Veränderungen im Politikverständnis der Gemeinwesenarbeit (GWA) seit 1968

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(In biographischer Perspektive)


Kontakt:

Prof. Dr. Dieter Oelschlägel, Universität Duisburg-Essen, Institut für praxisorientierte Sozialwissenschaften, 47048 Duisburg, E-Mail: oelschlaegel@lauhof.de


In den Ausschreibungstexten zu dieser Tagung und in den Gesprächen mit Ingrid Wölfel, die dazu führten, dass sie mich hierher eingeladen haben, war immer die Rede von den biographischen Anteilen des zur Verhandlung stehenden Themas. Ich habe im demnächst (bei AG SPAK Publikationen, München) erscheinenden 5. Jahrbuch der GWA versucht den Wandel des Politikverständnisses in der GWA zwischen der Studentenbewegung und heute zu skizzieren. Wenn ich das jetzt lese, erscheint mir das alles einsichtig, aber auch sehr glatt. Die Brüche und Widersprüche, die offenen Fragen, die Gewinne und Verluste werden nichtdeutlich.
Das mag ein Problem unserer Generation sein, dass wir, die wir unseren Eltern ihren Umgang mit ihrer Geschichte um die Ohren geschlagen haben, auch nicht gelernt haben, mit der unsrigen umzugehen. Die gesellschaftliche Entwicklung und gerade die Auswirkung der Einheit auf theoretische Diskurse - das wäre noch zu untersuchen - haben diese Geschichte einer politischen GWA desavouiert. Dazu wird geschwiegen und die GWA neu erfunden. Oder es werden theoretische Distanzierungen formuliert, die dann nicht mehr „wir“ oder„uns“ sagen, sondern: die GWA hatte eine „wilde Zeit“, in der, weil marxistisch begründet, große Fehler gemacht wurden. Ich kenne keinen Text, meine eigenen eingeschlossen, in dem eine Linie der Kontinuität, der Entwicklung, der Lernprozesse gezogen wird. Leider endet C. W. Müllers Methodengeschichte für die GWA schon im Jahre 1975.
Ich will deshalb meinen „glatten“ Text nicht vortragen, sondern etwas zu meiner GWA Biographie sagen und das mit ein paar Fragen oder Thesen abschließen, die uns in die Diskussion leiten könnten. Ausgangspunkt 1968. Zu diesem Zeitpunkt studierte ich an der PH Berlin, d.h. eigentlich studierte ich nicht: ich war ASTA-Vorsitzender.
Da hingekommen bin ich durch manchen Umweg, und ich war zu diesem Zeitpunkt auch schon fast 30 Jahre alt. In Chemnitz bin ich - wie C.W.Müller und Hellmut Lessing – aufgewachsen und streng pietistisch erzogen worden. Diese christliche Erziehung hat in vielen von uns die Bereitschaft zum Engagement für die Mühseligen und Beladenen geweckt. Über Medizinstudium und Krankenpflegetätigkeit bin ich zum PH-Studium gekommen. Als „unpolitischer“ Gegenkanditat zum SDS wurde ich 1966 ASTA-Vorsitzender. Moralische Empörung über die Politik in der Dritten Welt, aber auch über den Umgang vieler Professoren mit uns, ließ mich immer weiter nach links rücken. Daneben beeindruckte mich die fleißige theoretische Arbeit der Linken, die mich in der Form auch noch an die Bibelesekreise meiner Jugend erinnerten.
Wir erfuhren viel Solidarität an der PH durch Hochschullehrer wie C. W. Müller, Manfred Liebel, Helmut Lessing, Wolfgang Hochheimer u.a., so dass politische Probleme und Probleme der Ausbildung, besonders der Praxisbezug, nicht gegen, sondern mit einem großen Teil von Hochschullehrern diskutiert und bearbeitet wurden. Daraus erwuchsen Projekte wie im Märkischen Viertel, und hier begann auch mein Weg zur Gemeinwesenarbeit. Wesentliche Erfahrungen dieser Zeit, in der wir GWA von der Hochschule aus betrieben, waren:

