Auf dem Weg zu handlungsbezogenen Theorien der Gemeinwesenarbeit

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Dieser Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung der AutorInnen und des Verlages folgender Veröffentlichung entnommen:

  • Gahleitner, S. B. u.a. (Hrsg.): Disziplin und Profession Sozialer Arbeit. Entwicklungen und Perspektiven. Opladen & Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich: 2010, S. 77-93


„Wann ist Gemeinwesenarbeit erfolgreich?
Renate Schnee, Wien: Wenn die GemeinwesenarbeiterInnen über eine wissenschaftliche Wissens- und Methodenbasis verfügen, einem ethischen Berufskodex folgen und relativ unabhängig von delegierten Aufträgen agieren.
Und wenn jeden Tag einmal die Lust und die Leidenschaft in dieser Arbeit spürbar sind“. (DGSA, 2010)

Gemeinwesenarbeit hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Aber was ist heute eigentlich Gemeinwesenarbeit (GWA)? Dazu haben Mitglieder der DGSA-Sektion „Gemeinwesenarbeit“ aus Österreich, der deutschsprachigen Schweiz und Deutschland in einem 35-Minuten-Film eine erste Antwort mit der Darstellung von Zielen, Hintergründen, Bereichen und Handlungsweisen der Gemeinwesenarbeit gegeben (DGSA, 2010). In den Kapitelüberschriften bereits wird darin die durchaus nicht widerspruchsfreie Vielfalt der GWA, aber auch der Traditionslinien, gesellschaftlichen Ziele und Theoriequellen, die Erkenntnis und Handeln leiten, deutlich: Settlements, Community Organizing, Emanzipation statt Entmündigung, Stadtteilentwicklung, Wohnen und Kultur, Lokale und Soziale Ökonomie, Netzwerkarbeit, Förderung von Demokratie und Menschenwürde, gemeinsame Gestaltung des Sozialen Wandels. In diesem Aufsatz versuchen wir, aus der Entwicklungsgeschichte (Elfa Spitzenberger) und den institutionellen, professionellen und disziplinären Kontexten Anforderungen an die Weiterentwicklung einer handlungsbezogenen Theoriebasis der GWA abzuleiten (Michael Rothschuh).

Zur Entwicklungsgeschichte der Gemeinwesenarbeit

Um status quo und heutige Praxis von Gemeinwesenarbeit (GWA) zu illustrieren, soll hier knapp deren historische Entwicklung dargestellt werden (vgl. zum Folgenden Spitzenberger, 2010). Als ein wichtiger Vorreiter von GWA kann die nach 1870 in Großbritannien entstandene Settlementbewegung gelten.

Durch die Industrielle Revolution kam es in Europa zur Bildung neuer gesellschaftlicher Klassen, insbesondere des Industrieproletariats. Das war die Grundlage für die Entstehung und Entwicklung der Arbeiterbewegung, der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien sowie der Gewerkschaften. Obwohl es Armut immer gegeben hatte, erschreckte das Elend der neuen „Unterschicht“ auch außerhalb der Arbeiterklasse. Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden vermehrt Stimmen laut, die auf eine Verbesserung der Lage der Industriearbeiterschaft drängten; man forderte, deren Lage nach den Grundsätzen christlicher Ethik zu verbessern.
Noch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts war in Großbritannien der Zugang zu Bildung ein Privileg der oberen Stände. Nach 1850 begannen Hochschullehrer im Zuge der so genannten Universitäts-Ausdehnungsbewegung im ganzen Land öffentlich Vorträge für Erwachsene anzubieten. Die Settlementbewegung nahm sich ab ihrer Gründung der Aus- und Weiterbildung der Kinder der Armen an. Dabei griff man die Anregungen der Universitäts-Ausdehnungsbewegung auf und führte Kurse für Erwachsene ein. An solchen Kursen nahmen bis zum Ersten Weltkrieg wahrscheinlich mehr als 100.000 Personen teil.

Im Sommer 1883 unterrichteten Angehörige der Universität Cambridge Samuel Barnett, man wolle sich für die städtischen Unterschichten engagieren. Barnett (Barnett, 1884) riet, in einem Armenviertel ein Haus zu mieten und dort für einige Zeit Aufenthalt zu nehmen. Diese Anregung führte noch 1883 zur Gründung des ersten Londoner Settlements (Toynbee Hall). In der  Folge breitete sich die Settlerbewegung, an der von Anfang an Frauen Anteil hatten, rasch in Großbritannien aus: 1911 gab es wenigstens 42 Settlements, bis 1913 dürften rund 10.000 Personen als Settler gewirkt haben.

In der Zwischenkriegszeit waren die britischen Settlements meistens auf dem Gebiet der freien Sozialarbeit tätig, während des Zweiten Weltkriegs leisteten sie vor allem Dienst im Zivilschutz. Nach 1945 geriet die Bewegung aufgrund des forcierten Ausbaus der staatlichen Sozialsysteme in eine Sinnkrise, zu Beginn der 1950er-Jahre schien ihr Ende gekommen. Manche der Häuser wurden aufgegeben, andere konnten sich hingegen an die neuen gesellschaftlichen Bedingungen anpassen. Man gab sich neue Strukturen, professionalisierte sich, suchte sich neue Aufgaben und Wirkungsbereiche. Heute zählen Häuser wie Toynbee Hall zu anerkannten Einrichtungen des gesellschaftlichen Lebens in Großbritannien.

