, stets gering war. Auch werden solche Arbeitsplätze in die globalisierte Welt

verlagert, was einen zusätzlichen Effekt ausübt.

• Dass die Globalisierung der Finanzmärkte mit ihren Immobilientransaktionen einen

weiteren Belastungsfaktor darstellt, ist bereits ausreichend erörtert worden.

• Weiterhin nennt Häußermann unter anderem Wanderungen aus der Dritten in die Erste

Welt. In den Städten postindustrieller Gesellschaften erfolgt durch selektive Mobilität eine

Konzentration von Arbeitslosen und Fremden in speziellen randständigen Wohngebieten,

die zugleich von jenen, die sich bessere Wohnverhältnisse leisten können, verlassen

werden. Letzteres ist ein Beispiel für selektive Mobilität, ein anderes Selektionsmerkmal ist

Einkommensarmut, ein drittes Merkmal wäre das Vorhandensein belegbarer Wohnungen

abseits des üblichen Wohnungsmarkts.

• Weiterhin werden das Nichtvorhandensein oder die Ausdünnung von informeller Ökonomie

genannt, also die Möglichkeit, in Milieunischen Tätigkeiten nachzugehen wie zum Beispiel

Handarbeiten herzustellen, Kunsthandwerk zu betreiben, Hilfsarbeiten der Tausch und

Kleinhandel zu betreiben. Hierfür werden staatlich vorgegebene Verordnungen und vor

allem eine zunehmende Ökonomisierung des Alltags verantwortlich gemacht.

• Zuletzt nennt die hier nur skizzenhaft angedeutete Analyse (ausführlich Häußermann2004,S.11ff.) die nicht mehr ausreichenden Leistungen des Wohlfahrtsstaats, um dem

Problem ausgegrenzter Stadtteile zu begegnen. Dies betrifft unter anderem die Aufgabe

der staatlichen Wohnungsvorsorge durch politisch unterschiedlich zusammengesetzte

Landesregierungen sowie die Bundesregierung.

Diese Ausführungen treffen mit unterschiedlichem Gewicht auch auf die Großwohnsiedlung

Brüningheide zu. Neu ist allerdings der beschriebene Heuschreckeneffekt, der die neoliberale

Dynamik auf die Spitze treibt.

Abschließend soll die Aufmerksamkeit auf Kinder und Jugendliche gelenkt werden, bei denen die

Ausbildung sozialen Kapitals erschwert ist oder, anders gesagt, die sozialräumlichen

Sozialisationsbedingungen unzulänglich sind. Diese sind unter anderem durch die Konzentration

von Familien mit multiplen Problemen gekennzeichnet (Richter 2001, S. 51). Mangelnde

Erziehungskompetenz, Überschuldung, Bildungsferne, Arbeitslosigkeit und Verhaltensauffälligkeit

sind Belastungsfaktoren für aufwachsende Kinder und Jugendliche. Die genannten Probleme sind

zwar überall vorzufinden, ihre Konzentration in einem engen sozialen Raum macht sie aber noch

schwerwiegender.

In diesem sozialen Raum verliert sich die normale Vielseitigkeit des Alltagslebens auch vor dem

Hintergrund der baulichen Verfasstheit des Milieus mit zerbrochenen Fensterscheiben und

unbrauchbaren Spielplätzen sowie eines desolaten Müllabfuhrsystems. Ist dieser Raum nun

sozialer Erfahrungs- und Lernraum, lernen die in ihm lebenden Kinder und Jugendlichen auch die

dort vorherrschenden Normen und Handlungsweisen und sind so gegenüber der „Außenwelt"

isoliert. Durch Imitationslernen geschieht dann eine Anpassung an die erlebte Umwelt. Die

Beschränkung in einem solchen Lernmilieu durch fehlende Repräsentationen auch anderer Rollen

und Normen sind für Häußermann (2001,S.47) ein Ausdruck von Benachteiligung von Kindern und

Jugendlichen. Eine Benachteiligung, die eben die Ausbildung sozialen Kapitals beeinträchtigt.

Des Weiteren sind in der Großwohnsiedlung Brüningheide 20 Wohnungen mit suchtgefährdeten

Menschen belegt – auch um Leerständen zu begegnen. Eine weitere Konzentration sozialer

Probleme ergibt sich aus der Arbeitslosenquote von zirka 40 Prozent. Wohndichte und vielfältige

psychosoziale Probleme stellen erhebliche sozialisationsbezogene Einschränkungen dar.