  • die Parteilichkeit von Wissenschaft

  • das Lernen von strategischen Überlegungen

  • die Rezeption - auch der kommunistischen - sozialpädagogischen Ideen der 20er Jahre (Bernfeld, Hoernle, Reich; Stadtteilarbeit der KPD ... )

  • Randgruppenstrategie, Kinderladenbewegung, Georg-von-Rauch-Haus, Heimkampagne, Arbeitskreis kritischer Sozialarbeiter

  • der Zerfall der Bewegung in Parteigründungszirkel, denen der Kampf untereinander wichtiger wurde als der Kampf gegen Kapital und Establishment

  • die politische Reflexion des späteren Berufs („revolutionäre Berufspraxis“).

1970 machte ich mein Examen und ging nicht an die Universität, die uns damals offen stand, sondern entschied mich für die Möglichkeit, in Berlin Heerstrasse-Nord in einer Kirchengemeinde als Gemeinwesenarbeiter anzufangen. Die Gemeinde verstand ihren Auftrag als politische Diakonie und Gemeindeaufbau, der nur als Gemeinwesenarbeit eingelöst werden könne, betrieb GWA beinahe schulmäßig nach Prinzipien der klassischen katalytischen GWA.
Die mühsamen Erfahrungen mit Gemeinwesenarbeit und auch der Druck der Landeskirche führten letztlich eine Zurücknahme dieses Anspruchs und einen Rückzug auf traditionelle Gemeindearbeit und sozialtherapeutische Ansätze im Sozialbereich. Diese Erfahrung war durchaus typisch für viele, die damals GWA in Kirchengemeinden machten. Seit 1972 war ich - bis heute - in einem GWA-Dachverband, dem Verband Deutscher Nachbarschaftsheime ehrenamtlich in verschiedenen Vorstandsfunktionen tätig. 1969 veranstaltete dieser Verband gemeinsam mit der PH Berlin eine Tagung über GWA und Kommunalpolitik. Bedeutsames Ergebnis dieser Tagung war die Gründung einer „Sektion Gemeinwesenarbeit“, eines Zusammenschlusses von Gemeinwesenarbeiterinnen und Gemeinwesenarbeitern, die sich als fortschrittlich verstanden. Zwei Jahre später dokumentierte eine weitere Tagung des Verbandes den Wandel in weiten Bereichen der GWA: Die Studentenbewegung stellte die Organisationsfrage und zerfiel in viele kleine Aufbauorganisationen proletarischer Parteien, die sich dogmatisch bekämpften. Auch in der GWA gab es unterschiedliche Antworten dazu von Veränderungsstrategien bis hin zu Strategien des Klassenkampfes: „Aufgrund ihrer zugewiesenen Schlüsselstellung im Brennpunkt der verschiedensten sozialen Konflikte kann aber gerade GWA zu einem wichtigen Hilfsinstrument bei der Organisierung der Werktätigen und ihrer Bündnispartner werden“. So stand es 1971 im Rundbrief des Verbandes.
1974 ging ich nach Kassel, um als Planer unter der Anleitung von Hanns Eyferth, Waltraud von Hackewitz, Ulf Weißenfels und Hilde Kipp den Studiengang für soziale Berufe mit aufzubauen. Dort nahm ich den Rückgang der GWA wahr, als Folge von Ölkrise und Berufsverboten, aber auch das „Überwintern“ der Idee vor allen in den GWA-Projekten in den sozialen Brennpunkten und das Einsickern der Idee in die „klassische“ Sozialarbeit, hier in Kassel durch die Diskussion der Neustrukturierung der sozialen Dienste und die Entwicklung und Begleitung (vor allem durch Jürgen Krauss) eines entsprechenden Modells in Kassel-Bettenhausen. Seit 1981 bin ich nun in Duisburg. Dass eine Lebenszeitstelle als Professor so viel an einem verändert, an Selbstsicherheit und Kompromissbereitschaft, hätte ich vorher nicht vermutet. Sicher ist das Abschleifen von Positionen - theoretisch und strategisch und pragmatisch gut begründbar - auch einfach nur biografisch bedingt. In Duisburg hatte ich nun mehr Zeit, über GWA nachzudenken, zu schreiben und vor allem kontinuierlich an einem GWA-Projekt in einem Armutsstadtteil mitzuarbeiten. Inzwischen haben wir gelernt, die Menschen aus ihrer eigenen Perspektive zu sehen und Gemeinwesenarbeit lebensweltorientiert als nützliche Dienstleistung anzubieten. Ich will das nicht weiter ausführen, ausführlichere Informationen finden sie an anderer Stelle (Oelschlägel 1993). Wir haben auch deutlicher die Probleme von Armut im Blick, die damals die „Domäne“ unserer Kollegen aus den Sozialen Brennpunkten war (Oelschlägel 1991). Ich will einige Thesen anfügen für das Gespräch. 