Die Settlementbewegung fand in den USA rasch Nachahmung. Mitte der 1880er-Jahre besuchte Jane Addams Toynbee Hall. Sie entschloss sich, in Chicago eine gleiche Einrichtung zu schaffen. Gemeinsam mit Ellen Gates Starr gründete sie 1889 das „Hull House“ in Chicago. Waren die Zielgruppe der britischen Settlerbewegung die Angehörigen der städtischen Unterschicht, galt Addams Interesse vor allem den Einwanderern. Zu den Motiven, die sie seinerzeit zur Gründung von Hull House bewogen, führte Addams später aus:
„Unmöglich ist es für mich zu sagen, in welchem Verhältnis an der subjektiven Notwendigkeit zur Eröffnung des Hull-House folgende drei Richtungen teil haben: erstens der Wunsch, die Demokratie ins soziale Leben zu übertragen; zweitens der aus unserem innersten Erleben hervorgegangene Trieb, zum Fortschritt der Menschheit beizutragen, und drittens die Bewegung, Christi Lehre menschlich aufzufassen und anzuwenden. Es ist schwer, etwas Lebendiges zu zergliedern.“ (Addams, 1923, S. 32)

Sabine Stövesand sieht im Hull House schon realisiert
„was heute als GWA oder Soziale Arbeit auf Höhe der Zeit gilt: ... wissenschaftliche Fundierung, Partizipation, interkulturelle Öffnung, Methodenintegration, proaktiver Ansatz und ... die Sozialraumorientierung. ... Die Hull House-MitarbeiterInnen blieben ... nicht in ihrem Gebäude sitzen ... Vor allem waren sie im Stadtteil unterwegs, machten sich selbst ein Bild und viele Notizen. Es stellte sich so heraus, dass sehr viele Kinder in Müllhaufen spielten, die offen auf der Straße herumlagen und sich dort mit Krankheitserregern infizierten. Hull House wandte sich an die städtischen Verantwortlichen, organisierte Druck und erreichte eine geregeltere Müllabfuhr.“ (DGSA, 2010)

Vor dem Ersten Weltkrieg war die angloamerikanische Settlementbewegung eine von Männern und Frauen des Bildungsbürgertums getragene Bewegung, die sich aus christlich-sittlicher Überzeugung für die Verbesserung der sozialen Lage der städtischen Unterschichten, für Frauenemanzipation und allgemeine Demokratisierung der Gesellschaften ihrer Staaten einbrachte. Als Settler wohnte man in eigenen Häusern inmitten städtischer Elendsquartiere, in der Regel aber nur für eine gewisse Zeit. Männer gingen auch als Settler einer Erwerbsarbeit außerhalb der Slums nach, Frauen stellten sich zumeist während des ganzen Tages der Settlementarbeit zur Verfügung. Die meisten Settlements verhielten sich Konfessionen, Religionen und politischen Parteien gegenüber neutral, brachten sich aber in Genossenschaften und Gewerkschaften ein. Hier, wie auch auf dem Feld der staatlichen Sozialgesetzgebung, erzielten die Settlements beachtliche Erfolge.

Auf dem europäischen Kontinent war das Konzept der Settlementbewegung nur bedingt erfolgreich. Als Beispiele aus dem Deutschen Reich seien das Hamburger Volksheim und die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost erwähnt. Wie ihre angloamerikanischen Vorbilder, waren auch diese Häuser Gründungen von aus christlich-sozialer Überzeugung handelnden Persönlichkeiten aus den Reihen der gebildeten Mittelschicht.

Die Sozialdemokratie stand einer solchen, meist unter der Führung von (protestantischen) Klerikern stehenden Bewegung grundsätzlich ablehnend gegenüber, die erbrachten Leistungen wurden zwar rezipiert, waren jedoch kaum je unmittelbares Vorbild. Der ideologische Graben zwischen Settlern und Sozialdemokraten war zu tief.

Befasste sich die angloamerikanische Forschung schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingehend mit der Settlementbewegung, so blieben Arbeiten zum Thema in der deutschsprachigen Forschung lange Zeit eine Ausnahme. Werner Picht beschrieb 1913 die Bewegung aus der Sicht des Zeitgenossen:
„Ein Settlement ist eine Niederlassung Gebildeter in einer armen Nachbarschaft, die den doppelten Zweck verfolgen, die dortigen Lebensverhältnisse aus eigener Anschauung kennen zu lernen und zu helfen, wo Hilfe not tut. … Der Settler kommt zu den Armen als Mensch zum Menschen, … um den Abgrund der Klassengegensätze zu überbrücken.“ (Picht, 1913, S. 1f.).

Erst 1967 legte Margarete Hecker (1968) ihre Untersuchung der Entwicklung der britischen Settlementbewegung bis in die 1960er-Jahre vor. Nach der Zäsur der NS-Herrschaft entwickelten sich Methoden und Arbeitsformen der Sozialarbeit im deutschsprachigen Raum weiter (vgl. Müller, 2008). Aufgrund eigener Erfahrungen und Anregungen aus dem angloamerikanischen Raum und den Niederlanden galt GWA als Dritte Methode der Sozialarbeit (neben Einzelfallhilfe und Gruppenarbeit), man orientierte sich teilweise am Vorbild des amerikanischen Community Organizing (CO). Eine zentrale Rolle spielt für Community Organizing gerade in der deutschen Rezeption Saul Alinsky (viele Missverständnisse zu ihm klärt Szynka, 2006). Zu seinem Ansatz wird im Video der Sektion GWA ausgeführt (DGSA, 2010):
„Wenige Jahre später, ebenfalls in Chicago: Stärker noch als bei Jane Addams wird die (Selbst-) Organisation der Frauen und Männer in einem benachteiligten Stadtteil betont bei Saul Alinsky in seinem Ansatz des Community Organizing: Hier geht es um Bildung von Macht der Vielen gegenüber der Macht des Geldes und der Organisationen. Bürgerinnen und Bürger schließen sich zu dauerhaften und lebendigen Organisationen zusammen, um konkrete Lebenssituationen grundlegend zu verbessern. Zugleich entwickeln sie eigene Handlungsfähigkeit, ja eigentlich Gegenmacht gegenüber denen, die über wirtschaftliche, politische oder mediale Macht verfügen. Verhandlungen, die dann geführt werden, finden machtbezogen auf gleicher Augenhöhe statt.“

CO wird unterschiedlich definiert. Im Allgemeinen versteht man darunter, dass unter Einsatz verschiedener Methoden und mit Unterstützung eines ausgebildeten Organizers Menschen auf der Basis eines demokratischen Wertesystems Veränderungsprozesse in ihrer Umgebung selbst auf den Weg bringen, um soziale Probleme an Ort und Stelle zu lösen.