5. Sozialraumorientierte Konzeption

Vor diesem Hintergrund soll abschließend auf die Frage eingegangen werden, wie ein

sozialraumorientiertes Konzept für Kinder und Heranwachsende gestaltet werden könnte, ein

Konzept, welches aus dem oben genannten Verhinderungsraum einen Möglichkeitsraum werden

lässt. Hilfreich für solche Überlegungen ist die von Kilb vorgestellte Strategie unter dem Titel

„Integration/Community-Spirit"(Kilb 2009, S. 156 ff. ). Dieses in Anlehnung an Böhnisch entwickelte

Konzept bezieht sich sowohl auf das Wohnumfeld als auch auf die Schulwelt. Community-Spirit

geht von dem Grundgedanken aus, dass in unserer Gesellschaft und insbesondere in ihren

belasteten Milieus über erlebte Gemeinschaft Gemeinschaftsfähigkeit erlangt werden kann. Den

Halt von formellen Gruppen wie Schulklassen und informellen Gruppen wie Freundes- und

Nachbarschaftsverbindungen gilt es deshalb zu unterstützen. Eine solche Unterstützung richtet

sich auf Teilhabemöglichkeiten und Verantwortungsübernahme im Bereich junger Menschen

ähnlichen Alters. Die tabellarische Zusammenfassung des Community-Spirit-Ansatzes zeigt dabei,

dass die Darstellung der eingeschränkten subjektiven Erfahrung zu den weiter oben gemachten

Ausführungen zum sozialen Kapital sehr gut passt.

Übersicht: Aktivierung psychosozial strukturierter Grundsegmente zur Lebensbewältigung

(Kilb 2009, S. 158)

subjektive

Erfahrung

Selbstwertverlust

Soziale Orientierungslosigkeit

Fehlen sozialen

Rückhalts

fehlende Integration,

Normalisierungssehnsucht

objektive

Bewältigung

Wiedergewinnung

Orientierungssuche

Suche nach Halt

Suche nach Integration

und Handlungsfähigkeit

schulische und

sozialpädagogische

Unterstützung

Identifikation von

„Hilflosigkeit", Wahrnehmen,

Verstehen,

Bestärken, Selbstthematisierung

Situative und personale

Strukturierungsangebote

milieubildende,

soziale Räume,

öffnende Angebote,

öffnende Konzepte

Empowerment,

Netzwerkschaffung,

Netzwerkstärkung

Denn Selbstwertverlust (siehe Tabelle) ist zum Beispiel der Verlust sozialen Kapitals bereits bei

Kindern und Jugendlichen. Eine objektive Bewältigung bei angemessener Unterstützung eröffnet

einen neuen Möglichkeitsraum im Sinne einer Wiedergewinnung des Selbstwertes. Einige Aspekte

der sozialpädagogischen Unterstützung werden im Wohnquartier Brüningheide umgesetzt.

Beispiele hierfür sind niedrigschwellige Jugendarbeit, Vermittlung von Mitgliedschaften im

Sportverein, Hausaufgabenhilfe, Leselernunterstützung und weitere Bildungsangebote. Gleichwohl

ist es notwendig, die Unterstützungspraxis unterschiedlicher Träger Sozialer Arbeit und

flankierender Institutionen nachhaltiger zu koordinieren. Das gilt insbesondere für den gesamten

Stadtteil Münster-Kinderhaus, auf dessen Brückenqualität schon mehrfach hingewiesen wurde.

Um diese Brückenqualität zwischen dem Problemgebiet Brüningheide und dem gesamten Stadtteil

Kinderhaus unter dem Aspekt von Jugendarbeit zu verstärken, kann das dargestellte Konzept für

die beteiligten Jugendhilfeträger eine bedeutsame Koordinierungshilfe sein.

6. Perspektiven

Folgt man dem Stadtsoziologen Siebel, so handelt es sich bei dem dargestellten Wohngebiet um

ein Quartier mit bösartigen Problemen (Siebel 1999, S.31ff.,dazu auch Hollenstein 2001).

Bösartige Probleme sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich Problemlösungen prinzipiell

energisch widersetzen. Demnach sind für die Gemeinwesenarbeit im Quartier Brüningheide drei

Konsequenzen zu ziehen:

• Gemeinwesenarbeit und Stadtteilarbeit sind Daueraufgaben. Vorstellungen im Sinne einer

Exit-Strategie sind nicht haltbar. Auch bezüglich des Programms „Soziale Stadt" herrscht

an diesem Punkt großer Handlungs- und Entscheidungsbedarf.