Was hat sich geändert?

Vorausgeschickt werden sollen - weil in der Diskussion nach dem Referat nachgefragt – einige Anmerkungen zu den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 20 Jahre, denn der theoretische und praktische Zustand von GWA ist ein Reflex auf gesellschaftliche Entwicklungen. Diese können wie folgt ansatzweise und unvollständig beschrieben werden:

  • Das Wirtschaftswachstum der ersten 30 Nachkriegsjahre hat gesellschaftsstrukturelle Veränderungen bewirkt, die erst jetzt - wo dieses Wachstum nicht mehr selbstverständlich ist - deutlicher ins Blickfeld kommen: da ist zunächst einmal der Sachverhalt zu nennen, dass die Sozialstruktur unseres Landes nicht mehr eindeutig von der Klassenstruktur beherrscht ist. Bedingt durch eine enorme Steigerung der Einkommen und Vermögensverhältnisse in (fast) allen Schichten einerseits, das Wachstum wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und Regulierungen andererseits, verschwinden Klassenstrukturen (scheinbar?), lösen sich Milieus auf, in denen die Menschen sich aufgehoben fühlen und Verhaltenssicherheit gewinnen konnten (Beispiel: das proletarische Milieu mit seiner Vielfalt von Organisationen von der Partei bis zum Arbeiterradfahrerbund). Die Lebensvollzüge aller gesellschaftlichen Gruppen individualisieren sich, die Prägekraft sozialer Normen nimmt ab (Wertewandel) (Berger 1986).

  • Dieser Individualisierungsprozess lässt auch das Normalarbeitsverhältnis und die Normalfamilie brüchig werden. Stichworte für die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses sind: Teilzeitarbeit, Flexibilisierung, ABM, Arbeitszeitverkürzung, Vorruhestand ... Das führt zu neuen Lebensentwürfen für viele Menschen, die auch in Konzepte sozialer Arbeit aufgenommen werden müssen. So gewinnt das Alter als eigenständige Lebensphase und als soziales Problem an Gewicht. Das gleiche gilt für freiwillige oder erzwungene Lebensentwürfe außerhalb von Erwerbsarbeit. Auch die Lebensentwürfe, die bisher an der Normalfamilie orientiert waren, ändern sich, obgleich gesellschaftliche Großorganisationen ideologisch und politisch sich der Entwicklung entgegenstemmen. Stichworte dazu: Sinken der Kinderzahl, Zunahme von Single-Haushalten und Alleinerziehenden, Zunahme von anderen Lebensformen als der Ehe (Wohngemeinschaft, Zusammenleben ohne Trauschein), oft innerhalb einer Biographie. „... bis das der Tod Euch scheidet“ - das gilt heute weitgehehend nicht mehr. Befunde der Sozialforschung weisen auf eine Bedeutungsminderung der von der Familie erbrachten sozialen Dienstleistungen hin. Dasselbe gilt auch für die Nachbarschaft.