Im Gegensatz zur klassischen Settlementbewegung nehmen die im Rahmen von CO Tätigen ihren Wohnsitz nicht am (geografischen) Ort ihrer Tätigkeit. Bürgerbeteiligung und Annäherung einzelner Gruppen innerhalb der Kommune sollen unterstützt werden, um eine solidarische Gemeinschaft aufzubauen. CO wird nicht zwingend von bezahlten Kräften geleistet, sie ist ein Prozess innerhalb des Gemeinwesens.

Die Arbeiten von Saul Alinsky (1974) und Murray Ross (1971) zu CO und GWA beeinflussten die Entwicklungen von GWA im deutschsprachigen Raum in den 1970er-Jahren erheblich. Alinsky verfolgte einen auch direkte Aktionen umfassenden Ansatz, Konflikte sah er als probates Mittel zur Veränderung an. Ross hingegen vertrat eine gemäßigte Form, setzte auf wissenschaftliche Aufarbeitung der Thematik und zielte auf theoriegeleitetes Handeln.

Obgleich die theoretische Entwicklung von GWA in Österreich sich weitgehend an die bundesdeutsche anlehnte, wandte man sich in Österreich bis etwa 1990 auch dem ländlichen Raum zu. Hier ist ergänzend die Eigenständige Regionalentwicklung zu nennen, die sich aus GWA-Projekten entwickelte. Dagegen wurde in Westdeutschland GWA lange Zeit vor allem in Obdachlosensiedlungen, großstädtischen Neubaugebieten und Sanierungsgebieten eingesetzt.
Während der 1970er-Jahre galt GWA als ein probates Mittel der Emanzipation benachteiligter Gruppen und Quartiere, Kommunen setzten sie zur Prävention und im Rahmen der Sozialplanung ein. In den 1980er-Jahren richtete sich der Blick auf die Menschen im Gemeinwesen und deren Lebenswelt. Das Konzept der Stadtteilbezogenen Sozialen Arbeit (z.B. ISSAB, o.J.) ging davon aus, dass Veränderungen im Wohnumfeld auch Veränderungen der dort lebenden Menschen nach sich ziehen.

Stand im Fokus der GWA in Westdeutschland ursprünglich der Gegensatz Staat versus Bevölkerung, so entwickelte sich GWA zwischenzeitlich auch zu einer vermittelnden Instanz zwischen Bürger und Staat. Eine Grundhaltung von GWA ist, dass Arbeit mit der Bevölkerung des Gemeinwesens auf emanzipatorischer Basis erfolgt: Gemeinwesenarbeiterinnen sind Experten ihres Metiers, Bewohnerinnen ihres Wohnumfelds. Gemeinwesenarbeiter sehen ihre Aufgabe darin, eine Grundlage für notwendige Veränderungen im Gemeinwesen zu schaffen, in dem bestimmte Angebote und Aktivitäten gesetzt werden, die das Klima im Gemeinwesen beeinflussen und dadurch das Engagement und die Aktivität der Menschen fördern.

GWA – Eine Erfolgsgeschichte?

„Die Saat geht auf“ war die „Werkstatt Gemeinwesenarbeit“ des Burckhardthauses 2003 überschrieben (Gillich, 2004). Die Initiatoren wollten den Blick lenken auf das, was in der über hundertjährigen Geschichte von den Settlements bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts erreicht worden ist.

Die Ansätze der GWA seit den 1970er Jahren werden oft typologisch unterschieden: als wohlfahrtsorientiert, sozialreformerisch, radikaldemokratisch, aggressiv-disruptiv und katalytisch-aktivierend (z.B. Rausch, 1996). Diese Unterscheidungen waren in den 1970er-Jahren notwendig, um die gesellschaftliche Funktion der GWA kritisch herauszuarbeiten, sie sind aber kaum geeignet, gegenwärtige Praktiken und sie stützende Theorien zu differenzieren. Denn GWA ist nicht unmittelbare Umsetzung der Absichten der Akteure, sondern sie ereignet sich in Kontexten der Institutionen, der Professionen  und der wissenschaftlichen Disziplinen. Diese Kontexte prägen die Herausforderungen für die Handelnden, die zu klärenden Fragestellungen sowie das Spektrum möglicher Antworten. Sie bestimmen weitgehend die gesetzlichen und finanziellen Grundlagen, die damit verbundenen Handlungsmöglichkeiten und -grenzen, die zeitlichen und räumlichen Strukturen der Arbeit und – bisher kaum untersucht – auch die wissenschaftliche Produktion und Formulierung von Theorien. Deshalb wird hier der Vorschlag gemacht, den Entwicklungsstand der GWA anhand ihrer jeweiligen institutionellen, professionellen und wissenschaftlich-disziplinären Kontexte zu kennzeichnen. Dabei lassen sich drei Komplexe unterscheiden:

  • GWA als soziale Stadtteilentwicklung,
  • GWA als Sozialraumorientierung,
  • GWA als Bürger-Beteiligung.
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1. GWA als soziale Stadtteilentwicklung

GWA entstand in Gebieten, die von Armut und Ausgrenzung geprägt waren. Sie hatte immer den komplexen Zusammenhang der Lebenslage der Menschen im Blick mit ihren subjektiven und objektiven Dimensionen: Bildung, Einkommen, Wohnen, Wohnumfeld, Arbeit, Migration, Verkehr, Kultur, subjektive und objektive Sicherheit, Wohlbefinden und bürgerschaftliches Zusammenleben.

Waren es in den 1980er-Jahren noch einzelne Projekte vor allem in Großstädten, so ist die sektorenübergreifende Arbeit in unterprivilegierten Stadtteilen und Ortschaften in einer Reihe von europäischen Staaten nahezu zur Regel geworden. Dieses ist aber nicht allein und vorrangig der Sorge um die Lage der benachteiligten Bewohner geschuldet, sondern handfeste Interessen der zunehmend betriebswirtschaftlich denkenden Wohnungsbauunternehmen sind die Auslöser vieler zunächst lokaler, dann nationaler und schließlich transnationaler Stadtteilentwicklungsprogramme.