• Gemeinwesenarbeit und Stadtteilarbeit setzen sich auch zum Ziel, die soziale Lage der

Bewohnerschaft zu verbessern. Die Bearbeitung der sogenannten harten Faktoren wie zum

Beispiel Arbeitslosigkeit wird in ihrer Wirkung oft für unmöglich erklärt. Das Schielen nach

großen Zahlen ist hier allerdings nicht hilfreich – jeder eingerichtete Arbeitsplatz ist ein

Erfolg.

• Gemeinwesenarbeit und Stadtteilarbeit haben als Daueraufgabe das Ziel, die Wohn- und

Lebensumstände der Bewohnerinnen und Bewohner zu verbessern. Und dieses mit

größtmöglicher Beteiligung und Akzeptanz der Bewohnerschaft, und, wie be schrieben,

anwaltlich und notwendigerweise mit strategischer Öffentlichkeitsarbeit.

Für die aktuelle Stadtteilarbeit in der Großsiedlung Brüningheide sind folgende Überlegungen

ausschlaggebend: Langfristige Perspektiven sind trotz angemessener Öffentlichkeitskampagnen

nur schwer zu formulieren. Jedoch deuten sich als Folgen der anwaltlich ausgerichteten

Stadtteilarbeit und zunehmenden öffentlichen Handlungsdrucks in Münster-Kinderhaus (Wieder-)

Übernahmen von zuvor veräußerten Wohnungsbeständen zurück in kommunale

Verantwortungsbereiche an. Hierbei sind trägerübergreifend, insbesondere auch mit der

zuständigen Verwaltung der Stadt Münster und in gemeinsamer Anstrengung im Stadtteil und

darüber hinaus, ganzheitliche Lösungen im Sinne der Betroffenen anzustreben. Zudem nahmen im

zweiten Halbjahr 2009 erstmalig alle fünf Wohnungsgesellschaften an den regelmäßigen

Gesprächsrunden mit der Verwaltung teil. Der größte Vermieter H. ist vor Ort präsent und

ansprechbar, beginnt mit kleinteiligen Sanierungen und stellt weitere Sanierungen in Aussicht,

nachdem er im September 2009 alle Mieterinnen und Mieter in Hinblick auf individuell

festzustellende Wohnungsmängel angeschrieben hatte.

Zudem ist auf Bundesebene das Problem mittlerweile erkannt und es gibt einen vom

Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

zum Einsatz von Rechtsinstrumenten beim Umgang mit verwahrlosten Immobilien. Das

Rechtsinstrument „Satzung zur Begründung eines besonderen Vorkaufsrechts" findet ab Mai 2010

nun auch für Münster-Kinderhaus/Brüningheide Anwendung und die Gründung einer

Auffanggesellschaft soll vorbereitet werden. Die Stadtteilarbeit des Begegnungszentrums erfuhr in

den letzten Monaten viel Zuspruch aus der Mieter- und Bewohnerschaft, eben weil sie eine aktive

Rolle im Rahmen der anwaltlichen Orientierung im Sinne der Betroffenen gegenüber den

„Wohnungsheuschrecken" nach innen und außen eingenommen hat.

Dieser Weg sollte konsequent weitergeführt werden. Es sollte nun in gemeinsamer Anstrengung

alles versucht werden, die Stärkung der Mieter und Mieterinnen im Quartier abzusichern und damit

den Widerstand vor Ort zu organisieren. Die Mieterschaft sollte aktiv im Hinblick auf dringlichste

Sanierungen im Wohnungsbestand einschließlich Senkung der steigenden Mietnebenkosten,

sozialverträgliche Belegungen und Gesundheitsaspekte unterstützt werden. Deshalb muss der

öffentliche Druck und damit dieTaktik des Widerstands aufrechterhalten werden, damit das

Wohnquartier nun endlich saniert wird. Bezüglich dieses kurz- und mittelfristigen

Aufgabenspektrums bleibt die Stadtteilarbeit des Begegnungszentrums Sprickmannstraße ein

wirksamer Faktor der weiteren Entwicklung der Großwohnsiedlung Brüningheide und damit auch

des Stadtteils Münster-Kinderhaus.


Literatur

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Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

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Was sind Quartierseffekte, was sind Lageeffekte? In: Häußermann u.a.: a.a.O. 2004, S. 235-257

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Oelschlägel

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und Vogel (2004) nennen gerade unterstützende soziale Netze und institutionelle