  • Das Ende des kräftigen Wirtschaftswachstums zwischen 1950 und 1975 brachte sinkende, ja negative Einkommenszuwächse, Anstieg von Arbeitslosigkeit und Armut und deren Einpendeln auf einem hohen Niveau. Vollbeschäftigung, Sozialpartnerschaft und sozialstaatliche Leistungen werden brüchig und in Frage gestellt (Stichwort: Zweidrittelgesellschaft). Das schafft Unsicherheit.

  • Die „Modernisierungsrisiken“ (nukleare und chemische Verseuchungen, Schadstoffe in Nahrungsmitteln, Ozonloch, Zivilisationskrankheiten) entziehen sich oft dem unmittelbar sinnlichen Wahrnehmungsvermögen und treten universell auf. Das macht Angst (Stichwort: Risikogesellschaft).

  • Die Medien produzieren Surrogate eigener Erfahrung und suggerieren Aktivität und Dabei sein: „Man trifft sich sozusagen am Abend weltweit und schichtübergreifend am Dorfplatz des Fernsehens und konsumiert die Nachrichten“ (Beck 1986 S.213).

  • Große gesellschaftliche Organisationen (Parteien, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände) verlieren ihre identitätsstiftende, milieubildende Kraft. Sie geraten in Glaubwürdigkeitskrisen und antworten darauf nicht selten mit mehr Bürokratie. Allerdings produziert das auch Gegenbewegung: engagierte, informierte, lokal handelnde, jedoch global denkende Bürgergruppen, die ihre Stärke aus ihrem unmittelbaren Interesse, unkonventionellen Umgangs- und Aktionsformen, ihrer Verankerung in der Lebenswelt (Nachbarschaft) ziehen, konfrontieren die Großorganisationen mit praktischer Kritik (Zinner 1991). Aber auch fundamentalistische Tendenzen gehören zu den Gegenreaktionen.

Was hat sich für mich in der Gemeinwesenarbeit geändert?

1.
In der theoretischen Diskussion sind wir von der Klassengesellschaft zur Lebenswelt gekommen. Auf diesem Weg haben wir Begriffe (und mehr als Begriffe) verloren, etwa Parteilichkeit und Emanzipation. Damals schrieb Friedrich Hauß im zentralen Strategie-Artikel des Victor-Gollancz-Readers: „Ein Sozialarbeiter, gleichgültig, ob mit professioneller GWA beschäftigt oder nicht, kann sich aus dem Kräftefeld zwischen Arbeit und Kapital nicht heraushalten, denn er ist unmittelbar durch seine Arbeit damit verbunden: Für ihn stellt sich die Frage: Mit der Arbeit gegen das Kapital oder mit dem Kapital gegen die Arbeit. Er wird sich zu entscheiden haben“   (Hauß 1975, S.252).
Die genannten gesellschaftlichen Entwicklungen haben in den Sozialwissenschaften eine Abwendung von den „großen“ Theorien, auch der marxistischen, und eine Hinwendung zu Alltag und Lebenswelt bewirkt, die ihren Niederschlag auch in der Sozial- und Gemeinwesenarbeit gefunden hat. Die Attraktivität alltags- und lebensweltorientierter Konzepte dort mag darin bestehen, dass sich der alltagsorientierte Ansatz nicht interessiert „ - wie die Mehrzahl der Gesellschaftstheorien - für theoretische Perspektiven, die von Intellektuellen für Intellektuelle geschrieben werden. Er setzt bei der Erklärung der Wirklichkeit an, die dem „Verstand des gesellschaftlichen Normalverbrauchers' zugänglich ist“ (von Beyme 1991, S.254).