Überforderte Nachbarschaften“ (Krings-Heckemeyer u.a., 1998) erschienen als Risiko für die Konstanz ihrer Mieterschaft und des Sozialgefüges, die Attraktivität und Vermietbarkeit der Wohnungen und damit deren Rentabilität. Die Kommunen ihrerseits sahen in der Sorge um ihren Platz in der Konkurrenz der Städte Imageprobleme sowie soziale und finanzielle Kosten als Folge einer zunehmenden Segregation auf sich zu kommen und wollten zugleich mit Fördermitteln auch privates Kapital in den Wohnbezirken mobilisieren.

Allein das neben einer Reihe von Länderprogrammen stehende mittlerweile im Baugesetzbuch als Daueraufgabe verankerte deutsche Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ umfasst über 500 Gebiete in Groß- und Kleinstädten sowie ländlichen Gebieten, die als „benachteiligte Quartiere“ anhand sozialer und raumbezogener Indikatoren identifiziert und räumlich abgegrenzt werden (vgl. Soziale Stadt Bundestransferstelle, o.J. b). Quartiersentwicklung ist mittlerweile in nationalen Programmen und transnationalen Vereinbarungen wie der Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt (Deutschland, 2007) verankert.

Dabei geht es aber nicht mehr nur um die Aufwertung benachteiligter Wohngebiete, sondern beispielsweise bei Neighbourhood bzw. Business Improvement Destricts auch um die Funktionssicherung von „normalen“ Geschäftsvierteln vorwiegend mittels Selbstregulation der Grundstücksbesitzer (vgl. Hamburg, o.J.).

Quartiersmanagement oder Stadtteilmanagement ist in den Projekten eine zumeist auf eine bestimmte Projektzeit fixierte öffentlich ausgeschriebene Aufgabe, für die sich Institutionen und Absolventen u.a. aus der Stadt- und Freiraumplanung, dem Bauwesen, der Wirtschaft und der Sozialen Arbeit bewerben können. Der Begriff Gemeinwesenarbeit wird in diesem Kontext zwar von der deutschen „Bundesarbeitsgemeinschaft Soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit“ hervorgehoben, spielt aber nur in einem Teil der Projekte eine maßgebliche Rolle.

Beeinflusst sind die Konzepte der Sozialen Stadtteilentwicklung durch die GWA, aber auch durch kritische Traditionen in der Stadtplanung, die in den 1960er Jahren mit Jane Jacobs „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ (Jacobs, 1963) begann.

Eine zunehmende Rolle spielt auch die Stadtteilökonomie. Hier spannt sich der Bogen vom Wiederaufleben genossenschaftlicher Konzepte bis hin zur Förderung alternativer Ökonomie; dazwischen liegen Vernetzung und Kooperation mit der lokalen Ökonomie (vgl. Klöck, 1998).

Forschung wird, häufig als Projekt- oder Programm-Evaluation, gefördert u.a. von den deutschen Bundesländern (vgl. die Evaluationen in http://www.sozialestadt.de/veroeffentlichungen/evaluationsberichte/), dem Bundesinstitut für Bau- Stadt- und Raumforschung (BSSR), den Programmträgern sowie als länderübergreifende Forschung auch von der EU, z.B. im EU-Kooperations- und Forschungsprogramm URBACT II (BBSR, o.J.) Dabei geht es oft um die Präsentation und Analyse von „Best Practices“ (Soziale Stadt Bundestransferstelle, o.J.a), seltener um die Hinterfragung der Grundvorstellungen der Programme selbst.

2. GWA als Sozialraumorientierung

GWA bedeutet immer, die Menschen in ihrem lokalen, sozialen, ökologischen ebenso wie baulich und infrastrukturell geprägten Umfeld zu sehen und von diesem Blick aus zu handeln.
„Sozialraumorientierung“ war auch ein Kennzeichen der sozialkritischen Wurzeln der Sozialen Arbeit im 19. Jahrhundert. Sie wurde danach für lange Zeit von den auf den Einzelfall und die Familien abgestellten rechtlichen und therapeutischen Handlungsansätzen aus dem Kern der Sozialarbeit verdrängt und hatte nahezu ein Nischendasein in der GWA. Seit den 1980er-Jahren ist der sozialräumliche Ansatz wiederum, befördert u.a. durch das sehr wirksam agierende ISSAB von Wolfgang Hinte, zu einem propagierten Handlungsgrundsatz der Sozialen Arbeit (ISSAB, o.J.) geworden. In der Jugendhilfe, der Arbeit mit älteren Menschen und Menschen mit Behinderungen, in Kindergärten, der Schulsozialarbeit und Sozialpsychiatrie sowie den Bereichen Migration, Streetwork, Wohnungslosenhilfe, werden insofern Ansätze der Gemeinwesenarbeit konzeptionell einbezogen.

Sozialraumorientierung gilt dabei dem Grunde nach flächendeckend, d.h. nicht allein auf „benachteiligte“ Gebiete bezogen, auch wenn manche Städte vorrangig in als Brennpunkt angesehenen Stadtteilen mit der Umsetzung eines solchen Ansatzes beginnen.

Sozialraumorientierung ist für die Verwaltung der Sozialen Arbeit attraktiv, wenn und soweit sie Kosten und Reibungsverluste einspart sowie die Regie gegenüber Freien Trägern erleichtert. Deshalb verbindet sie damit teilweise Controlling, wie z.B. im Hamburger Bezirk Altona:
„Das Fachamt Sozialraummanagement ... ist zuständig für die fachübergreifende sozialräumliche Planung und das Controlling von Einrichtungen und Maßnahmen der sozialen Infrastruktur im Bezirk“ (Bezirk Altona, o.J.)