2.
Auf der strategischen Ebene arbeiten wir uns nicht mehr am Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ab, sondern an der Frontlinie Bürger - Staat. Es geht jetzt nicht um gesellschaftsverändernde Klassenkämpfe, in die die GWA einbezogen wird, sondern um Verteilungskämpfe um immer knapper werdende staatliche und kommunale Ressourcen. Leitbegriff für diesen Aspekt eines gewandelten Politikverständnisses ist der Begriff „Einmischung“. Er wurde von Ingrid Mielenz geprägt und entfaltet in die Diskussion um kommunale Sozialarbeitspolitik eingebracht: „Soziale Arbeit hat auf kommunaler Ebene, d.h. in überschaubaren Regionen und Bezügen, die meiste Möglichkeit sich einzumischen (mitzumischen), direkt und unmittelbar auf die Veränderung von Lebensbedingungen einzuwirken und zu konkreten, den Bedürfnissen der Betroffenen entsprechende Veränderungen und Verbesserungen beizutragen. Auch die umfassende Beteiligung der Betroffenen ist auf der Ebene des Stadtteils am ehesten realisierbar“ (Mielenz 1981, S.59). Allerdings erscheint Einmischung hier als eine Ausweitung sozialer Arbeit in angrenzende Tätigkeitsbereiche, als eine soziale Sensibilisierung anderer Berufe (Architekten, Lehrer, Ärzte) für soziale Probleme und Probleme des Gemeinwesens; sie wird beschrieben als Strategie engagierter Professioneller und Verwaltungen, die eine Beteiligung der Betroffenen durchaus anstrebt, nun nicht mehr als Organisierung im „klassischen“ Verständnis, sondern als

  • Beteiligung an Planungsprozessen und konkreter Projektentwicklung

  • Selbsthilfeaktivitäten im lokalen Umfeld.

Darin liegt die Gefahr eines gewissen Pragmatismus.

3.
Auf der professionellen Ebene sind die Gemeinwesenarbeiterinnen und Gemeinwesenarbeiter nicht mehr „Anwalt, Organisator, Agitator“ für die Betroffenen, wie es C.W.Müllers „ANORAG-Thesen“ formulierten, sondern sie sehen ihre Aufgaben vornehmlich in Vernetzung und Unterstützungsmanagement. Wenn man`s zugespitzt formulieren will: der revolutionären Selbstdefinition ist die professionelle gefolgt. Das ändert natürlich auch die Sicht auf die Betroffenen.

4.
Aus all dem kann man unschwer herauslesen: Gemeinwesenarbeit war damals, in den 70er Jahren, für die „fortschrittlichen“ Gemeinwesenarbeiterinnen und Gemeinwesenarbeiter die Alternative zur „klassischen“ Sozialarbeit. Viele lehnten für sich die Berufsbezeichnung „Sozialarbeiterin/Sozialarbeiter“ ab. Heute ist GWA - das hat sich weitgehend durchgesetzt - ein Arbeitsprinzip der Sozialarbeit. War damals Veränderung der Gesellschaft und der Sozialarbeit der Impuls, so ist GWA heute eher ein Instrument für Modernisierung und Effektivierung sozialer Dienstleistungen und Einrichtungen (vgl. Neustrukturierung sozialer Dienste, vgl. dazu Institut für soziale Arbeit 1991 und Hinte 1991).

Was habe wir gewonnen, was verloren?

Verluste
Verlust an moralischem Impetus: worüber regen sich Gemeinwesenarbeiterinnen und Gemeinwesenarbeiter heute auf? Gibt es überhaupt noch zornige Gemeinwesenarbeiterinnen und Gemeinwesenarbeiter? Selbst in der Sozialarbeit haben wir doch den Skandal der massenhaften Verarmung in unserem Lande weitgehend hingenommen. Verlust von Veränderungsutopien - ob wir es zugeben oder nicht: betreiben wir für und mit „unseren“ Betroffenen nicht mehr oder weniger das Sicheinrichten? Haben wir denn noch Bilder von der „guten Gesellschaft“? Marcuse hat uns Studierenden 1968 eindringlich auf die Notwendigkeit konkreter Utopien hingewiesen, und diese - davon bin ich überzeugt - hat sich nicht geändert. Konkrete Utopie hat ihre Begründung in fundierter Theorie „als Möglichkeitsanalyse der wirklichen Gesellschaft. Nur was im aktuellen Möglichkeitshorizont einer Gesellschaft ist, in ihrer akuten Reichweite, das taugt für die konkrete Utopie“ (Knobloch 1993). Verlust von Theorie oder wenigstens theoretischer Anstrengung zugunsten pragmatischer Konzepte, Indiz dafür könnte die Renaissance von Community-Organization-Trainings sein. Die Krise der GWA wird als eine der mangelnden (sozialtechnischen) professionellen Kompetenz gesehen. Verlust an kollektiven Strategien wenigstens von Teilen des Berufs; es gibt keinen Zusammenschluss, kein Forum für GWA auf nationaler Ebene, außer der zweijährig stattfindenden GWA-Werkstatt im Burckhardthaus Gelnhausen. Damals hatten wir die Sektion GWA, die sich als Kristallisationspunkt der GWAler verstand, in ähnlicher Weise, wie das die Gilde in der Weimarer Zeit tat.