Dabei zeigen sich deutliche Differenzen im Sozialraumverständnis. Die Verwaltung identifiziert den „Sozialraum“ mit einem Gebiet der Zuständigkeiten; Soziale Arbeit weiß, dass Sozialräume als Aktionsräume der Menschen sich nicht an Verwaltungsgrenzen ausrichten (vgl. Deinet u.a., 2007).
Die professionellen Akteure sind anders als in der Sozialen Stadtteilentwicklung vorrangig Sozialarbeiter und Sozialpädagoginnen. Gemeinwesenarbeit ist für sie ein Teil ihrer Tätigkeit, aber selten ihre ausschließliche Aufgabe.

Disziplinär aber ist die Bestimmung des Sozialraums Gegenstand einer intensiven wissenschaftlichen Diskussion in und zwischen Sozialarbeitswissenschaft, Sozialgeografie und Soziologie (vgl. Alisch, 2010; Kessl/Reutlinger, 2008). Es gibt den Versuch, einen übergreifenden Begriff „Raumwissenschaften“ (Günzel, 2009) zu entwickeln. Die FH Köln hat schon des längeren einen Forschungsschwerpunkt „Sozial-Raum-Management“ (Fachhochschule Köln, o.J.) Der Sozialraum ist zudem expliziter Gegenstand einiger Master-Studiengänge, z.B. in Wien, Hildesheim, Holzminden, Bielefeld, und Rhein/Main, wie man u.a. im Hochschulkompass recherchieren kann (vgl. Hochschulrektorenkonferenz, o.J.).

3. GWA als Bürger-Beteiligung

GWA heißt, den Blick auf das zu richten, was die betroffenen Menschen selbst wollen und können sowie die Förderung ihrer selbstbewussten Interessenartikulation. GWA war hierbei eng verwandt mit Sozialen Bewegungen, bei Jane Addams mit der Frauen-und Friedensbewegung, bei Saul Alinsky mit der Gewerkschaftsbewegung, in den 1970/80er-Jahren in Deutschland mit der Studentenbewegung, mit Bürgerinitiativen und den Selbsthilfegruppen. Wenn damals Obdachlose das Büro eines Stadtrats besetzten, galt das als ein Affront, heute würden sie vielleicht sogar von ihm eingeladen werden. Denn Aktivierung, Beteiligung, Empowerment und Selbstorganisation sind – jedenfalls verbal – zu Prinzipien einer „Good Governance“ (vgl. Europäische Kommission, 2001) geworden, bei der Stakeholder in die staatlichen Programme einbezogen werden sollen.

Entsprechend sprießen Beteiligungsprojekte für Kinder wie für Erwachsene, initiiert von Stadtverwaltungen, Vereinen, Polizei und Kirchen, aus dem Boden. Institutionalisiert und gesetzlich verankert ist Bürgerbeteiligung mittlerweile als spezifische Stufe in Planungsprozessen auf kommunaler oder staatlicher Ebene, z.B. im deutschen Baugesetzbuch und in der Kinder- und Jugendhilfe. Hier wird GWA auch genutzt als Vermittlung zwischen Gemeinwesen und Entscheidungsträgern in Politik und Verwaltung und damit als intermediäre Instanz von erheblicher Bedeutung. Die Bevölkerung gilt in Fragen des Gemeinwesens als gleichwertiger Gesprächspartner.

Hierzu ist es notwendig, den Betroffenen durch die Pflege von Kommunikationskanälen die Möglichkeiten zu geben, sich zu artikulieren. Die Einhaltung bestimmter Verfahren erhöht die Chance, berechtigte Anliegen zu realisieren. Andererseits kann sich Beteiligung auf die Durchführung von „Beteiligungsevents“ beschränken, bei denen die Betroffenen lediglich in vorgegebene Planungen formal „eingebunden“ werden.

Projekte der Bürger-Beteiligung sind keinem Beruf eindeutig zugeordnet. Oft haben sich Akademiker aus den Geistes- und Sozialwissenschaften, der sozialen Arbeit, aber auch des Bauwesens durch spezifische Kurse für Moderatorenrollen qualifiziert und nehmen auf Honorarbasis Beteiligungsaufträge an.

Propagiert wird Beteiligung als Element einer „Bürgergesellschaft“ von der in der politischen und Forschungslandschaft sehr einflussreichen und auf die Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft ausgerichteten Bertelsmann-Stiftung (vgl. Bertelsmann-Stiftung, 2010 und Hierlemann/Wohlfahrt, 2010). Diskussions-und Informationsforen für Theorie und Praxis der Bürgerbeteiligung bieten u.a. die Stiftung Mitarbeit (o.J.) und die jährlichen Tagungen der Evangelischen Akademie Loccum (2010).

Disziplinär ist Bürgerbeteiligung vorrangig in der Politikwissenschaft verankert. Bürgerbeteiligung ist zudem als Forschungsfeld aufgeführt im gegenwärtig gültigen 7. EU-Forschungsrahmenplan zum Thema „Der Bürger in der EU“ (BMBF, 2007).

GWA zwischen Marginalisierung und starken lokalen Traditionen

Von Kietzell resümiert kritisch die Werkstatt Gemeinwesenarbeit 2003 im Burckhardthaus Gelnhausen, die den stolzen Titel trug „Gemeinwesenarbeit: Die Saat geht auf“:
„Die Saat geht auf in verschiedenen Berufsfeldern – Sichtweisen und Aufgaben der Gemeinwesenarbeit werden übernommen und je nach eigenem professionellen Auftrag neu interpretiert“ (von Kietzell, 2003, S. 243).

In der Tat lässt sich feststellen, dass der Begriff „Gemeinwesenarbeit“ keineswegs im Mittelpunkt der Institutionen, der Professionen und der wissenschaftlichen Disziplinen steht, die sich auf Soziale Stadtteilentwicklung, Sozialraumorientierung und Bürger-Beteiligung beziehen. GWA hat viele Impulse gegeben, aber im Zuge der Verallgemeinerung und Verregelung der Ansätze droht GWA marginalisiert zu werden, als Unterstützung z.B. für die, die nicht in der Lage sind, sich selbst zu beteiligen.