Gewinne
Gewinn an Subjektivitätszuwachs für die Betroffenen, ihre Perspektive wird nicht mehr „abgeleitet“, sondern wahrgenommen. Das macht uns manchmal betroffen - und hilflos und ist eine Herausforderung, Professionalität neu zu überdenken. Schlagwortartig formuliert: Das „klinische Paradigma“ professionellen sozialen Handelns, das beim „Klienten“ jeweils eine Normabweichung oder ein Defizit feststellt, Hilfsbedürftigkeit voraussetzt und den Sozialarbeiter als den „Normalen“ und die Normalität Definierenden bestimmt, ist nicht hinreichend tragfähig. Auch bei „fortschrittlichen“ Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern existiert dieses klinische Paradigma als heimliches Curriculum. Ihm ist als Alternative eine gemeinwesenorientierte Förderung der Handlungsfähigkeit der Betroffenen entgegenzusetzen, die deren subjektive Interessen zum Ausgangspunkt und zum Motor der Veränderung der Lebensbedingungen macht, d.h. ein professionelles Verständnis, dem es nicht darum geht, die Klienten zu „bessern“, sondern mit ihnen gemeinsam den Weg zu einem „besseren“ Leben, der nicht unbedingt der der Sozialarbeiter sein muss, zu finden. Gewinn an lebensweltlicher Nähe unserer Arbeit - wenn wir auch weniger verändern, so scheint mir der Nutzen der GWA für die Betroffenen größer geworden zu sein. GWA hat da die Aufgabe, den Menschen in ihrer Lebenswelt Stimme zu verleihen, damit sie für sich selbst sprechen (und handeln) können. Auch hier beobachten wir einen Wandel, den Klaus von Beyme für die neuen sozialen Bewegungen beschreibt, der aber genauso für die GWA beschrieben werden kann: „Was den neuen sozialen Bewegungen an schimmernder organisatorischer Wehr fehlt, ersetzen sie durch selbstreferentielle Fähigkeiten. Sie entwickelten weit größere Kapazitäten, die Bedürfnisse von Menschen und Gruppen präzise auszudrücken“ (von Beyme 1991, S.289). Dabei ist GWA heute - so belegen es zahlreiche Projektbeispiele - nicht mehr linear auf abgeleitete Ziele ausgerichtet, „die dann fahrplanmäßig in immer neuen ,Etappen‘ revolutionär abzuarbeiten sind“ (ebda, S.290), sondern lässt sich ein auf die Probleme, Notwendigkeiten, Ressourcen und Widersprüche der Lebenswelt der Menschen, mit denen sie es zu tun hat. Gewinn an selbstreflexiven Kompetenzen (bis hin zur Nabelschau?). Das hat auch dazu geführt, dass die Sozialtätigen selbst als politische Subjekte in den Vordergrund rücken: „Die eigene Betroffenheit von bestimmten Problemen sowie die ganz subjektive Wahrnehmung oder das persönliche Erleben bestimmter Situationen und den höchst persönlichen Verarbeitungsmustern von Sozialarbeiterinnen ergeben eine neue, bisher zu wenig beachtete Dimension beruflichen Handelns“ (Straumann 1989, S.13). Und damit hat sich, wie ich es sehe, auch der Charakter professioneller Aktivität in der Gemeinwesenarbeit geändert. Der oft kritisierte Aktivismus der „wilden Zeiten“ ist einer „gelassene(n) Kombination zwischen Aktivität und Fähigkeit, mit den Zuständen zu leben“ gewichen. „Der dominante Aktivitätstyp entwickelte sich von der Mobilisierung über die Partizipation zum Typ einer Aktivität, die sich auf die Erweiterung des Spielraums der eigenen Autonomie beschränkt“ (von Beyme1991, S.176).
Gewinn an gutem Gewissen. Wichtig ist - und das ist für mich eine wichtige Erkenntnis aus den letzten zwanzig Jahren - : wir dürfen uns kein schlechtes Gewissen machen lassen, wenn wir unsere oder anderer Erwartungen aufgrund der Stellensituation, der konkreten Lage im Stadtteil und im Projekt nicht erfüllen können, obwohl wir doch tun, was wir können und schon gar nicht deswegen, weil wir etwas mit Spaß tun. Der gestresste Sozialarbeiter, der aufgeregt seinem und anderer Ansprüche hinterher hechelt nützt den Menschen wahrscheinlich weniger, als eine gelassene Kollegin, entsprechend dem Spruch, dessen Quelle ich nicht mehr weiß: Gott gebe mir die Kraft, das zu ändern, was zu ändern ist; die Gelassenheit, zu ertragen, was nicht zu ändern ist und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. D.h. letztlich Möglichkeiten und Behinderungen einzuschätzen und fachliche wie politische Strategien darauf aufzubauen.