GWA ist präsent in einem großen Teil der deutschsprachigen Studiengänge der Sozialen Arbeit, mal als Modul, mal als mögliches Arbeitsfeld oder eine Methode unter mehreren (vgl. Rothschuh, 2007) Aber sie hat in der Studienlandschaft kein eindeutiges Profil und wird in dem Qualifikationsrahmen für die Studiengänge Sozialer Arbeit (Fachbereichstag Soziale Arbeit, 2008) nicht erwähnt.

Es gibt zudem nur wenige eindeutige Adressen für GWA in Deutschland. Die Werkstatt Gemeinwesenarbeit des Burckhardthauses Gelnhausen hatte drei Jahrzehnte lang im zweijährlichen Turnus die Akteure aus Theorie und Praxis der GWA zusammengeführt; vielleicht zum letzten Mal hat sie 2007 stattgefunden und wurde, anders als die vorangegangenen Werkstätten, nicht mehr in einem Sammelband dokumentiert. Von Bedeutung für die Debatte ist die sich in inhaltliche wie auch politische Debatte einmischende BAG Soziale Stadtteilentwicklung und Gemeinwesenarbeit (o.J.).
Ein Überblick über die Gemeinwesenarbeit in Österreich ist von Heimgartner und Sing (2009) vorgelegt, in der Schweiz hat sich ein Netzwerk Gemeinwesenarbeit Deutschschweiz gegründet; die Züricher Regionalgruppe hat ein systemtheoretisch orientiertes Positionspapier zur Gemeinwesenarbeit vorgelegt (GWA Netzwerke, 2008). Schließlich sind aus der deutschösterreichisch-schweizerischen Sektion GWA der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit heraus zwei Bücher (Lüttringhaus/Richers, 2003; Rommpel/Lüters, 2005) und jüngst ein Video (DGSA, 2010) hervorgegangen.

Hat die GWA in ihren Kontexten eine teilweise marginale Position, so gibt es doch zugleich starke lokale Traditionen: Schon die Settlement-Bewegung zeigte, dass GWA durch ein lebendiges Wechselverhältnis zwischen lokalen Projekten und Traditionen einerseits, überregionalem, ja teilweise globalem Austausch andererseits, geprägt ist. „Think Globally, Act Locally“ ist keine Erfindung des Internetzeitalters.

Chicago beispielsweise ist bis heute ein Knotenpunkt verschiedener Ansätze der auf Communities bezogenen Arbeit: Das Hull House gibt es nach wie vor, nunmehr als stadtweite Institution mit einer breiten Angebotspalette, das von Saul Alinsky gegründete CO-Netzwerk „Industrial Areas Foundation“ hat sein nationales Büro wieder nach Chicago verlegt. Dort entwickelt sich auch das an kommunitaristische Elemente angelehnte Asset Based Community Developement Kretzmann/McKnight/, 1993).

Verknüpft waren bzw. sind die Ansätze jeweils mit wissenschaftlichen Strömungen der örtlichen Universitäten, wie dem Projektlernen von Dewey, dem Pragmatismus (vgl. Fehren, 2008) und der in Chicago entwickelten qualitativen empirischen Forschung.

Auch im deutschsprachigen Raum sind lokale Traditionen der GWA oft der Anker für generelle Diskussionen und Entwicklungen theoretischer wie praktischer Natur. Beispiele sind Wiener GWA-Projekte in ihrer Auseinandersetzung mit den eher etatistischen Grundvorstellungen der Sozialdemokratie, die Hannoversche GWA in ihrer Verbindung von Gemeinwesenarbeit und Stadtentwicklung, die Hamburger GWA St. Pauli-Süd, die in engem Kontakt zu den systemkritischen Sozialen Bewegungen steht oder auch die kirchliche GWA zu Düren, die in Anlehnung an CO konsequent den Aufbau von eigenständigen Bürgerorganisationen betreibt.
Diese Ansätze der GWA haben sich durchaus an die Kontexte der GWA angepasst, aber dabei ihre Eigen-und teilweise Widerständigkeit weitgehend erhalten.

Welche Theorien braucht die GWA?

Auf die Frage „Was machen denn nun GemeinwesenarbeiterInnen konkret?“ antwortet Renate Schnee (DGSA, 2010)
„In Wien gibt es ein Projekt, wo GemeinwesenarbeiterInnen mitten in einer Großwohnanlage an einem strategisch günstigen Ort, wo sehr viele Menschen vorbei kommen, ein Gemüse- und Blumenbeet angelegt haben. Und in diesen Gesprächen, die dort stattfinden, sind dann die GemeinwesenarbeiterInnen nicht die sozialen ExpertInnen, die wissen, was gut ist für die Menschen, sondern ganz im Gegenteil: sie sind die professionellen Nichtwissenden. Sie machen sich mit ihren Fragen auf den Weg und mit ihrem Interesse und bringen so mit den Menschen Reflexionsprozesse in Gang. Dadurch kann dann ein neues Bewusstsein entstehen. Und wenn sich dann die Menschen für ihre Anliegen einsetzen wollen, dann unterstützen sie die GemeinwesenarbeiterInnen dabei.“

Die „Macher“ sind hier nicht die Gemeinwesenarbeiterinnen, sondern die Bewohnerinnen vor Ort. Gemeinwesenarbeiter sind Gelegenheitsschaffer, Zuhörerinnen und Unterstützer.
Gemeinwesenarbeit ist praktische Arbeit, jedoch nie frei von Theorie. Gleichgültig, ob die Bewohner oder Gemeinwesenarbeiterinnen handeln, egal ob sie ein Stadtteilfest organisieren oder eine Protestaktion: Sie haben immer Ziele vor Augen und Vorstellungen, welche Handlung zu diesen Zielen führt, sie haben eine „Theory of Change“ (Anderson, 2005). Theoretische Arbeit besteht darin, diese Vorstellungen mit Wissen zu füllen, Zusammenhänge zu erkunden und diskursfähig zu machen. Wissenschaftliche Theorien unterscheiden sich von Alltagstheorien durch die Anwendung von Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens und damit in ihrer Überprüfbarkeit, aber nicht durch ihren Wahrheitsgehalt. Einbezogen werden müssten dabei auch die nicht professionellen Akteure, aber eine partizipative Evaluation, wie sie der Community-Organizing-Experte Randy Stoecker beschreibt (Stoecker, 2005) wird in der deutschsprachigen GWA-Literatur kaum einmal dokumentiert.