Nachbemerkung

Inzwischen stellt sich heraus, dass die Entwicklung der Gesellschaft - die Zunahme von Armut und von Ausgrenzung in unterschiedlichsten Formen - auch die GWA wieder unter Erwartungsdruck stellt. Nur scheint (noch) keine Bewegung da zu sein, von der her Impulse, Maßstäbe, Reibungsflächen kommen. Dennoch wird die Frage nach der politischen Dimension der GWA wieder wach (vgl. das demnächst erscheindende Jahrbuch 5 GWA). Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir alte, überwinterte (!) Begriffe wieder hervorholen und vor Gebrauch neu blank putzen: Klassengesellschaft - Widerstand - Solidarität. Dazu eine letzte Bemerkung: Die Vorstellung, dass die Gemeinwesenarbeiterin und der Gemeinwesenarbeiter nicht für die Menschen stellvertretend handeln (obgleich auch das nötig werden kann), entspricht dem gewandelten Verständnis von Solidarität: „Solidarität ist demnach nicht jede Art von Hilfe und Unterstützung sondern nur diejenige, die aus dem Gefühl der Gleichgerichtetheit von Interessen und Zielen gegeben wird, aus einer besonderen Verbundenheit, in der zumindest die - sei es fiktive - Möglichkeit der Gegenseitigkeit mitgedacht wird“ (Hondrich, Koch-Arzberger 1992, S.14). Solidarität - und das ist noch immer so - kann nicht selten erst dann ihre Wirkung entfalten, wenn sie „auf die Herstellung einer gemeinsamen Machtbasis, auf die Konstitution von Gegenmacht gegen Dritte gerichtet“ (Hondrich, Koch-Arzberger 1992, S.14) ist. Damit taucht in diesen Überlegungen der „alte“ Widerspruch in der GWA zwischen Konfliktorientierung und Integration wieder auf. Schienen dies in den frühen 70er Jahren antagonistische Konzepte, so lässt sich heute der Widerspruch nicht mehr auf eine Seite hin auflösen. Ohne Zweifel gehört zur GWA der Konflikt, die politische Auseinandersetzung, wenn es um die Bedrohung von Lebenswelten oder die Einschränkung von Lebenschancen auf der einen Seite und um die Ausweitung von Handlungsalternativen für Menschen und Gruppen auf der anderen Seite geht. Es gilt aber auch: Gemeinwesenarbeit als ein integratives Konzept stellt sich den Spaltungstendenzen der Gesellschaft entgegen, seien es die Ausgrenzungen der „Zwei-Drittel-Gesellschaft“, seien es die Spaltungen zwischen Ausländern und Deutschen, zwischen Alten und Jungen, zwischen Frauen und Männern. Sie befähigt Menschen so zu leben und andere so leben zu lassen, dass sie nicht ausgegrenzt werden, weil sie arm oder alt oder fremd sind. Das ist Postulat und schwer zu machen, weil es auch gegen Trends in der Sozialarbeit steht, wo gesagt wird, „dass die je individuelle Lebenslage, die spezifische Lebensphase und die konkrete Einzelbiographie, kurz: die Einzelperson als konkreter ,Einzelfall‘ vermehrt zur gedanklichen Leitlinie für die Soziale Arbeit wird“ (Rauschenbach, Gängler 1992, S.52). Vielleicht liegen hier Konfliktlinien offen, die wir bisher hinter der Konfliktlinie Kapital - Arbeit nicht gesehen haben und eröffnen eine Erweiterung des Politikverständnisses der GWA.