1980 haben Boulet, Krauss und Oelschlägel den 360seitigen Band „Gemeinwesenarbeit – eine Grundlegung“ (1980) vorgelegt. Der Inhalt reichte von einer Geschichte der GWA über eine Gegenwarts- und Funktionsbestimmung, eine marxistisch orientierte handlungsbezogene Theorie der Gemeinwesenarbeit im politisch-ökonomischen Wirkungszusammenhang bis hin zum „operationalen Zugriff“, also einer Anleitung für die Praxis.

Aus dem grundlegenden und wahrhaft nicht leicht lesbaren Werk hat sich vor allem das „Arbeitsprinzip Gemeinwesenarbeit“ zum Kernbegriff der nachfolgenden Gemeinwesenarbeitsdiskussion entwickelt.  Wird aber das „Arbeitsprinzip“ losgelöst von seinem Kontext, der dahinter stehenden Gesellschafts- und Handlungsanalyse sowie den Folgerungen für das Handeln, dann droht GWA sich als abgrenzbare Tätigkeit aufzulösen, bis sie als solche nicht mehr zu erkennen ist.

Eine gleichermaßen anspruchsvolle umfassende Theorie der Gemeinwesenarbeit hat es seither nicht gegeben, konnte es wohl auch nicht geben, seitdem die Selbstgewissheit der 1970er-Jahre, mit dem Marxismus den entscheidenden Schlüssel zum Verständnis der Wirklichkeit gefunden zu haben, verloren gegangen ist.

Geschrieben aber wurde über GWA viel, wie Dieter Oelschlägel (o.J.) laufend in der von Wolfgang Prauser editierten Website http://www.stadtteilarbeit.de notiert: Aufsätze und Streitschriften, teilweise hervorragende Diplomarbeiten und Dissertationen, Lehrbücher und Projektevaluationen.
Die explizit auf Gemeinwesenarbeit bezogenen Arbeiten beziehen sich auf die philosophischen und soziologischen Hintergründe der GWA (wie z.B. Szynka, 2006 und Oehler 2007), stellen die Geschichte der GWA und ihre gegenwärtigen Ausprägungen dar (insbesondere Mohrlok u.a., 1993; Holubec u.a., 2004), versuchen, verbindliche und handhabbare Leitstandards aufzustellen (insbesondere Hinte/Lüttringhaus/Oelschlägel, 2007), untersuchen Bedingungen als erfolgreich wahrgenommener Gemeinwesenarbeit (wie z.B. Romppel/Lüters, 2005), geben methodische Anleitung (wie z.B. Lüttringhaus/Richers, 2003) oder analysieren und entwickeln Handlungskonzepte und Projekte, (wie z.B. Rausch, 1996; Stövesand, 2007 und Spitzenberger, 2010).

Damit werden die Dimensionen der für das Handeln in der GWA erforderlichen Kompetenz thematisiert:

  • Wissen und Verstehen:
    Gemeinwesenarbeit ist wissenschaftliche und praktische Auseinandersetzung mit der Ausgrenzung von Menschen, Bevölkerungsgruppen und Quartieren als politisch-gesellschaftlichem Prozess und als Lebenslage. GWA kennt die materiellen, psychischen und symbolischen Dimensionen der Ausgrenzung und setzt sich zum Ziel, durch aktive Teilhabe Inklusion zu ermöglichen. Die Handelnden brauchen deshalb Wissen über gesellschaftliche Strukturen, soziale Räume, die Lebenslage der Menschen und die Wechselverhältnisse zwischen Lebenszusammenhängen und individuellem wie kollektivem Bewusstsein. Als frühes Zeugnis kann dazu Jane Addams „The Objective Value of a Social Settlement“ (Addams, 1893a) zählen.
  • Haltung und Orientierung:
    Es geht um eine fachliche Grundhaltung, wie sie beispielsweise in den Leitstandards der Gemeinwesenarbeit (Hinte/Lüttringhaus/Oelschlägel, 2001) oder im Empowerment-Ansatz (Herriger, 2006) beschrieben ist. Zum anderen geht es auch um die Antwort auf die Frage „Was bewegt dich, etwas zu tun?“, die persönlich, aber nicht privat ist.
    Sie ist verankert in der persönlichen Biografie, den Generationserfahrungen, den lokalen Traditionen sowie dem religiösen und weltanschaulichen Umfeld. Sie entwickelt sich durch reflektierte Erfahrungen und lebendigen Austausch (vgl. Szakos, 2007, aber auch schon Addams, 1893b).
  • Können und Methoden:
    GWA fördert zum Handeln bemächtigende soziale Beziehungen derer, die sich den vorgegebenen Bedingungen und Prozessen ohnmächtig ausgesetzt erleben. Die Fachleute der GWA benötigen deshalb Wissen, Erfahrung und Reflektion zu konkreten Handlungsmöglichkeiten und Methoden im Feld. Die Methoden dürfen nicht routinemäßig oder nach einem Schema „abgearbeitet“ werden, sondern haben nur dann Wirksamkeit, wenn sie zu den Menschen, zur Situation und deren spezifischen Anliegen passen. Deshalb hat jedes Vorhaben auch seine jeweils einzigartigen Methoden.

Nur sehr begrenzt werden aber in der Literatur Brücken geschlagen zwischen den verschiedenen Dimensionen: In welchem Verhältnis stehen Wissen, Verstehen, Orientierung, Haltung, Können und Methoden zueinander?

Um diese Zusammenhänge zu erarbeiten, ist sicherlich nicht die eine allumfassende Theorie der GWA möglich oder notwendig, wohl aber das Finden von mehr Klarheit dessen, was das Proprium der GWA ausmacht, was sie unterscheidet von den Kontexten, denen sie sich zuordnet oder denen sie zugeordnet wird.