Literatur

  • Beck, U. 1986: Risikogesellschaft. Frankfurt am Main
  • Berger, J. (Hrsg.) 1986: Einleitung. in: Die Moderne - Kontinuität und Zäsuren. Göttingen (Soziale Welt, Sonderheft 4) S.1-11
  • Beyme, K. von 1991: Theorie der Politik im 20. Jahrhundert. Von der Moderne zur Postmoderne. Frankfurt am Main
  • Hauß, F. 1975: Zur Strategie fortschrittlicher Sozialarbeit. in: Victor-Gollancz-Stiftung – AG GWA (Hrsg.), Reader zur Theorie und Strategie von Gemeinwesenarbeit, Frankfurt am Main
  • Hinte, W. 1991: Stadtteilbezogene Soziale Arbeit und soziale Dienste - Lebensweltbezug statt Pädagogisierung, in: Sozialarbeit deutsch - deutsch. Brennpunkte Sozialer Arbeit, hrsg. von
  • Mühlfeld, C.; Oppl, H.; Weber-Falkensammer, H.; Wendt, W.-R., S.59-65, Neuwied
  • Hondrich, K. O.; Koch-Arzberger, C. 1992: Solidarität in der modernen Gesellschaft. Frankfurt am Main
  • Institut für soziale Arbeit e.V. (Hrsg.) 1991: ASD. Beiträge zur Standortbestimmung (Soziale Praxis 9), Münster
  • Knobloch, C. 1993: '68 verweht? Herbert Marcuse, Theoretiker der Revolte. in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 10
  • Mielenz, I. 1981: Die Strategie der Einmischung - Soziale Arbeit zwischen Selbsthilfe und kommunaler Politik. in: Neue Praxis, Sonderheft 6, S.57-66
  • Oelschlägel, D. 1991: Alles im Griff? Lebensbewältigung armer Menschen im Spannungsfeld von Sozialarbeit, Wissenschaft und Kommunalpolitik. Eine Tagungsdokumentation (Duisburger Materialien zu den Sozialwissenschaften, 21), Duisburg, Uni-GH Duisburg
  • Oelschlägel, D. 1993: Gemeinwesenarbeit. Zwischen stadtteilorientierter Dienstleistung und Selbsthilfe, in: Soziale Arbeit (42) Heft 93/1 S.2-10
  • Rauschenbach, Th. 1992: Soziale Arbeit und soziales Risiko. in: Rauschenbach, Th.; Gängler, H. (Hrsg.): Soziale Arbeit und Erziehung in der Risikogesellschaft. Neuwied
  • Straumann, U. 1989: Gemeinwesenarbeit zwischen Politik und Beruf. in: LAG Heft 1, S.10- 15
  • Zinner, G. 1991: Hoffnungsträger für die Zukunft: Nachbarschaften, Initiativen und kleine Netze. in: Rundbrief 27 Heft 1 S.22-24