Literatur

  • Addams, J. (1893a): The Objective Value of a Social Settlement. Chicago: Hull House Maps and Papers.
  • Addams, J. (1893b): The Subjective Neccessity of a Social Settlement. Chicago: Hull House Maps and Papers.
  • Addams, J. (1923): Settlementsarbeit. Wege zur Lebensgemeinschaft, Wien: Österreichischer Schulbücherverlag.
  • Alinsky, S. D. (1974): Die Stunde der Radikalen. Berlin: Burckhardthaus-Verlag Gelnhausen.
  • Alisch, M. (2010): Sozialraummodelle im arbeitsmarktpolitischen Kontext.In: BSSR  (Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, 2010): Bildung, Arbeit und Sozialraumorientierung, Informationen zur Raumentwicklung, Heft 2./3.2010, Bonn: Selbstverlag des BSSR, S. 103-110.
  • Barnett, S. A. (1884): Settlements of University Men in Great Towns. Oxford: Cronicle Company.
  • Boulet, J./Krauss, J./Oelschlägel, D. (1980): Gemeinwesenarbeit. Eine Grundlegung. Bielefeld: AJZ-Verlag.
  • Deinet, U./Kessl, F. /Reutlinger, C. (2007): Sozialraum –- eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Fehren, O. (2008): Wer organisiert das Gemeinwesen? Zivilgesellschaftliche Perspektiven sozialer Arbeit als intermediärer Instanz. Berlin: edition sigma.
  • Gillich, S. (Hrsg) (2004): Gemeinwesenarbeit: Die Saat geht auf. Gelnhausen: TRIGA.
  • Günzel, S.(Hrsg.) (2009): Raumwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Hecker, M. (1968): Die Entwicklung der englischen Settlementbewegung und der Wandel ihrer Arbeitsformen. Erlangen: Diss. Freie Universität Berlin.
  • Heimgartner, A./Sing, E. (Hrsg.) (2009): Gemeinwesenarbeit in Österreich. Graz: Grazer Universitätsverlag.
  • Herriger, H. (2006): Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Hinte, W./Lüttringhaus, M./Oelschlägel, D. (Hrsg.) (2007): Grundlagen und Standards der Gemeinwesenarbeit. 2. aktual. Aufl. Münster/Weinheim: Juventa-Verlag.
  • Jacobs, J.(1963): Tod und Leben großer amerikanischer Städte. Frankfurt a. M.: Ullstein.
  • Kessl, F./Reutlinger; C. (2008): Schlüsselwerke der Sozialraumforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Klöck, T. (Hrsg.) (1998): Solidarische Ökonomie und Empowerment. Jahrbuch 6 Gemeinwesenarbeit. München: AG SPAK.
  • Kretzmann, J.P./McKnight, J.L. (1993): Building Communities from the Inside Out: A Path Toward Finding and Mobilizing a Community’s Assets. Evanston, IL: Institute for Policy Research.
  • Krings-Heckemeier, M.-T./Pfeiffer, U./Hunger, N. (1998): Überforderte Nachbarschaften. Köln: GdW-Schriften.
  • Lüttringhaus, M./Richers, H. (2003): Handbuch Aktivierende Befragung. Bonn: Verlag Stiftung Mitarbeit.
  • Mohrlok, M./Neubauer, M./Neubauer, R./Schönfelder, W. (1993): Let’s Organize! Gemeinwesenarbeit und Community Organization im Vergleich. München: AG SPAK.
  • Müller, C.W. (2008): Wie Helfen zum Beruf wurde, Band 2. Weinheim/Basel: Beltz.
  • Oehler, P. (2007): Pragmatismus und Gemeinwesenarbeit. Die pragmatistische Methode von John Dewey und ihr Beitrag zur Theorie und Praxis der Gemeinwesenarbeit. München: AG SPAK
  • Picht, Werner (1913): Toynbee Hall und die Englische Settlement-Bewegung. Tübingen: Mohr.
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  • Romppel, J./Lüters, R.(Hrsg.) (2005): Erfolgsgeschichten der Gemeinwesenarbeit. Bonn: Verlag Stiftung Mitarbeit.
  • Ross, M. G. (1971): Gemeinwesenarbeit. Praxis. Aus dem Amerikanischen von Dora von Caemmerer. 2. Aufl. Freiburg i. Br.: Lambertus.
  • Rothschuh, M. (2007): Kompetenzen für die Gemeinwesenarbeit – Chancen des neuen Systems der hochschulischen Studiengänge. In: Gillich, S. (Hrsg.): Nachbarschaften und Stadtteile im Umbruch. Gründau-Rothenbergen: TRIGA, S. 42-65.
  • Spitzenberger, E. (2010): Gemeinwesenarbeit – Bildung eines Handlungskonzeptes aus der Praxis, Saarbrücken: Südwestdeutscher Verlag für Hochschulschriften.
  • Stoecker, R. (2005): Research Methods for Community Change. London/New Delhi: Sage.
  • Stövesand, S. (2007): Mit Sicherheit Sozialarbeit! Gemeinwesenarbeit als innovativer Ansatz zur Prävention und Reduktion von Gewalt im Geschlechterverhältnis. Münster: Lit-Verlag.
  • Szakos, K. L./ Szakos, J.(2007): We Make Change – Community Organiziners Talk About What They Do and Why. Nashville: Vanderbilt University Press.
  • Szynka, P. (2006): Theoretische und empirische Grundlage des Community Organizing bei Saul D. Alinsky (1909-1972). Bremen: Akademie für Arbeit und Politik der Universität Bremen
  • von Kietzell, D. (2004): Erfolgsgeschichte Gemeinwesenarbeit – Die Saat geht auf. In: Gillich, S. (Hrsg): Gemeinwesenarbeit: Die Saat geht auf. Gelnhausen: TRIGA, S. 230-243.

Video

  • DGSA Sektion Gemeinwesenarbeit (2010) Gemeinwesenarbeit Deutschland Schweiz Österreich. DVD-Film, Freiburg i. Br.: FEL.

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